Die Rheinlande und das Reich. Vorträge gehalten
auf dem Symposium anlässlich des 125-jährigen Bestehens der Gesellschaft für
rheinische Geschichtskunde am 12. und 13. Mai 2006 im Universitätsclub in Bonn,
veranstaltet von der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde in Verbindung
mit dem Landschaftsverband Rheinland, hg. v. Groten, Manfred, Redaktion Bartsch,
Frank (= Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde,
Vorträge 34). Droste, Düsseldorf 2007. X, 258 S. Besprochen von Alois Gerlich.
Die Erinnerung an die Gründung der Gesellschaft
für rheinische Geschichtskunde 1881 bot den Anlass für ein Kolloquium über die Bedeutung
des Reiches für das Niederrheingebiet. Damit griff man Themen der
Reichsgeschichte und auch das historiographische Anliegen auf, der Genese des
Faches Geschichtliche Landeskunde nachzugehen. Diese Doppelaufgabe mit ihrer Vielfalt
der Erscheinungen bestimmt die Inhalte der etwas lose aneinander gereihten zehn
Beiträge.
An die Spitze der Abhandlungen stellte man drei
Studien, in denen die Stellung der Rheinlande vom 6. bis 14. Jahrhundert
erörtert wird. Matthias Becher, Die Rheinlande und das Reich in der
Karolingerzeit: Von einer Rand- zu einer Zentrallandschaft des Reiches
(S.1-26), zeigt auf, dass erst Karl der Große durch die von Aachen aus unternommenen
Feldzüge zur Eroberung Sachsens den Raum beiderseits des Niederrheins zu einer
Zentrallandschaft machte. Detailreich macht der Verfasser deutlich, wie die
unglückliche Politik Ludwigs des Frommen, die Kämpfe seiner Söhne und deren
Nachfolger, der Reichszerfall in den Teilungen unter den Vorzeichen der
Wikinger- und Ungarneinfälle, nicht zuletzt die Entstehung der Herrschaft
Ludwigs des Deutschen mit den Kernräumen um Regensburg und Frankfurt den
Niederrhein ins lotharingische Mittelreich abgleiten ließen. Den vielfachen Positionswechseln
des Adels und der Bischöfe in der Folgezeit geht der Verfasser nach. – In eine
andere Epoche mit ihren neuen Grundvoraussetzungen für die Stellung der
Rheinlande im Reich führt die Studie Gerd Althoffs, Die Rheinlande im
10. Jahrhundert – eine königsferne Landschaft? (S. 27-44). Der Verfasser
bezieht deutlich Stellung gegen die verbreitete Annahme, das Reich habe damals
einen Hauptschwerpunkt seiner Macht am Rhein besessen. Die Politik etwa der Konradiner
war für einen Herrscher aus Sachsen sehr gefährlich. Der Sieg Ottos I. bei
Andernach hat die Lösung in seinem Sinne gebracht. Bei Widukind von Corvey wird
allerdings von der Unzufriedenheit der Großen Lothringens mit der Herrschaft der
Sachsen und der Fragilität ihrer Integration in das Reich berichtet. Otto I.
konnte diese Unsicherheiten ebenso wie den Aufstand des Sohnes Liudolf
überwinden. Althoff zeigt, dass es nicht an Otto allein lag, die
Westgebiete beim Reich zu halten, sondern dem Bruder Brun als Erzbischof von
Köln ein ebenso großer Anteil an der Bewahrung des erreichten Zustandes zukam. Der
Verfasser weist mit Recht darauf hin, man möge die Quellenhinweise auf Intrigen,
Heimtücke und Verrat ernst nehmen, denn den lothringischen Adligen standen mehr
Möglichkeiten eines Handelns zu politischer Instabilität offen als Völkern an anderen
Grenzen des Reiches. – In das Spätmittelalter führt Manfred Groten, Das
Reich im Rheinland (12. 14. Jahrhundert) (S. 45-70). Einleitend skizziert er
die verschiedenartigen Definitionen von Art und Umfang des Rheinlandes in der
Literatur. Er selbst beschränkt sich auf den Köln-Aachener Raum. Maßgeblich für
ihn ist die Tatsache, dass dieser mehrmals Basis der Initiativen zur Wahl des
Reichsoberhauptes gewesen ist. Das Hauptgewicht von 1198 an spricht er den
Kölner Erzbischöfen zu. Die Goldene Bulle von 1356 habe den Kölner
Wahlinitiativen ein Ende gesetzt. In weiteren Überlegungen leitet er zum
Vorschlag über, die vom Kaiserhof propagierten Reichsvorstellungen auf ihre
Wirksamkeit in den Regionen oder auch umgekehrt die Wirksamkeit von Ideen aus
einer Region auf den Hof zu untersuchen. Die Wahlpolitik der Kölner Erzbischöfe
sieht Groten in Anlehnung an Erwägungen von Franz-Reiner Erkens und
Thomas Ertl sogar als konstitutiv für die Entstehung des Kurfürstenkollegs an.
Das aber ist wohl zu monokausal gesehen. Man sollte die Erörterungen Armin Wolfs
zu den Vorgängen von 1298 anlässlich der Wahl Albrechts I. beachten. Im
Einzelnen geht der Verfasser den Erhebungen in den Reichsfürstenstand am
Niederrhein (Geldern, Henneberg, Savoyen, Jülich, Hessen und schließlich
Luxemburg) als Elementen der Entwicklung der Reichsverfassung nach und
definiert den Raum dann als reichsfürstliche Landschaft.
Die anderen Beiträge sind Einzelproblemen in den
Beziehungen des Rheinlandes zum Reich in bunter Inhaltsfolge gewidmet. Joachim
Deeters analysiert die Instruktionen der Abgesandten der Reichsstadt Köln
zu den Reichstagen des 16.Jahrhunderts (71-92). Hauptinhalte waren die Achtung
der Unabhängigkeit der Stadt vom Erzbischof und des Reichskammergerichtes, Türkenhilfe,
seit 1530 Bewahrung der konfessionellen Konstellation, Stellung zum
Reichskreis, selbstverständlich wirtschaftliche Probleme. – Weit in die Neuzeit
führt Axel Gotthard, Das Rheinland?, aber wo liegt es?. Rheinländisches
Handeln und Verhandeln im 16. Jahrhundert (S. 93-115). Auch er bietet eine kritische
Überschau über die wechselnden und oft schwammigen Definitionen des
Landschaftsbegriffes. Reisebeschreibungen und Karten führen zu einer
Fehlanzeige. Die Organisation des Kurrheinischen Kreises wird knapp behandelt. Beachtenswert
ist die distanzierte Behandlung der spätmittelalterlichen Kurfürstenherrlichkeit
mit ihrem Gravitationszentrum am Mittelrhein, dem Niedergang seit dem Kampf
zwischen Berthold von Henneberg von Mainz und Maximilian I. und dem Aufstieg
Habsburgs, dem wachsenden Gewicht der sich herausbildenden Fürstenstaaten und
die Verdichtung des Reichsverbandes. Die rheinischen Erzbischöfe setzten sich
lieber allein zusammen ohne den Pfälzer. Solche ‚geistlichen Kurfürstentage‘ waren
nur eine Schrumpfform des
traditionellen Rheinischen unter den Bedingungen des Konfessionalismus (S. 114). – Hans-Wolfgang
Bergerhausen, „Des Heiligen Reichs fürneme Frontier Örter“. Die Rheinlande
und das Reich im 17. Jahrhundert (S. 117-142) weist zutreffend darauf hin, dass
man bislang in der landesgeschichtlichen Literatur, abgesehen von Wilhelm
Janssen, das 17. Jahrhundert als nicht lohnend angesehen habe. Bergerhausen
weist nachdrücklich auf die reichspolitische Bedeutung der Rheinlande hin, für
die allerdings auch er in den Quellen keinen festen Begriff finden kann (so S.
118 Anmerkung 6), sieht drängende Forschungsanliegen im Blick auf die
Positionen der Habsburger, die Präsenz der Spanier, Kölns Verhalten im
Dreißigjährigen Krieg, etwa auch die calvinistischen Regungen in Aachen. Als
Bilanz stellt er heraus, dass Kaiser und Reich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts
für die Stände an Mittel- und Niederrhein einen wesentlich höheren Stellenwert
einnahmen, als gemeinhin angenommen wird (S. 133). Erst der Rheinbund von 1654
zeigte eine Gegenbewegung zur Begrenzung des habsburgischen Einflusses. Nach
dem Westfälischen Frieden machte sich eine gewisse kaiserferne Stimmung
bemerkbar, doch die aggressive Politik Ludwigs XIV. von Frankreich habe zur
„Rückkehr des Kaisers ins Reich“ geführt, wie schon Anton Schindling trefflich
formulierte. – Michael Rowe, Die Rheinlande und das Reich 1780-1830 (S.
132-158), behandelt die Revolutionskrieg knapp, die Einwirkungen Napoleons I.
breiter und ausgewogen mit Bezug auf den Richter Georg Friedrich Rebmann. Nachwirkend
sind die Forschungen Karl-Georg Fabers. Als ein Befund, der mit dem aus dem
Mainzer Raum gewonnenen vergleichbar ist, sei genannt: Die Rheinlande hatten Glück, dass nach dem Zusammenbruch der
französischen Herrschaft 1814 die besten Elemente des napoleonischen Systems
weiterhin bestanden und die schlechteren indes verschwanden (S. 157). – Sozusagen auf die Gegenseite in der
Folgezeit führt ausgiebig Jürgen Herres, Rhein-Preußen. Eine
deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im 19. Jahrhundert (S. 159-202). Unter
Stichworten wie ‚Zwangsheirat‘ und ‚Vernunftehe‘, den von Rheinhold Koser schon
1892 gebrauchten Begriffen, sieht der Verfasser die Regionalentwicklung im 19.
Jahrhundert. Das Selbstbewusstsein des rheinischen Regionalismus gründete auf der
reichen historischen Überlieferung, erwachendem Wirtschaftsleben, geistiger
Vielfalt, nicht zu vergessen dem Katholizismus. Diesen Wesenselementen werden gegenübergestellt
im Osten Uniformität von Verhaltensweisen, verbreitete Mentalität der
Unterordnung, auch agrarwirtschaftliche Rückständigkeit auf vielen Rittergütern,
vor allem einseitige Protektion des Protestantismus. Herres stellt die
Grundlegung des rheinischen Regionalismus in der französischen Flurbereinigung um
1800 und den Reformen nach dem Zusammenbruch des Alten Reiches heraus, für
deren Würdigung in Preußen die intellektuelle Kraft fehlte. Er behielt
Lebenskraft über die Revolution von 1848 hinaus. Im Norddeutschen Bund und im
Kaiserreich seit 1871 mussten Regionalismus, preußischer Staatspatriotismus und
kleindeutscher Reichsnationalismus gegeneinander ausgewogen werden. Das
Rheinland wurde getragen von einer Bürgergesellschaft, für die staatliche
Institutionen weniger wichtig waren als für die Untertanen in Preußen. Herres
zeigt, wie sich in der Verfassungsbewegung von 1817/18 zum ersten Mal ein
rheinisches Selbstbewusstsein manifestierte
(S. 175), das in vielen
Äußerungen städtischer Provenienz den Gestaltungsanspruch gegenüber dem
preußischen Gesamtstaat trug und durch den Kölner Kirchenstreit von 1847 zusätzlich
konfessionell aufgeladen wurde. Gegenüber der von der Regierung auferlegten Rheinischen
Städteordnung von 1856 hielt man die Erinnerung an die französische
Munizipalverfassung mit deren Gleichsetzung von Stadt und Land wach. Der
Verfasser stützt sich wieder auf Ergebnisse Karl-Georg Fabers. Bis 1870 überwogen
fast immer die konfessionellen, politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen
Gegensätze. Erst im Kaiserreich fand eine gewisse Annäherung statt, im
Bewusstsein der Bevölkerung überwog die Zugehörigkeit zum Reich das Empfinden zur
Landschaft. -- Martin Schlemmer widmet seine Studie dem Rheinland,
Preußen und Deutschland in der Weimarer Zeit (S. 203-233). Er weist zunächst
auf die unmittelbar nach dem Zusammenbruch von 1918 durch erste Initiativen von
Wilhelm Solf erweckten, dann jedoch in aller Breite von Hugo Preuß erörterten
Vorschläge einer Neugliederung des Reiches hin, die jedoch zu keinem Ergebnis
führten. Die Vorschläge des Geographen Walter Tuckermann und die
separatistischen Ambitionen des Separatisten Hans Dorten werden erwähnt. Die im
Kreis um Hans Luther versammelten Landesminister entwickelten Ansätze zu
Vorschlägen einer Neugliederung, scheiterten aber an den Widerständen der
Parteien und der Landesregierungen. Erwogen wurde gelegentlich eine föderative
Gliederung des Reiche nach den Vorstellungen Fritz Stier-Somlos, aber auch
diese fanden in der notvollen Zeit der Rheinlandbesetzung durch die Franzosen
und der von Berlin betriebenen Versackungspolitik keinen Anklang. Im
Mittelpunkt der Ausführungen des Verfassers stehen die Auseinandersetzung um
den Rheinstaat und Erwägungen über antipreußische Mentalitäten nicht nur im
Rheinland sondern auch in anderen Teilen des Reiches, sogar in Österreich und
der Schweiz. Derartige Phänomene standen oft in Verbindung mit konfessionellen
Vorstellungen und haben teilweise sogar noch nach dem Zweiten Weltkrieg
Resonanz gefunden. – An das Ende des Bandes stellte man die Erörterungen Siegfried
Weichleins, Von der Exklusion zur Inklusion. Das Verhältnis von Nation und
Region in der neueren deutschen Geschichte (S. 235-253). Er beginnt mit die
Feststellung: Seit den 1970er Jahren
haben Region und Regionalismus wieder Konjunktur. Dies gilt sowohl für die
Politik als auch für die Geschichtswissenschaft. Er sieht darin nicht
nur eine deutsche Erscheinung, sondern verweist auf gegenwärtige regionale Identitätsbildungen
in Frankreich und England, man kann jetzt auch Spanien anführen. In einer
Rückschau macht er darauf aufmerksam, dass in Deutschland die Staatenbildungen der
Reichsbildung vorausgingen und daraus die Regionalisierungen eine fortwirkende
Kraft gewannen. Bemerkenswert sind seine Betrachtungen über den im europäischen
Umfeld singulären Heimatbegriff, der in der Zeit nach 1945 einen Schlüssel
für die erstaunliche Überlebenskraft der Heimatidee bot, in
dem er sogar so etwas wie einen
Ersatz für die Nation sieht (S. 146). Nach überzeugender Kritik der ‚Nation-buildings‘-Theorien
der Gegenwart bekräftigt er: Die
Region war kein antinationales Konzept, sondern in sich wandelbar und mit
zahlreichen Bedeutungen kombinierbar
(S. 253). Es sei erforderlich, von der konservativen Einfärbung der Region
und ihrer Attribute durch die nationalliberale Geschichtspolitik und der
Konstruktion der deutschen Reichsverfassung von 1919 sich abzuwenden und in der
Region die Grundlage zu neuen Raumformen in Handel und Verkehr zu nehmen.
Wiesbaden Alois
Gerlich