Rolin, Jan, Der Ursprung des Staates. Die naturrechtlich-rechtsphilosophische Legitimation von Staat und Staatsgewalt im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts (= Grundlagen der Rechtswissenschaft 4). Mohr (Siebeck), Tübingen 2005. XI, 298 S. Besprochen von Hannes Rösler.
Das vorliegende Buch arbeitet die historisch-philosophischen Grundlagen im Zeitalter der Herausformung der europäischen Nationalstaaten heraus. Dem Werk liegt eine von Diethelm Klippel betreute und 2004 in Bayreuth angenommene Promotionsarbeit zugrunde. In der sog. postnationalen Konstellation[1], in welcher gleichwohl Mitte 2005 der EU-Verfassungsentwurf in Referenden von zwei Gründungsstaaten der EWG scheiterte, stellen sich die Fragen nach der Staatenfunktion als auch der schrittweisen (Über-)Staatenwerdung gänzlich neu. Natürlich verbietet sich eine schlichte Gleichsetzung von Staatenwerdung und gemeinschaftlichem Projekt[2], welche die Grundlage für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker schafft, so wie es die Präambel des E(W)G-Vertrages von 1957 vorsieht. Obwohl Rolins Arbeit konsequenterweise rein historisch bleibt, nimmt man das Buch auch angesichts des aktuellen Hintergrundes mit besonderem Interesse zur Hand. Dies resultiert nicht zuletzt aus der starken Verunsicherung der Staatswissenschaften. Sie ist aus der Entgrenzung des Nationalrechts in den Wissenschaften des Rechts, der Verwaltung, der Volkswirtschaft, der Politik und der Soziologie entstanden. Dabei erkennt man: Rolin beschäftigt sich nicht allein mit der ideengeschichtlichen Entwicklung zum Thema Staatsursprung und -zweck, sondern auch mit den für uns so zentralen Rechts- und Politikbegriffen Freiheit, Souveränität, Verfassung, Volk und Nation, deren konkretere Herausbildung erst nach der Französischen Revolution einsetzt.
Rolin spannt den zeitlichen Bogen seiner Darstellung zur Entwicklung des staatsvertraglichen Denkens von 1700 bis 1871. Methodisch verfolgt er einen ideen- oder begriffsgeschichtlichen Ansatz und analysiert dazu auch staatstheoretische Schriften von weniger bekannten Autoren jener Zeit. Erklärtermaßen lässt er sich dabei von der sog. Neuen Ideengeschichte anregen, die sich um eine Verbreiterung und Kontextualisierung der Quellenlage bemüht (S. 7f.). Das erste Kapitel untersucht den kontraktuellen Ursprung von Staat und Staatsgewalt im „Allgemeinen Staatsrecht“ als eine Teildisziplin des Naturrechts (S. 10–58). Das aus dem älteren Naturrecht stammende Staatstheorem diente bis etwa 1780 als Legitimation der absolutistischen Fürstenstaaten, die den deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts prägten (S. 56): Ausgehend vom „chaotischen“ status naturalis, wie er im 1651 veröffentlichten „Leviathan“ von Hobbes (1588–1679) beschrieben ist, bietet der status civilis in Gestalt des Staates Ruhe und Schutz. Zunehmend wird das Gewaltmonopol des Staates dabei auch als Ausdruck des menschlichen Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungstriebs gewertet. Den letzten Argumentationsschritt bezeichnet Rolin als eine Funktionalisierung des einst von Thomas Hobbes und Samuel von Pufendorf (1632–1694) entworfenen Naturzustandtheorems für die Staatsgründung (S. 23). Die sich parallel vollziehende freundlichere Einschätzung des vorstaatlichen Gesellschaftszustands, die zudem die Begründung natürlicher Rechte und Pflichten bezweckte, stellt Rolin ebenfalls dar (S. 27–33).
Indes ist in der älteren politischen Theorie des 18. Jahrhunderts nicht der Volkswille, sondern die göttlich oder naturgesetzlich statuierte Fürstenmacht der Entstehungsgrund für den Staat gewesen. Es ging also nicht um den Beitrag der Untertanen zur Staatsgründung, sondern lediglich um die Rechtfertigung von absolutistischer Herrschaft und der Rechtsdurchsetzung als Staatszweck (S. 57f.). Das zweite Kapitel erörtert die Grenzen der Staatsgewalt im Naturrecht des aufgeklärten Absolutismus (S. 59–95). Die Freiheit endet hiernach mit der kontraktuellen Staatsgründung und wird vom Staat an die Bürger zurückgegeben. Die Grenze des Staates kann somit nicht durch die Freiheit bestimmt werden (S. 94). Mit Blick auf die Stände lassen sich mit Rolin die radikal-absolutistische und ständisch-feudale Argumentationslinie unterscheiden: Während erstere sich um die Festigung absolutistischer Herrscherambitionen bemühte, zielt die zweite auf eine politische Teilhabe der Stände (S. 94f.).
Im dritten Kapitel behandelt Rolin die Staatsgründungstheorie in der liberal-konstitutionellen Diskussion des späten 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (S. 97–151). Den Grund für die Behauptung der kontraktuellen Staatsgründungstheorie gegenüber der aufsteigenden Historischen Rechtsschule bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erblickt Rolin in der Unterscheidung zwischen historischer Staatsentstehung und vertraglichem Rechtsgrund (S. 103ff.). Mit dieser Differenzierung läge die Relevanz der Staatsvertragstheorie auch nicht mehr in der Begründung der Staatsentstehung. Vielmehr diene sie – gleichsam wie ein Verfassungsvertrag – als theoretische Rechtfertigung des Übergangs zum konstitutionellen Fürstenstaat, was eine Begrenzung der staatlichen Herrschaft mit sich bringe (S. 149f.).
Das vierte Kapitel
ist den im 19. Jahrhundert zunehmend vertretenen antikontraktuellen
Staatsmodellen gewidmet (S. 153–214). Ein wesentlicher Gesichtszug der
Gegenbewegung zur Staatsvertraglehre war die Ablehnung der Volkssouveränitätsidee,
mit der sie identifiziert wurde. Zur Begründung des Ursprungs des Staates stellten
restaurativ-antivoluntaristische Autoren auf das Wesen des Menschen oder die
geschichtliche Erfahrung ab (S. 177ff., 213f.). Eine gänzliche Verobjektivierung
der Staatsidee vollzog Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) mit
seiner am Status quo orientierten Staatsstabilisierungslehre, die sich aber
vorsichtig auch liberalen Reformideen öffnete (S. 199–212). Hervorhebenswert
ist dabei Hegels Auffassung, die Freiheit habe eine konstitutive Bedeutung
für die Legitimation des Staates (S. 208–211).
Rolin zeichnet im fünften Kapitel die vielförmigen organischen Staatslehren des 19. Jahrhunderts nach (S. 215–263). Sie sind als Gegenentwürfe zur älteren absolutistischen und jüngeren individualistisch-liberalen Staatsvertragstheorie konzipiert. Die Idee vom Staat als Organismus versucht naturhafte oder entwicklungshistorische Ansätze für die Begründung von Staat und Staatsgewalt zu vereinen. Dabei werden auch die Konzepte von Volk und nationaler Identität in die Staatsentstehung und Staatsrechtfertigung eingepasst (S. 261f.). Die Freiheit des Individuums wird allerdings nicht mehr als Legitimationsgrundlage des Staates gewertet. Vielmehr bezwecken die staatsorganischen Ansätze einen Ausgleich zwischen Freiheitsverlangen und staatlich-kollektiver Ordnung. Dabei wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts die Fürsten- durch die Staatssouveränität ersetzt (S. 262f.). Rolins Ausführungen werden durch eine kurze Zusammenfassung abgerundet (S. 265–267). Hierin betont er, modernes Verfassungs- und Rechtsstaatsdenken habe sich in der deutschen Politiktheorie erst nach 1790 langsam entwickelt. Wie erwähnt endet die Studie mit Gründung des zweiten Kaiserreiches.
Als Gesamtfazit ist zu sagen: Rolin behandelt die kontrovers und vielschichtig diskutierten Fragen nach den legitimen Grundlagen und Grenzen des Staates und seiner Herrschaft überaus kenntnisreich. Dem Verfasser ist ein lückenfüllendes, spannendes und gut nachvollziehbares Werk gelungen, das zugleich die teils verdeckten naturrechtlichen und rechtsphilosophischen Fundamente unseres Rechts- und Verfassungsstaatsdenkens besser auszuleuchten hilft.
Hamburg Hannes
Rösler
[1] Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation: Politische Essays, Frankfurt am Main 1998.
[2] Inwieweit die E(W)G etwa mit dem deutschen Zollverein, der am 1. Januar 1834 in Kraft trat, vergleichbar ist, bleibt umstritten; dazu Rösler, Ökonomische und politische Integrationskonzeptionen im Wettstreit – Zum Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vor fünfzig Jahren, EuR 2005, 370, 375.