Fried, Johannes, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. Beck, München 2004. 509 S.
Beginnen wir in medias res: Erinnerung, so die Kernthese des hier anzuzeigenden Buches, sei stets Gegenwart, nie Vergangenheit; sie sei Schöpfung, Konstrukt (S. 105). Es geht bei derartigen Konstrukten indessen nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, um bewusste Manipulationen, also keine Fälschungen im Kleinen wie im Großen, etwa die paar Quadratmeter mehr, die einem Kloster zugeschrieben wurden, die sumpfigen Wiesen, die brachliegenden Äcker. Und auch nicht – auf einer ganz anderen Ebene – um das Gebäude des Constitutum Constantini (zumindest nicht primär; vgl. S. 365) mit der sagenhaften Herrschaft des pontifex über Rom, den Westen, das Abendland. Oder, ganz ähnlich gestrickt, den Flickenteppich der pseudoisidorischen Dekretalen, dieses gigantischen Betrugswerks, in den Geheimnissen seiner Entstehung bis um die zweite Jahrtausendwende unenthüllt...
Nein, das alles nicht, und für was immer mehr das Mittelalter, jene erstaunliche „Zeit der Fälschungen“ (H. Fuhrmann), stehen mag. Nicht um Betrüger und Betrugsabsichten – wie ‚frommen’ Ursprungs auch immer – , geht es, sondern um weitgehend unbewusste Deformierungen der menschlichen Gedächtnisleistung, ausgelöst durch die ständige Modulationsbereitschaft und -fähigkeit des Gehirns. Es geht um die oftmals radikalen Veränderungen, die zwischen einem tatsächlichen Hergang und seiner späteren Wiedergabe durch das was wir – trotz aller generationenlang eingeübter Kritik sicherlich oft ein wenig naiv und die Konsequenzen einer schwierigen Metapher nicht immer angemessen berücksichtigend – „Quelle“ nennen, stattfinden. Dabei spielt die zeitliche Distanz, die zwischen Hergang und Wiedergabe liegt, überraschenderweise häufig gar keine Rolle. Ob 20 Jahre, zehn Jahre oder gestern, das macht in der Sache oftmals keinen Unterschied. Auch frischeste Notate – das hier zu besprechende Buch versteht es anschaulich zu zeigen (S. 36) – produzieren immer wieder gravierende Abirrungen von der Wirklichkeit. Ist man selbst als Augenzeuge, der sofort berichtet, überhaupt „dabei“ gewesen? Jeder Polizeibericht kennt das Problem.
Keine Frage, dass solcherart Feststellungen, problematisiert durch den Frankfurter Mittelalterhistoriker Johannes Fried in seinem neuesten opus magnum, bei einer Wissenschaft wie Geschichte, die so sehr aus der Erinnerung lebt, ja die nur durch Erinnerung lebt, die in der Erinnerung lebt, die Erinnerung ist, nicht ohne Konsequenzen bleiben kann. Und der Konsequenzen sind, nach Fried, viele – weit mehr jedenfalls als sich der um Fragen von ‚Glaubwürdigkeit’, ‚Abhängigkeit’, ‚Tendenz’ und ‚Richtigkeit’ der Quellen bemühte Teil unserer Proseminare je eingestanden hat. Es geht vielmehr, so der Autor im Vorwort, um die Grundlagen einer kulturellen Gedächtnistheorie, um die ‚Grundzüge’ – und nur diese will das 500 Seiten starke Werk seiner Intention nach bieten – einer historischen „Memorik“.
Das Buch ist eingeteilt in zehn Großabschnitte. Der erste Abschnitt („Vier Fälle“) dokumentiert anhand von vier Beispielen die „erschreckende Unzuverlässigkeit und Fehlerhaftigkeit“ aller menschlicher Erinnerungen (S. 46). Allesamt sind diese Beispiele nicht Frieds eigentlichem Metier, der mittelalterlichen Geschichte, entlehnt, sondern dem 19. und 20. Jahrhundert: angefangen von Philipp von Eulenburgs Erinnerungen über die Umstände des Todes des bayerischen Königs Ludwigs II. bis zu den Aussagen des Präsidenten-Beraters John Dean im berühmt-berüchtigten Watergate-Skandal. Es handelt sich eben, wie Fried durchweg betont, um ein die komplette Geschichtswissenschaft betreffendes Phänomen, auch wenn die quellenarmen Zeiten Antike und frühes Mittelalter besonders im Blickpunkt stünden.
Das dritte Kapitel („Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft“) besitzt für Frieds gesamte weitere Ausführungen den Charakter eines Fundaments. Es ist weitgehend Neuland, was hier beschritten wird, auch wenn in Frieds jüngeren Arbeiten so manches, was hier ausführlich entfaltet wird, bereits anklang und schon dort für Furore gesorgt hat (J. Fried, Die Aktualität des Mittelalters. Gegen die Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft, 3. Aufl. Stuttgart 2003). Indem Fried eine regelrechte Evolutionsgeschichte des Gedächtnisses bietet, indem er neueste Erkenntnisse von Neurobiologie und Neuropsychologie über Arbeitsweisen des menschlichen Gedächtnisses vorstellt und dies alles schließlich in „Ergebnisse und Folgerungen für die geschichtswissenschaftliche Praxis“ einmünden lässt, werden hier Geschichtswissenschaft und moderne Gedächtnisforschung, ja Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft zusammengefügt wie kaum je zuvor.
Wie Fried in seinem Buch arbeitet, welche Schlüsse er mit seinem neuen Blick auf die Quellen zieht, das kann man vielleicht nirgends so gut erkennen, wie in dem Abschnitt „Venedigs Sieg über Friedrich Barbarossa“, dem zentralen Part in dem vierten Abschnitt des Buches („Zwischen Hirn und Geschichte: Implantierte Erinnerungen“). Venezianische Quellen (und später nicht nur diese) berichten von einer siegreichen Seeschlacht der Markusrepublik gegen die kaiserliche Flotte Friedrich Barbarossas, stattgefunden am Himmelfahrtstag 1177. In seiner Folge wurde der Kaisersohn, der die Flotte befehligte, vom Dogen gefangengenommen und vor den Papst, der sich dem Schutz der Lagunenstadt anvertraut hatte, geführt. In entehrender Form musste sich Barbarossa dem Papst unterwerfen. Diesen „Sieg“ und die mit ihm verknüpfte Demütigung des römischen Kaisers aber hat es nie gegeben. Er ist eine „Mythe“, er wurde dem Gedächtnis der Serenissima „implantiert“ (S. 161). Was es allerdings gab, das war etwas anderes: einen umfassenden Frieden von Venedig zwischen Kaiser- und Papst 1177 als zentralen Bezugspunkt aller späteren „Implantationen“. Er korrespondierte mit der Notwendigkeit, die Folgen, die Kritik und die Skrupel eines mittlerweile höchst umstrittenen Sieges zu kaschieren, nämlich der Eroberung und Plünderung Konstantinopels 1204 im Zeichen des Kreuzes, unter der Ägide des Dogen Enrico Dandolo. Nur so kam es zum Sieg in der Seeschlacht von 1177, mit allen Folgewirkungen für das kulturelle Gedächtnis der Stadt.
Ein solches „Implantieren“ von Erinnerungen geht, nach Fried, mit deren Auslöschen, Verdrängen, Vergessen und Tabuisieren einher: Der Versuch einer (mit K. Görich auch von Fried für wahrscheinlich gehaltenen) Heiligsprechung Karls des Großen durch Otto III. um das Jahr 1000 beispielsweise sei ein solcher Fall. Nach der Kritik, die die Zeitgenossen am Vorgang der ungeheuerlichen Aachener Grabesöffnung übten, verfiel dieser Versuch dem Vergessen. Bis zu Barbarossa (der mit Hilfe ‚seines’ Papstes die Heiligsprechung in die Tat umsetzte) war dann keine Spur mehr von einem heiligen Kaiser Karl zu finden – nach Fried eine „wirksame Inversion im kulturellen der Gedächtnis der Deutschen“ (S. 169).
Untermauert von Dutzenden von Einzelbeispielen entfaltet Fried in den folgenden Abschnitten in geradezu epischer Breite seine Thesen weiter, den Grundgedanken von den ewigwährenden Verformungskräften des kulturellen Gedächtnisses, den ständig fließenden Erinnerungen und den fortgesetzten Neuschöpfungen immer weiter ausdifferenzierend. Dabei stehen im Hauptabschnitt V („Wie zuverlässig sind Erinnerungen? Das Mittelalter als Untersuchungsfeld“) die Erinnerungsfähigkeiten zunächst von Prozesszeugen, dann aber auch von Verwandten auf dem Prüfstand, wobei Fried, auch bei um ihre Gedächtnisleistungen ‚berühmten’ Zeugen (wie etwa Thietmar von Merseburg), zu vielfach deprimierenden Ergebnissen kommt.
In den beiden folgenden Großabschnitten („Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I: Erfahrungen der Ethnologie“ und „Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II: Erfahrungen der Mediävistik“) erneuert Fried im Kern seine Kritik an mündlichen Überlieferungen wie er sie bereits vor geraumer Zeit an einem Einzelproblem aus dem frühen 10. Jahrhundert erörtert hat (vgl. Johannes Fried, Die Königserhebung Heinrichs I. Erinnerung, Mündlichkeit und Traditionsbildung im 10. Jahrhundert, in: Mittelalterforschung nach der Wende 1989, Historische Zeitschrift, Beihefte, N.F. 20, München 1995, S. 267-318). Auch in diesem Abschnitt spielt der Begriff des „Implantats“ wiederum eine wesentliche Rolle. Die ‚reale’ Erniedrigung Friedrichs vor Alexander III. 1177 und diejenige Heinrichs des Löwen vor Barbarossa aufnehmend, sei die Geschichte vom berühmten Kniefall des Kaisers vor seinem Vetter 1176 in Chiavenna mit der Bitte um Hilfe im kaiserlichen Kampf gegen den Lombardenbund, als „realitätsfernes, inversives, fremdes Geschehen“ einzustufen (S. 253). „Inversiv“ insofern als die zwei Jahrzehnte nach dem „Löwensturz“ (1180) einsetzenden Quellen den sündhaften Hochmut des Herzogs spiegelten und damit dessen politisches Ende mit einer Mächte-Neuverteilung im Reich ohnegleichen legitimieren wollten.
Doch zum Ganzen: Gewiss – auf einem weithin sichtbaren, freien Feld ist hier ein Versuchsballon gestartet worden, von dem niemand weiß, wann und wo er landen wird; das Schicksal aller, die einen ersten Schritt wagen... Soviel jedoch scheint nach der ersten, weit über die Fachgrenzen hinausgehenden Resonanz auf dieses Buch (vgl. nur Michael Hagner, Primärverformung. Johannes Fried über die Historie als neuronales Netzwerk, Süddeutsche Zeitung Nr. 278, 30. 11. 2004) sicher: Man wird kaum umhinkönnen, die ‚Flugbahnen’ dieses Ballons weiter zu beobachten.
Und sicher scheint auch: Ebenso viele Informationen, die, in den teilweise schockierenden Interpretationen Frieds als bloße Konstrukte entlarvt, vor unseren Augen hinwegschmelzen, treten auf einer anderen Ebene neu hinzu. In großer Eindringlichkeit wird dies im vorletzten Kapitel des Buches („Gedächtnis in der Kritik: Chlodwigs Taufe und Benedikts Leben“) dargelegt. Auch wenn in der durch Fried vorgenommenen radikalen Kritik am Bericht Gregors von Tours über des Frankenkönigs Chlodwig Taufe um 500 so gut wie nichts von dem stehen bleibt, was bisher in den Handbüchern über den Vorgang zu finden war; und auch wenn die Gestalt des abendländischen Mönchsvaters Benedikt von Nursia für Fried (zumindest für den Augenblick) nicht mehr zu sein scheint als „ein Mythos, eine fromme Legende, ein Phantom, vielleicht eine Projektion, ein Produkt einer erbaulichen Geschichte“ (S. 356), sei, so Fried, doch kein Verlust zu beklagen. Vielmehr sei ein anderes Geschehen zu erkennen als jenes, das in beiden Fällen bisher postuliert worden sei (S. 356). Dieses „andere Geschehen“ aber wäre, wie man wohl zu folgern hat, die Antwort auf die Frage: Wann, von wem und aufgrund welcher Umstände und Erfordernisse, sind diese Bilder so zusammengefügt gefügt worden wie sie zusammengefügt worden sind?
Sir Walter Raleigh, so wird berichtet, habe den zweiten Teil seiner „Weltgeschichte“ im Londoner Tower geschrieben. Eines Tages habe er, von seinem düsteren Verwahrungsort aus, eine Rauferei auf der Straße beobachtet. Kurz darauf besuchte ihn ein Freund, der neben den Prügelnden gestanden hatte. Er schilderte die Vorgänge ganz anders als der Admiral sie wahrgenommen hatte. Da warf Raleigh sein Manuskript ins Feuer...
Das aber war falsch, grundfalsch sogar. Denn eine „Kapitulation vor der Geschichte“ (H. Heimpel) ist dem Historiker nicht erlaubt. Sie muss auch nicht sein, wie schwierig die Voraussetzungen auch sind. Man muss nur andere Fragen an sie stellen. Eine andere Wahl haben wir nicht.
Mannheim Jörg
Schwarz