Mader,
Eric-Oliver, Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“. Die
Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts
mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (= Institut
für europäische Kulturgeschichte Augsburg. Colloquia Augustana 20).
Akademie-Verlag, Berlin 2005. 458 S. Besprochen von Peter Oestmann.
Die vorliegende Münchener Dissertation wirft einen originellen Blick auf das Ende des Alten Reiches. Es geht nicht um die große Politik und Verfassungsfragen, sondern um die Wahrnehmung von 24 Wetzlarer Juristen. Eric Mader, der bereits mit mehreren Veröffentlichungen zur Spätzeit des Reichskammergerichts hervorgetreten ist, schildert in seinem anregenden Buch die Herkunft und das weitere Schicksal derjenigen Reichskammergerichtsmitglieder, die zur Zeit der Auflösung des Alten Reiches im Amt waren. Die Begrenzung der Untersuchung auf das richterliche Personal, in der zeitgenössischen Terminologie also Assessoren, Präsidenten und Kammerrichter, ist nicht nur wegen der günstigen Quellenlage überzeugend. Die Lebenswege dieser Juristen wiesen zahlreiche Parallelen auf, bündelten sich dann in Wetzlar und trennten sich schließlich wieder. Genau in die Wetzlarer Zeit fiel die Erklärung des Römisch-Deutschen Kaisers Franz II. vom 6. August 1806, in der dieser nicht nur die Kaiserkrone niederlegte und die Lehensbande für aufgelöst erklärte, sondern auch die Mitglieder der Reichsgerichte von ihren Pflichten entband.
Der Ablauf des äußeren Geschehens bestimmt den Aufbau der Untersuchung. Ein erster Hauptteil ist dem Werdegang und geistigen Profil der Richterschaft gewidmet, ein zweiter schildert die Ereignisse des Jahres 1806 aus der Sicht der Wetzlarer Juristen. Im dritten Teil geht es um Pensionszahlungen und Entschädigungen für die arbeitslosen Reichsrichter. Der vierte und letzte Teil beschreibt die Karrieren der ehemaligen Kammergerichtsmitglieder in der späteren Zeit. Geschickt gewählt ist bereits der Einstieg. In lockerem Plauderton entfaltet Mader vor dem geistigen Auge des Lesers die letzte Kammergerichtsaudienz vom 17. Juli 1806. Fast ist man beruhigt zu erfahren, dass in dieser stürmischen Zeit in Wetzlar weiterhin penibel auf die jahrhundertealten Symbole und Förmlichkeiten geachtet wurde. Der Richterstab von 1495 lag auch nach über 300 Jahren immer noch im Original auf dem Tisch. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, wie außerhalb der Audienzen das weitere Schicksal des Reiches, die Zukunft des Gerichts und die wirtschaftliche Situation des Gerichtspersonals nach den Umwälzungen seit dem Pressburger Frieden das wichtigste Gesprächsthema bildeten.
Aufgrund ihrer Herkunft und Ausbildung waren die meisten Angehörigen des Kammergerichts fest im Reichsstaatsrecht verwurzelt und fühlten sich sogar als Staatsdiener des Reiches. Für die Wetzlarer Assessoren war das Alte Reich niemals mehr „Staat“ als unmittelbar vor seinem Ende, wie Mader schön hervorhebt (190). Fast alle Assessoren der letzten Stunde waren von Pütters Reichsstaatsrecht geprägt, etwa die Hälfte hatte sogar in Göttingen studiert. Das gilt auch für den verspäteten Beisitzer Karl Albert von Kamptz, der nach seiner Präsentation erst in Wetzlar eintraf, als der Kaiser die Krone bereits niederlegt hatte. Unter dieser Umständen lehnten die übrigen Gerichtsmitglieder es ab, Kamptz noch aufschwören zu lassen. Doch wurde er als gleichwertiger Kollege anerkannt und nahm an den folgenden Auseinandersetzungen denselben Anteil wie die bereits zuvor tätigen Assessoren. Ausführlich geht das Buch auf das reichsstaatsrechtliche und kameralprozessuale Schrifttum ein, das diese letzte Richtergeneration zumeist im Vorfeld der Wetzlarer Karriere verfasst hatte. Besondere Bedeutung beansprucht hierbei das Buch „Von Staatsämtern und Staatsdienern“ des späteren Assessors Franz Arnold von der Becke. In diesem 1797 entstandenen, bisher eher unbekannt gebliebenen Werk bekennt sich der Verfasser zu unveräußerlichen Menschenrechten und betont, dass die subjektiven öffentlichen Rechte den einzelnen vor dem Herrscher schützen sollten. Es sagt viel über das Kameralkollegium aus, wenn diese Schrift bei Beckes Examen den Ausschlag dafür gab, dass er trotz einer nur mäßigen Proberelation als Assessor angenommen wurde. Aus rechtshistorischer Perspektive ist dennoch zu fragen, ob Mader den Einfluß des Naturrechts auf die letzte Assessorengeneration nicht überbewertet. Und mit einem gewissen Befremden nimmt man zur Kenntnis, wenn der Autor die Frage, ob Savigny, beim ihm „Karl Friedrich“ genannt, Naturrechtler gewesen sei, in einem kurzen Satz mit einer einzigen Fußnote leichthin nebenbei bejaht (97).
Der zweite Hauptteil greift über Wetzlar hinaus und schildert auch die äußeren Ereignisse in der letzten Phase des Reiches. Der Kammerrichter Heinrich Aloys von Reigersberg versuchte durch eine Reise nach Regensburg und Wien authentische Informationen zu gewinnen und Gewissheit über die Zukunft des Kammergerichts zu erhalten. Die Dynamik des sich beschleunigenden Auflösungsprozesses schildert Mader äußerst spannend, indem er die Wahrnehmung der Wetzlarer Assessoren mit dem politischen Geschehen kontrastiert. In einer Zeit, in der täglich neue Informationen eingingen, bedeutete eine Nachrichtenverzögerung von wenigen Tagen bereits sehr viel. Auf diese Weise relativiert Mader das bekannte Goethe-Zitat, ein Streit seines Dieners mit seinem Kutscher habe ihn mehr interessiert als die Spaltung Deutschlands. Als der Dichter dies am 7. August 1806 niederschrieb, konnte er von der Niederlegung der Kaiserkrone noch gar nichts erfahren haben, sondern er reagierte nur auf die Gründung des Rheinbunds (155). Mader macht es angesichts der zahlreichen sehr späten Reichsreformpläne plausibel, dass es selbst nach den Friedensschlüssen von Lunéville (1801), Pressburg (1805) und dem österreichischen Kaisertum (1804) keine Entwicklungsnotwendigkeit hin zum Ende des Reiches gegeben habe. Bis zum Schluss bestanden mehrere Optionen, vermutlich gab tatsächlich erst Napoleons Ultimatum den Ausschlag. Dass die Niederlegung der Kaiserkrone einen Verfassungsverstoß darstellte (138), sollte man als Historiker dagegen nicht kurzerhand behaupten. Zumindest den zeitgenössischen Bewertungsmaßstab müsste man offenlegen. Im Plenum der Kammergerichtsmitglieder jedenfalls herrschte im Spätsommer 1806 eine unentschiedene Einschätzung, bis sich die Meinung durchsetzte, das Reich sei erloschen.
In dieser Situation, und damit beginnt der dritte Teil des Buches, vollzieht sich für den Leser der Wahrnehmungsbruch der Akteure auch bei der Lektüre. Die zuvor aufrechterhaltene Spannung bricht in sich zusammen, die Beschäftigung mit der großen Politik weicht einem geradezu peinlichen Klein-Klein. Natürlich ist es verständlich, dass die richterlichen Mitglieder des Kammergerichts sich um ihre finanzielle Absicherung Sorgen machten. Aber es ist schon erstaunlich, wie sie mitten in der Zeit der napoleonischen Kriege, der Befreiungskriege und der Gründung des Deutschen Bundes als kleines Häuflein Elender in Wetzlar ausharrten und nur darauf achteten, dass die Anwälte von den zu erwartenden Pensionen nichts abbekamen. Mit welchem Pathos, ganz im hergebrachten Relationsstil, die ehemaligen Assessoren hier ihre Rechtsauffassung zum Pensionsproblem weitschweifig ausbreiteten, wirkt unfreiwillig komisch. Und eine weit ausgreifende Diskussion mit langen schriftlichen Stellungnahmen zu dem Urlaubsgesuch eines Assessors, der in Wetzlar gar nichts mehr zu arbeiten hatte, ist auch nach zweihundert Jahren noch kurios. An dieser Stelle wird das Alte Reich postum zu genau derjenigen Karikatur, die die borussische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts aus ihm machte. Mader möchte zwar betonen, wie groß die Kontinuität, gerade auch die personelle Kontinuität vom Alten Reich zu den Staaten des Deutschen Bundes war. Allerdings zeigen solche Momentaufnahmen, dass die leicht spöttische Sicht auf das Alte Reich längst nicht so unberechtigt war, wie man in den vergangenen zwanzig bis dreißig Jahren behauptete. Mader bezweckt mit seinem Buch das Gegenteil, aber er lässt die Quellen sprechen und ermöglicht daher einen wichtigen und kritischen Blick auf das Geschehen.
Trotz der verworrenen Situation nach 1806 gelang es mehreren Angehörigen des Reichskammergerichts, beachtliche Nachkarrieren in den deutschen Einzelstaaten zu beginnen. Der letzte Kammerrichter Reigersberg wurde bayerischer Justizminister, der letzte Assessor von Kamptz preußischer Staats- und Justizminister, andere bekleideten hohe Justizämter (gute Übersicht 374-375). Mader legt dar, wie viele Reformpläne in den deutschen Staaten auf Anregung oder unter maßgeblicher Mitwirkung ehemaliger Reichskammergerichtsmitglieder entwickelt wurden. Das gilt insbesondere für die bayerische Verfassung von 1818 und den gescheiterten Entwurf einer bayerischen Zivilprozessordnung von 1825. So erstaunlich es freilich ist, dass Mader die Kammergerichtsmitglieder zunächst zu reinen Naturrechtlern macht, so bemüht wirkt es, wenn er später eine Brücke zur Historischen Rechtsschule schlägt. Zwar lobte der letzte Kammerrichter Graf Reigersberg bereits 1853 das Zürcherische Zivilgesetzbuch Johann Caspar Bluntschlis (384). Allerdings war Reigersberg zu diesem Zeitpunkt bereits 83 Jahre alt, und Bluntschlis Kodifikation bot genau das Gegenteil dessen, was Savigny sich für Deutschland vorgestellt hatte. Die Einbindung der Kammergerichtsmitglieder in die Rechtswissenschaftsgeschichte ist daher trotz Maders Untersuchung noch nicht vollständig geklärt.
Insgesamt hinterlässt das Buch gerade mit seinen stark unterschiedlichen Teilen einen sehr positiven Gesamteindruck. Es ist perspektivenreich, quellennah und ersichtlich mit Liebe zum Gegenstand geschrieben. Wenn der historische Hintergrund dann und wann zur Folie oder Blaupause mutiert, liest man über solche Sprachmodernismen gern hinweg.
Münster