Hilger, Christian, Rechtsstaatsbegriffe im Dritten
Reich. Eine Strukturanalyse (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20.
Jahrhunderts 39). Mohr (Siebeck), Tübingen 2003. XIV, 249 S.
Christian Hilgers Dissertation widmet
sich einem Thema, das aus mehreren Perspektiven viel versprechend sein könnte.
Der Begriff des „Rechtsstaats“ spiegelt Vorstellungen über das richtige
Verhältnis von Staatlichkeit und Recht, das von jeder Epoche aufs Neue
festgelegt wird. Er stellt insofern eine Art juristischen Grundbegriff im
weiten Feld der politisch-sozialen Sprache dar. Daher ist es auch wenig
erstaunlich, dass es seit seiner Ausbreitung zu Beginn des 19. Jahrhunderts im
Kontext des Frühliberalismus immer wieder Versuche gab, dieses semantische Feld
neu zu besetzen. Bemerkenswerter ist schon die Tatsache, dass gerade im
Unrechtsstaat par excellence, der NS-Diktatur, in den Anfangsjahren eine
intensive Diskussion um den „Rechtsstaat“ stattfand. Auch Hilger notiert die
einschlägigen realgeschichtlichen Stichworte und verweist schon zu Beginn
seines Buches darauf, dass die Zeit gekennzeichnet war von „zahlreichen
Rechtsbrüchen, staatlichen Mordaktionen, illegalen Verhaftungen, dem
Straßenterror der SA, rechtswidrigen Entlassungen, Vertreibungen und der
Errichtung der ersten Konzentrationlager“ (S. 2).
Die Motive jenes zur historischen
Realität nur scheinbar gegenläufigen Disputs werden von Hilger unter Rückgriff
auf die Forschungen von Michael Stolleis klar skizziert (S. 2): Im
Rechtsstaats-Streit zwischen 1933 und 1935/36 verdichteten sich programmatisch die
Richtungsstreitigkeiten und Selbstbehauptungswünsche zwischen überzeugten
Nationalkonservativen, radikalen NS-Revolutionären und wiederum denjenigen
Nationalsozialisten, die die bürgerlichen Eliten wenigstens mit
Lippenbekenntnissen für ihre Sache gewinnen wollten. Während teilweise noch an rechtlichen
Grundprinzipien von staatlicher Ordnung festgehalten werden sollte,
präferierten andere Stimmen bereits auf der sprachlichen Ebene eine Loslösung
von den bisherigen Traditionen: statt „nationalsozialistischer Rechtsstaat“
lieber „völkischer Führerstaat“. Es war ein politischer Richtungsstreit, dem
man nur auf die Spur kommt, wenn man die situationsgebundenen Stellungnahmen exakt
vor den jeweiligen biografischen und politischen Hintergründen auslegt. Umso weniger
plausibel erscheint dann allerdings dem Leser die Methode, die Hilger für seine
Untersuchung wählt, und umso enttäuschender sind am Ende seine Ergebnisse.
Hilgers Buch basiert auf einem
sinnvoll ausgewählten Ensemble von Quellen. Herangezogen wurden nur solche
Texte, in denen das Wort „Rechtsstaat“ erscheint und die darüber hinaus
implizite Begriffsbestimmungen vornehmen. Demgegenüber schieden bloß
„sporadische oder rein plakative Erwähnungen“ aus, ebenso Texte, die das Wort
nicht enthalten, „obwohl sie offensichtlich an Inhalte der überkommenen
Rechtsstaatsbegriffe anknüpfen“ (S. 5). In der Konsequenz gelangt Hilger damit
zu einer handhabbaren Zahl von Texten, die überwiegend aus dem Bereich des
Staats- und Verwaltungsrechts kommen und die sämtlich einen politischen
Einschlag haben. Auch die Gewichtung bei den Autoren scheint noch vertretbar:
Viel Raum erhalten jene Beiträge, zumal wenn sie von maßgeblichen Juristen wie Otto
Koellreutter (S. 33-73), aber auch Carl Schmitt (S. 93-107) verfasst
wurden, die auch inhaltlich einige Substanz zu bieten haben; immer noch sehr
ausführlich werden aber auch die Entwürfe von weniger prominenten Autoren wie Otto
von Schweinichen (S. 119-129; Register ist unzuverlässig!) oder Kurt Groß-Fengels
dargestellt (S. 178-196).
Dass der Leser mit zunehmender
Lektüre Missvergnügen empfindet, liegt nicht nur am Sprachstil der Arbeit,
sondern vor allem an ihrer Methode und ihrer letztlich unklaren
Forschungsfrage. Unvertretbar scheint allerdings – vorab gesagt – der von
Hilger verwendete Terminus „Hitlerreich“ (S. 69) als Synonym für die NS-Zeit.
Er ist im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit aus guten Gründen unüblich, da
er eine Personalisierung der Herrschaft suggeriert, die unangemessen ist. Zwar
hat auch die Epochen(selbst-)bezeichnung „Drittes Reich“ ihre hochideologischen
Aspekte[1] und wäre allemal als Forschungsbegriff einer
Überprüfung wert, jedoch ist sie momentan zumindest teilweise noch wissenschaftlicher
Brauch. Weniger punktuell, sondern das ganze Buch durchdringend, ist die zu sehr
referierende Darstellungsweise des Autors. Über Seiten hinweg werden die
Inhalte bestimmter Quellen recht positivistisch wiedergegeben. Dem stehen
vergleichsweise kurze Analysen der Quellen gegenüber, die oft gerade nicht so
ins Detail gehen, wie es sich angesichts der facettenreichen Aussagen von
Hilgers Gewährsleuten doch angeboten hätte. Eine Auseinandersetzung mit
bisherigen rechtshistorischen oder rechtstheoretischen Forschungen sucht man in
diesen Passagen über weite Strecken vergebens. Und dort, wo Hilger zu einer
eigenen Analyse der Quellen ansetzt, kommt zudem noch ein besonders dunkler und
unanschaulicher Sprachduktus zur Geltung, der nicht geeignet ist, Hilgers theoretisches
Anliegen zu verdeutlichen.
Dieses Anliegen Hilgers ist
laut Untertitel des Buches eigentlich „eine strukturelle Analyse“ der
Rechtsstaatsbegriffe zwischen 1933 und 1945. Dieser Versuch einer Strukturierung
bildet sich in den drei Hauptkapiteln ab. Alle drei nehmen Bezug auf einen
ideengeschichtlichen Fixpunkt außerhalb der NS-Zeit, nämlich auf die
„rechtsstaatsbegriffliche Tradition“ bzw. den „bürgerlich-liberalen
Rechtsstaatsbegriff“. Je nachdem, wie genau die NS-Autoren sich zu diesem
Konstrukt inhaltlich positionierten, werden sie bei Hilger verortet. Da
sämtliche Autorengruppen ihn mehr oder minder ablehnen, bildet somit ein
Gegenbegriff den heuristischen Ausgangspunkt von Hilgers Untersuchung.
Natürlich ist dieser bürgerlich-liberale Gegenbegriff ein historisches
Konstrukt der NS-Autoren; dennoch oder gerade deshalb hätte Hilger hier mit
einer Differenzierung in Form eines historischen Rückblicks ins 19. Jahrhundert
deutlich machen können, dass bereits darin eine polemische Vereinfachung lag.
Aus dem Verhältnis der
NS-Rechtsstaatsbegriffe zum genannten „bürgerlich-liberalen“ Gegenbegriff leitet
Hilger seine Unterteilung in drei Kapitel ab. Im ersten und einleitenden,
betitelt als „Sichtweise, Bruch und Weiterführung rechtsstaatsbegrifflicher
Traditionen“ (S. 12-78) geht es um eine erste Auffächerung der verschiedenen
NS-Rechtsstaatsbegriffe sowie um das NS-Geschichtsbild. Daran schließen sich
die Kapitel zwei und drei an. Sie werden in Partizipialkonstruktionen ebenso umständlich
wie missglückt betitelt als „Die weitgehend unabhängig von den Strukturen des ‚bürgerlich-liberalen’
Rechtsstaatsbegriffs gebildeten Begriffe“ (S. 78-129) und „Die weitgehend in
Abhängigkeit von den Strukturen des ‚bürgerlich-liberalen’ Rechtsstaatsbegriffs
entwickelten Begriffe“ (S. 130-196). Der Schluss des Buches handelt vom
„Spektrum der Rechtsstaatsbegriffe“ (S. 197-231).
Von einem in der Arbeit nicht offen
gelegten Referenzpunkt aus beurteilt, werden somit die Positionen der Autoren zu
Gruppen organisiert. Diese Gruppierung ist in der Tat „strukturell“, erscheint
dem Leser aber nicht besonders plausibel, da das Vorgehen weder als Programm
einleuchtet noch in seiner Durchführung greifbare Ergebnisse zutage fördert. Ursache
dieses Vermittlungsproblems ist das fragwürdige methodische Bekenntnis Hilgers:
Obwohl Hilger zu Anfang des Buches klar das historische Motiv des Disputs und
seine Zeitgebundenheit um den Rechtsstreits benennt, blendet er es in seiner
eigenen Untersuchung absichtlich aus. Ausgerechnet die Motive und Kontexte der
länglich zitierten Stellungnahmen sollen vorsätzlich unberücksichtigt bleiben:
„Dazu gehört nicht nur der gesamtpolitische, sondern auch der akademische
Kontext der hier untersuchten Texte“ (S. 9). Analysiert werden die Texte demnach
– so Hilger ausdrücklich – „unter weitgehender Ausblendung der
historisch-politischen Bedingungen“ (S. 10). Mit anderen Worten: Die
Systematisierung der Begriffe kommt ganz ohne eine Historisierung aus. Das
macht Hilger sehr konsequent und verzichtet eben auch bei seinen Gewährsleuten
aus der zweiten und dritten Reihe auf Biografika. Auch die sonstige historische
Landschaft wird nicht ausgeleuchtet. Um Rechtsgeschichte kann es also nicht
gehen. Andererseits will Hilger nach eigener Auskunft wiederum auch keine
rechtsphilosophische Arbeit schreiben, noch gar für rechtspolitische Argumentationen
einen geschichtlichen Befund zur Verfügung stellen (S. 4). So gelangt das Buch
in der Tat zu dem angekündigten „deskriptiven Ansatz“ (S. 5), der in seiner fehlenden
Fokussierung kaum mehr leistet, als das aus den Quellen zu zitieren oder im
Konjunktiv zu referieren, was Hilger richtigerweise als wesentliche Fundstellen
des Disputs identifiziert hat.
Die zu Beginn des Schlussteils gestellte
Frage nach „Eigenständigkeit“ bzw. „Innovationsleistung“ der NS-Juristen (S. 197ff.
) resümiert nochmals die in den Hauptteilen der Arbeit gewonnene Gruppierung
der Autoren. Danach folgt eine kompliziert aufgebaute Prüfung, wie sich die
Rechtsstaatsbegriffe zum Staatsbegriff verhalten und inwieweit ihnen
überpositive Rechtsbegriffe zugrunde gelegt wurden. Diese durchaus bekannten
Einzelelemente werden mit weiteren Prinzipien des NS-Rechts- und Staatsdenkens
kombiniert. Am Ende wirft Hilger die Frage auf, welche „legitimierenden
Funktionen“ durch die untersuchten Rechtsstaatsbegriffe hätten erfüllt werden
können (S. 223). Es entbehrt nicht einer gewissen Kuriosität, dass Hilger scheinbar
erst auf diese Weise herausfindet, was selbstverständlich der historische
Kontext ihrer Genese war: Legitimierung der nationalsozialistischen
Machtergreifung, Verteidigung der Röhm-Morde, Rechtfertigung der Gesetzgebung
der Reichsregierung Hitler und überhaupt eine Bemäntelung jenes prinzipiell
normfeindlichen Dezisionismus der NS-Machthaber (S. 225-230). Dass ihnen
hierbei ein überpositives Wert- und Wirklichkeitsverständnis in die Hände
spielte (S. 230), ist rechtstheoretisch gut erforscht.
Frankfurt
am Main Miloš
Vec
[1] Hermann Butzer, Das „Dritte Reich“ im Dritten Reich. Der Topos „Drittes Reich“ in der nationalsozialistischen Ideologie und Staatslehre, in: Der Staat 42 (2003), S. 600-627. Gábor Hamza, Die Idee des „Dritten Reichs“ im deutschen philosophischen und politischen Denken des 20. Jahrhunderts, in: ZRG Germ. Abt. 118 (2001), S. 321-336.