Jarzebowski, Claudia, Inzest. Verwandtschaft
und Sexualität im 18. Jahrhundert (= L’Homme Schriften, Reihe zur
feministischen Geschichtswissenschaft 12). Böhlau, Köln 2005. 292 S. Besprochen
von Arne Duncker.
Jarzebowskis Werk zum Inzest im 18. Jahrhundert ist
eine geschichtswissenschaftliche, 2004 an der Freien Universität Berlin
angenommene Dissertation auf rechtshistorischer Quellengrundlage. Sie stützt
sich zentral auf erstmals zusammenhängend ausgewertete archivalisch vorliegende
preußische Gerichtsakten zu Inzestfällen: für den Zeitraum von 1720 bis 1780
sind dort knapp 300 solcher Fälle dokumentiert. Große Teile des Aktenbestands
hat Jarzebowski transkribiert (vgl. S. 103, Anm. 3). Aufgrund der
inkonsistenten Überlieferungssituation kann hier kein Anspruch auf annähernde
Vollständigkeit erhoben werden (S. 107). Es ist danach zu vermuten, dass es
deutlich mehr Fälle und Verfahren gab, aber diese zum Teil nicht mehr
aktenmäßig überliefert sind.
Einleitend (S. 11-13) werden
Fragestellungen und Quellen definiert. Dabei wird früh deutlich, dass die
Fragestellungen der Arbeit, welche im folgenden die Gliederung der Untersuchung
bestimmen, nicht in erster Linie rechtshistorischer Natur sind, sondern dem
aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskurs entspringen. Gleichwohl kommt dem
Werk in unterschiedlicher Hinsicht auch rechtshistorische Relevanz zu:
Einerseits sind die spezifisch sozial- und kulturwissenschaftlichen
Fragestellungen an historische Gerichtsakten als sinnvolle Ergänzung der
traditionellen rechtshistorischen Methoden zu verstehen. Zum anderen wird
bereits durch die Erschließung der Akten wertvolle Dokumentationsarbeit
geleistet, indem ein bisher verborgenes Stück Rechtsalltag des 18. Jahrhunderts
zugänglich gemacht wird, was in einer Untersuchung abstrakter Rechtsnormen und
zeitgenössischer Kontroversen des juristischen Schrifttums nicht in gleicher
Weise möglich wäre wie bei der hier erfolgenden Auswertung konkreter Fälle. Die
Einzelbetrachtung solcher Fälle (vgl. S. 112-256) bestimmt zugleich das
methodische Vorgehen der Verfasserin. Dieser Schwerpunkt wird bewusst gesetzt,
denn dem „gelehrten Inzestdiskurs“ (S. 11, vgl. dann S. 32-101) soll das reale
„Spektrum von Handlungen“ (S. 11) aus der Bevölkerung gegenübergestellt werden.
Die von Jarzebowski formulierten
Fragestellungen beschäftigen sich in erster Linie mit wechselseitigen
Zusammenhängen zwischen Inzest, Legitimität und Macht (vgl. S. 11): Wer
entscheidet beispielsweise im sozialen Umfeld und vor Gericht darüber, ob eine
Beziehung legitim oder nicht legitim ist? Welche Möglichkeiten haben
demgegenüber Frauen und Männer, ihre eigenen Deutungen und Auffassungen zu
legitimen und nicht legitimen Beziehungen zwischen Verwandten durchzubringen?
In der weiteren Einleitung (S. 13-31) und einem im erster Linie
kulturwissenschaftlichen Abschnitt „Inzestdiskurse“ (S. 32-56) werden die
begrifflichen Grundlagen erörtert. Hierunter befinden sich aktuelle Diskurse zu
Familie und Verwandtschaft mit äußerst umfangreichen Verweisen auf das neuere
sozial- und kulturwissenschaftiche Schrifttum und auch auf neuere
Regionalstudien zu historischen Inzestfällen (wie Rublack 1995, Hehenberger
2003). Weiterhin werden gegenwärtige Inzesttheorien und historische Diskurse
zum Inzest erörtert, wobei letztere freilich in erster Linie unter Bezugnahme
auf aktuelle Sekundärliteratur und zu wenig unter Einbeziehung oder auch nur
Nachweis der primären Quellen referiert werden. So erscheint es gewöhnungsbedürftig,
wenn (S. 46f.) konkrete Ergebnisse mehrerer Konzile der Jahre 721-813
aufgeführt werden, aber keinerlei Beleg aus der jeweiligen Primärquelle geboten
und in den Fußnoten ausschließlich auf Sekundärliteratur der Jahre 1976-1999
verwiesen wird (ähnlich wird auch auf S. 44f., 49, 53 vorgegangen). Inhaltlich
wird die Ausdehnung sexueller Beschränkungen und Eheverbote im
mittelalterlichen Kirchenrecht verdeutlicht, welche schließlich nicht nur consanguinitas, sondern auch affinitas und cognatio spiritualis umfassten und damit auch in Fällen der
Schwägerschaft und Patenschaft anwendbar waren.
Im folgenden Abschnitt werden die
„Kontexte“ der Gerichtsverfahren erläutert (S. 57-101). Hierbei handelt es sich
auch um die juristischen Rahmenbedingungen in Brandenburg-Preußen, welche
hinsichtlich regionaler Quellen teils sehr schön aus der zeitgenössischen
Literatur erarbeitet werden. Dies umfasst die Entwicklung des Gerichtswesens
(S. 57-63) sowie der materiellen Entscheidungsgrundlagen (S. 63-86 unter
Einbeziehung weiterer Territorien), letztere mit in der frühen Neuzeit
insgesamt recht widersprüchlichen Angaben zur Bestrafung des Inzestes: teils
konnte unter bestimmten Umständen die Todesstrafe verhängt werden, teils war
von milderen Sanktionen wie Landesverweisung die Rede. Die Zitierweise
rechtshistorischer Quellen entspricht nicht immer den üblichen Konventionen
(vgl. z. B. S. 64, Anm. 37). Der auf S. 87-101 folgende Unterabschnitt
„Umdeutungen“ enthält weiterführende Betrachtungen zu Begriffsentwicklung und
Wortbedeutungen in der (Rechts-)Sprache der Frühen Neuzeit im Umfeld des
Inzeststrafrechts.
Die Auswertung preußischer Inzestakten
des 18. Jahrhunderts, welche den Kern der Arbeit bildet, wird auf S. 102-256
unternommen („Das crimen incestus vor
Gericht“). Zunächst (S. 102-112) erfolgt hier ein Überblick über den
Archivbestand nebst detaillierter quantitativer Auswertung. Diese Einführung
verkörpert weit mehr als einen einleitenden Abschnitt und enthält im Rahmen der
zahlenmäßigen Darstellung einige wichtige Ergebnisse der Arbeit. Beschrieben
werden zunächst die typischen Akteninhalte und Verfahrensabläufe (S 101-103),
es folgt eine Übersicht zu den Angeklagten und sonstigen Beteiligten. Demnach
entstammt die überwiegende Anzahl der Familien dem kleinbäuerlichen, manchmal
kleinhandwerklichen Milieu. In der Zeit nach 1740 überwiegen die Inzestfälle
zwischen Stiefeltern und Stiefkindern, zuvor ist darüber hinaus auch ein
zahlenmäßig bedeutender Anteil von verschwägerten oder in der Seitenlinie
verwandten Paaren festzustellen. Der Verkehr unter Geschwistern oder zwischen
leiblichen Vätern und Töchtern nimmt einen weit geringeren Anteil der Fälle ein
(zum Missbrauch von Kindern vgl. S. 111 f.).
In der ab S. 112 folgenden
Hauptuntersuchung wird im wesentlichen eine Reihe historischer Kriminalfälle
aus den Archivakten im Detail referiert und analysiert. Hierbei hätten
einleitend die Kriterien noch etwas deutlicher gemacht werden können, die zur
Auswahl der konkret vorgestellten Fälle beigetragen haben. In diesem Zusammenhang
hätte auch klar dazu Stellung bezogen werden können, in welcher Hinsicht die
vorgestellten Fälle als repräsentativ angesehen werden können. Die Gliederung
umfasst folgende Punkte: auf S. 112-141 werden „materielle Interessen und
soziales Überleben“ behandelt, auf S. 141-167 „liebe - eine alternative
Semantik der Verwandtschaft?“, auf S. 167-242 „sexuelle und strukturelle Gewalt
zwischen Verwandten“ (unterteilt in stiefväterliche Gewalt und väterliche
Gewalt), schließlich auf S. 242-256 „sexuelle Gewalt gegen Kinder“. Damit folgt
die Untersuchung weder rechtssystematischen noch chronologischen Kriterien,
sondern will den Bestand exemplarisch nach bestimmten konkreten
Fallkonstellationen aufschließen. In erster Linie werden die Fälle Stück für
Stück aus den Akten referiert und unter vergleichender Beiziehung von
Sekundärliteratur kommentiert. Die Gliederung orientiert sich am jeweiligen
„Beziehungsgefüge“ bzw. der jeweiligen Interessenlage und Motiven der
Tatbeteiligten. Dabei beginnt die Untersuchung mit Fällen des freiwilligen
Verkehrs miteinander verschwägerter Personen und endet in teils recht
drastischen Fällen männlicher sexueller Gewalt des Familienoberhaupts gegen
Stieftochter oder Tochter sowie Gewaltakten gegen Kinder. Jarzebowski verweist
vor dem Übergnag zu diesen Fallgruppen einleitend auf die Schlüsselrolle des
„pater familias“, des „Familienoberhaupt(s)“, im Rahmen der verhandelten Fälle,
welche in einen Kontext struktureller Gewalt eingebettet gewesen seien, der die
Androhung und Ausübung körperlicher Gewalt gefördert habe (S. 169). Die
„Ignoranz der Richter“ (S. 169) habe dazu beigetragen, dass bei 30 solcher
Verfahren nur in fünf Fällen überhaupt wegen Vergewaltigung oder versuchter
Vergewaltigung ermittelt wurde. Diese Thesen werden im folgenden mit einer
Reihe von Fällen in teils drastischen Einzelheiten illustriert, wobei darauf
hingewiesen wird, dass die Obrigkeit sich den Opfern hier mitunter eher in den
Weg gestellt hat, als die berichteten Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung ernsthaft zu verfolgen. Zudem mussten die geschädigten Frauen
mit der Möglichkeit rechnen, im Rahmen eines Inzestverfahrens selbst nicht als
Opfer, sondern als Mittäterinnen behandelt und abgeurteilt zu werden. In diesem
Zusammenhang taucht von Seiten der Strafverfolger das Argument auf, die Frauen
hätten sich ja gegen die Übergriffe wehren müssen und seien ansonsten mit für
die Tat verantwortlich.
Abgerundet wird die Arbeit durch einen
Schlussteil (S. 257-265) und ein sehr gewissenhaft geführtes und umfangreiches
Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 266-292). Leider fehlt ein Register.
Insgesamt ist Jarzebowskis Werk als eine höchst beachtliche Ersterschließung
eines strafrechtsgeschichtlich und frauenrechtsgeschichtlich wichtigen
Quellenbestandes anzusehen. Für die frauenrechtshistorische Forschung wird
hieraus klar, dass die Untersuchung vorhandener Normen und zeitgenössischer
theoretischer Diskurse den Forschungsgegenstand nicht allein erfassen kann und
sollte. Hinzu sollte gerade im Strafrecht eine genaue Einbeziehung der
Rechtsanwendung in Form konkreter Fallstudien kommen, denn im Rechtsalltag
offenbaren sich in der vorliegenden Untersuchung zusätzliche Nachteile für
Frauen. Nachteile, die im vorfindbaren Normenbestand noch nicht zwingend
angelegt sind, sondern sich aufgrund familiärer Machtstrukturen und einseitigen
Verhaltens der Obrigkeit ergeben. Da in mehr oder weniger umfassendem Umfang
eine Transkription der Akten durch Jarzebowski erfolgt ist (vgl. S. 103), wäre
es bedauerlich, wenn diese wichtige Aufschließung eines historischen
Aktenbestandes der Wissenschaft im Wortlaut weiterhin nicht zur Verfügung
steht, denn sie könnte einen wertvollen Ansatz für zukünftige Arbeiten zur
rechtshistorischen Geschlechterforschung bieten. Sicherlich ist eine gedruckte
Edition sehr aufwendig und schwer zu bewerkstelligen. Unter den gegenwärtigen
Verhältnissen erscheint es aber durchaus machbar und wünschenswert, die
Ergebnisse in digitalisierter Form der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen
und damit zugleich ihre Erhaltung zu sichern.
In der Schwerpunktbildung innerhalb der
ausgewählten Rechtsfälle und in der Thesenbildung unter besonderem Hinweis auf
eine im genauen Wortsinne patriarchale Ausübung häuslicher Gewalt ist die
Arbeit Jarzebowskis sicherlich als feministisch zu bezeichnen, feministisch
nicht nur aufgrund ihrer Aufnahme in eine entsprechende Schriftenreihe, nicht
nur unter ergänzender Berücksichtigung der sonstigen feministischen Forschungs-
und Lehrtätigkeit Jarzebowskis, die u. a. in der historischen Frauen-, Kinder-
und Gewaltforschung nachweisbar ist, sondern die Arbeit ist auch explizit
feministisch in ihren Inhalten. Dies beinhaltet kein Werturteil über die
Arbeit, sondern lediglich eine Einordnung ihrer Herangehensweise. Ist
feministische Geschichtsforschung notwendig, und ist sie weiterhin notwendig?
Solange eine negative journalistische Rezension des vorliegenden Bandes - wie
die einer um Selbstdarstellung bemühten Nachwuchskraft in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung (FAZ v. 10. 7. 2006, S. 45) - mit donnernder
Brachialrhetorik schließen kann, hinter Jarzebowskis Werk stehe „stramm“ ein
„feministischer Mythos“, solange die freie Erforschung von
Geschlechtergeschichte auch im 21. Jahrhundert jederzeit in solcher Art durch
antifeministische Allgemeinplätze behindert werden kann, solange erscheint
weitere Geschlechterforschung nicht nur legitim, sondern sogar dringend
erforderlich.
Hannover Arne
Duncker