Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Stern, Klaus, Band 4, 1 Die einzelnen Grundrechte. Der Schutz und die freiheitliche Entfaltung des Individuums, bearb. v. Stern, Klaus in Verbindung mit Sachs, Michael/Dietlein, Johannes. Beck, München 2006. CXXIII, 2422 S. Besprochen von Andreas Kley.
Der
Autor zitiert im Vorwort den Talmud: „Es ist nicht möglich, das Werk zu
vollenden, und es ist nicht erlaubt, das Werk zu verlassen“. Dessenungeachtet
hat ihn offenbar den Fortgang der Zeit genötigt, den Teilband zu vollenden,
zwar nicht als etwas Endgültiges, aber doch als ein grundlegendes Werk zum
deutschen Staatsrecht. Die Vollendung erfolgt ganz und gar auf der Höhe der
Gegenwart.
Der
Band behandelt die folgenden einzelnen Grundrechte: die Menschenwürde (§ 97),
Schutz der physischen Existenz (§ 98), Persönlichkeitsrecht (§ 99), Ehe und
Familie (§ 100), Staatsangehörigkeit, Aufenthalt und Auslieferung (§§ 101-103),
Handlungsfreiheit (§ 104), Schutz vor Zwangsarbeit (§ 105), Freiheit der
Bewegung, Versammlung, Vereinigung und Kommunikation (§§ 106-108), die
Medienfreiheit (§ 109, 110), Berufs- und wirtschaftsrechtliche Freiheiten (§§
111, 112) und die Eigentumsfreiheit (§ 113).
Es
ist an dieser Stelle nicht möglich, den CXXIII und 2422 Seiten umfassenden Band
à fond zu erörtern. Stattdessen soll an Beispielen die grundlegende und
aktuelle Behandlung des Stoffes untersucht werden. In § 97, S. 8ff. wird die
„rocher de bronze“ genannte Menschenwürde in alle Dimensionen hin vertieft.
„Einer zunehmend auf Materialität und Technizität bedachten modernen Welt täte“
– so der Autor – „eine Revitalisierung der Menschenwürde besonders gut“ (S.
17). Stern hält dafür, dass die „Menschenwürde zu einem Schlüsselproblem vieler
Gegenwartsfragen der Menschheit geworden ist“ (S. 17). Der Hauptautor verweist
auf die Neukommentierung von Art. 1 Abs. 1 GG in der Neuauflage von Maunz/Dürig
von Mathias Herdegen. Dieser war wegen tatsächlicher oder vermeintlicher
Relativierungen der Menschenwürde von Kollegen scharf angegriffen worden (vgl.
E.-W. Böckenförde in der FAZ vom 3. 9. 2003, S. 33ff.) Dazu kommt noch die
Dabatte um den Fall Daschner betreffend Folterverbot (S. 24f.) und
Menschenwürde. Der Fall lässt sich noch zuspitzen: Ein Terrorist hat eine für
die Großstadt tödliche Bombe versteckt. Ist es zulässig, den gefassten
Terroristen mittels Folter zum Sprechen zu bringen, um das Leben vieler zu
retten? Eine ähnliche Konstellation hatte sich nach § 14 Abs. 3 des
Luftsicherheitsgesetzes vom 11. 1. 2005 ergeben, wonach der Abschuss eines
Verkehrsflugzeuges und damit der Tod unschuldiger Menschen dann zulässig ist,
wenn damit noch mehr Menschenleben gerettet werden können. Stern vertritt zu
Recht eine völlig „abwägungsfeindliche“ Haltung (S. 26), wie sie auch das
deutsche Bundesverfassungsgericht im Fall des Luftsicherheitsgesetzes geäußert
hatte: Mit Urteil vom 15. 2. 2006 wurde diese Vorschrift für nichtig erklärt,
da sich Menschenleben nicht gegen Menschenleben aufwägen lassen.
Stern
gibt zu, dass die Menschenwürde definitorisch kaum in den Griff zu bekommen
ist. Als ein wichtiges Hilfsmittel gibt er indes die sog. „Objektformel“ an,
wonach es die Menschenwürde verbietet, den Menschen zu einem bloßen Objekt zu
machen (S. 18f.). Freilich ist die Formel für außerhalb des Genozides stehende
Verletzungen zu grobmaschig. Hier hilft nicht mehr die abstrakte Umschreibung,
sondern allein die die Umstände des Einzelfalls beachtende Würdigung von Art. 1
Abs. 1 GG. In diesem Sinn zählt Stern die verschiedensten Konstellationen von
Menschenwürde-Gefahren auf, namentlich jene der Biomedizin und der
Humangenetik. Dabei spielen namentlich die Stellungnahmen des Nationalen
Ethikrates, der 2001 geschaffen worden ist, eine hervorragende Rolle. Stern
referiert die verschiedenen Texte des Ethikrates, etwa zur
Präimplantationsdiagnostik. Dabei ist es einigermassen verblüffend
festzustellen, dass auch dieser Rat seine Entscheidungen mit Mehrheit fällt.
„Die“ Ethik ist alles andere als eine Leitlinie, die zu klaren und eindeutig
begründbaren Haltungen führt. Beim Ethikrat handelt es sich vielmehr um ein
Gremium, welches markieren sollte, dass Fragen der Ethik zur – nach dem
Sprachgebrauch des ehemaligen Bundeskanzlers Schröder - „Chefsache“ gehören. Es
handelt sich um ein typisches Produkt des derzeitigen Politics-Überhangs in der
heutigen Politik (Politik als bloßer Prozess). Die Erwartungen, der Ethikrat
könnte die Menschenwürde inhaltlich erhellen, ist daher von vornherein zum
Scheitern verurteilt. Es spricht gleichwohl für die hohe Qualität von Sterns
Werk, dass er auch diese Äusserungen zu den vielen Dimensionen der
Menschenwürde einbezieht.
Die
gut gegliederte und gründliche Darlegung des Stoffes findet sich nun bei allen
hier dargestellten einzelnen Grundrechten. Auch bei § 112 über die arbeits- und
wirtschaftsrechtliche Vereinigungsfreiheit wird in der bewährten Weise
dargestellt. Zu Recht betont Stern den eigenständigen Gewährleistungsgehalt des
Art. 9 Abs. 1 GG (S. 1962f.). Dieser wird dadurch unterstrichen, dass
ausländische Verfassungsordnungen für die Freiheit des Wirtschaftens
spezifische Garantien kennen.
Alles
in allem handelt es sich um ein aktuelles und grundlegendes Nachschlagwerk zu
den einzelnen Grundrechten. Es wird praktischen Bedürfnissen gerecht, indem es
die grundrechtsrelevante Rechtsprechung der Höchstgerichte darstellt. Aber
zusätzlich handelt es sich um ein die Theorie der Einzelgrundrechte und der
Grundrechtsgarantien abdeckendes Werk, das kaum Wünsche offen lässt. Der Stoff
wird nicht nur durch ein detailliertes und aussagekräftiges Inhaltsverzeichnis
erschlossen, sondern auch durch ein detailliertes Sachverzeichnis. Es handelt
sich um ein Werk, das in der hohen Qualität seiner Vorgänger-(teil-)bände in
nichts nachsteht.
Zürich Andreas
Kley