Wechselseitige Beeinflussungen und Rezeptionen von Recht und Philosophie in Deutschland und Frankreich. Influences et réceptions mutuelles du droit et de la philosophie en France et en Allemagne, hg. v. Kervégan, Jean-François/Mohnhaupt, Heinz (= Ius Commune Sonderheft 144). Klostermann, Frankfurt am Main 2001. X, 498 S.

 

 

Schon zum dritten Mal haben der französische Philosoph Jean-François Kervégan von der Pariser Panthéon-Sorbonne Universität und der Rechtshistoriker Heinz Mohnhaupt vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte ein zweisprachiges Symposion zur Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie durchgeführt. Nun liegt auch dessen Ergebnis in der Reihe der Sonderhefte des Ius Commune vor. Der Band vereinigt fünfzehn Beiträge (davon neun in französischer Sprache) von je sieben französischen und deutschen Wissenschaftern sowie eines Westschweizers.

 

Vier Themenschwerpunkte sollten – gemäss Vorwort – die Aufsätze bündeln: 1. Die unterschiedliche Wahrnehmung und Rezeption von Rechtsinstitutionen und -instituten in beiden Ländern, 2. die abnehmende Fähigkeit zum Dialog unter den Vertretern des geltenden Rechts im Verhältnis zu der heute politisch beschworenen europäischen Kultureinheit, 3. der «bricolage» im Austauschvorgang von Mitteilungen über Recht zwischen Absender und Empfänger und 4. die linguistisch-politische Dimension unserer dogmatischen Begriffe. Vor diesem Hintergrund schien sich die Möglichkeit anzubieten, die Beiträge vergleichend nach ihrem programmatischen Ansatz abzuhandeln. Doch die genauere Lektüre zeigte, dass die Themen der wechselseitig rezipierten Kultureinheiten sowie der gegenseitigen Wahrnehmung von Instituten bzw. Institutionen dominieren, wogegen der analytische Aspekt der linguistisch-politischen Sprachdifferenz eher beiläufig erwähnt wird und die Thematik der «bricolage» im Hintergrund bleibt. Die vorliegende Besprechung folgt daher nicht dem programmatischen Ansatz des Vorworts, sondern handelt die Aufsätze seriell ab mit dem Ziel, aus der Wahrnehmungsdifferenz vergleichbarer Phänomene zweier Sprachkulturen selbst Erkenntnisse zu gewinnen, wie Beaud erläutert (451). Von daher ergibt sich die nachstehende Revue.

 

Am breitesten deckt der ebenso differenzierte wie klar strukturierte Beitrag von Heinz Mohnhaupt „Einfluss, Wirkung und Funktion von deutschen Übersetzungen französischer Schriften in Deutschland“ (1–41) die eigenen methodologischen Forderungen, insbesondere auch zum Problemfeld der bricolage ab. Zutreffend erfasst er die Kultur im Austauschprozess der Nationen als einen wechselseitigen Rezeptionsvorgang, der sich als Veränderung des eigenen traditionellen Kommunikationssystems versteht und insofern stets eine besondere Form der Auslegung darstellt, wobei sich nie alle Begriffe übersetzen lassen (2, 8f.). Dies veranschaulicht Mohnhaupt an drei klassischen Rezeptionsthemen zu Bodin, Montesquieu und Sieyès. So rezipiert die deutsche Staatsrechtstheorie den Souveränitätsbegriff Bodins aus ihrem engen polizeiwissenschaftlichen Blickwinkel des Verhältnisses von Obrigkeit und Untertanen als Ausdruck der absoluten Staatsgewalt der Fürsten, und die öffentliche Sache (res publica) der Bürger wird gleichzeitig zum befehlsgewaltigen Regiment. Bodin hingegen verstand die oberste Hierarchiestufe im postaristotelischen Konzept gerade als gegen den Machtstaat eines Machiavelli gerichtet (22–25). Während Montesquieus Begriff des esprit der deutschen Rechtsliteratur des 18. Jahrhunderts erhebliche Übersetzungsprobleme bereitete (27), wurde er im 19. Jahrhundert zwar gegen den Text gelesen, aber unter dem liberalen Aspekt der Gewaltenteilung geläufig (30, 32) und blieb es bis auf den heutigen Tag auch. Nicht Unähnliches widerfuhr Sieyès (38f.): Seine politisch-revolutionäre Kampfschrift gegen die Adels-Privilegien im Sinn des Revolutionsgeistes wurde in der eingedeutschten Fassung verharmlost, als ob er über „Vorrechte” mit bürgerlichen Bügelfalten geschrieben hätte.

 

Der Aufsatz Michel Senellarts über „Censure et gouvernement chez les théoriciens de l’Etat moderne en France et Allemagne (XVIe–XVIIIe siècles)“ (43–68) schliesst hier an und veranschaulicht die unterschiedlichen Auffassungen des Instituts der censure von Jean Bodin in Frankreich und Georg Obrecht (1547–1612) in Deutschland. Während der census nach antikem Verständnis ein finanzpolitisches Bewertungsprinzip für private Güter war und durch Bodin in der Weise auch verwendet wurde (45), fungiert er in der Bodin-Rezeption bei Obrecht als staatspolitisches Axiom der Polizeiwissenschaft zur Rationalisierung des Staats (50): Der census wird zum politischen Integrationsfaktor eines autoritären Systems, das sich als Verwaltungsorganisation seiner Untertanen versteht, wogegen im republikanischen Verständnis der Monarchie nach Bodin der census ein Instrument zur Förderung der Staats-Harmonie ist (58f.). Mit der Reflexion auf die «öffentliche Meinung» wird schließlich die Funktion des census bei Rousseau vollends gebrochen (60ff.).

 

Auch der Text Klaus Malettkes über „La Perception de la ,supériorité territoriale‘ et de la ‚souveraineté‘ des princes d’Empire en France au XVIIe siècle“ (69–89) thematisiert die unterschiedliche Bodin-Rezeption. Das differierende Verständnis des Souveränitätsbegriffs der Deutschen und Franzosen zeitigte konkrete politische Folgen bei zwei Friedensabschlüssen im 17. Jahrhundert und führte unter anderem zu jener Konfusion, wie wir sie von Pufendorfs Charakterisierung des Reichs als „Monstrum“ her kennen (79–85). Diese Einschätzung beruhte auf der Selbst-Wahrnehmung des Reichs gemäß deutscher Tradition, eine Monarchie im klassischen Sinn zu sein – Bodin dagegen hatte das Reich immer als eine Form der Aristokratie aufgefasst.

 

Diese drei Beiträge verdeutlichen vor allem die Schwierigkeiten der deutschen Reichs- und Staatstheoretiker mit der neuen aus Frankreich stammenden Begriffs- und Vorstellungswelt, insbesondere mit Bodins republikanischer Souveränitätsidee, die kaum je richtig erfasst wurde. Eigenständig zeigt sich der deutsche Horizont in Sachen Rechtsphilosophie erstmals seit der Aufklärung.

 

Ein solch luizides Moment der deutschen Philosophiegeschichte stellt Kants Begriff der Autonomie der intelligiblen Person dar. Reinhard Brandt (91–118) erläutert in seinem Beitrag über „Rousseau und Kant“, wie Kant von der angelsächsischen naturalistischen Anthropologie beeinflusst nach 1762 über Rousseaus Freiheitsbegriff den Gedanken der „autonomen Person“ formuliert. Dieser Entwicklungsschritt gelingt Kant dialektisch aus der Antinomie des Deismus’ eines Locke und im bewussten Gegensatz zum – so Brandt – „Kulissenwort“ der Natur, wie es Rousseau verwendet (101). Kant löst diese Antinomie im Sinn seiner kritischen Theorie der praktischen Vernunft durch den bekannten handlungstheoretischen Formalismus eines Gesetzgebungsverfahrens (104). Durch den Rückgriff auf den Intellekt sichert er die Funktionen von Staat und Recht gegenüber dem in der Neuzeit eingeführten Voluntarismus rational ab (115). Bedauerlich ist nur, dass Brandt die epistemologischen Voraussetzungen hierfür nicht klärt, sie nicht einmal durch eine Verweisung erwähnt (117).

 

Doch sein Beitrag bereitet auf den wohl gewichtigsten Aufsatz dieses Sammelbandes von Jean-François Kervégan über „Tocqueville und Hegel“ (118–141) vor. Zwar gibt es zwischen Hegel und Tocqueville weder eine persönliche noch eine zitatmässig feststellbare Verbindung, die die Autoren unter sich selbst hergestellt hätten. Hinzu kommen die zahlreichen (insbesondere deutschen) Sekundärliteraturprodukte nach dem zweiten Weltkrieg, die Hegel als einen Gegner von Gleichheit, Freiheit und Demokratie darstellen, Tocqueville dagegen als Koryphäe des Liberalismus feiern. Wie Kervégan die Deutschen belehrt, ist dies ebenso unwahr wie ungerecht, ja sogar „imprudent“ (131). Er zeigt, dass und wie beide Autoren in der post-revolutionären Zeit die „Demokratie“ zwar als das Ziel der modernen Gesellschaft sehen, gleichzeitig aber auch die Gefahren der modernen Massendemokratie erkennen, nachdem die traditionelle Legitimation von politischer Herrschaft in der frühen Neuzeit zu einem reinen Immanenzproblem geworden ist und über den Souveränitätsbegriff eines sozialen Volkskörpers als Ausdruck real-politischer Macht dargestellt wird (128ff.). Tocqueville erkannte und analysierte diese Problematik mit Bezug auf das Pariser Terrorregime von 1793/94 und auf die Verkehrung des revolutionären Gleichheitspostulats zur Zeit der napoleonischen Diktatur. In der Nachfolge von Rousseau und den US-Federalists wollte er die Gleichheit durch eine Begrenzung der Freiheit sichern und gestaltete deshalb die Volkssouveränität als Repräsentationssystem aus. Dagegen sah Hegel in einer repräsentativen Demokratie gerade keine angemessene Antwort auf die Frage nach der richtigen Balance von Gleichheit und Freiheit. Diese Ideen seien zu abstrakt und würden die Zivilgesellschaft durch sozio-ökonomische Differenzen real unterlaufen. Nach Hegel muss alle Freiheit im bzw. durch den Rechtsstaat „objektiviert“ werden, weil soziale Gleichheit letztlich auf der politischen Freiheit beruht, die durch den effizienten Rechtsstaat gesichert wird (132f.). Meines Erachtens zutreffend bezeichnet Kervégan Tocqueville als Demokraten aus Vernunft, der jeglicher Zentralisation der Staatsgewalt abhold ist, Hegel dagegen als Verteidiger einer liberalen Monarchie und eines funktionierenden Beamtenstaates zur Realisierung der individuellen Freiheit (135f., 140).

 

Mit Joachim Rückerts Text über den „Code Civil, Code Napoléon und Savigny“ (143–176) gelangen wir wieder auf rechtshistorisches Terrain. Rückert berichtet – wie schon auf dem Jenaer Rechtshistorikertag 2000 – über neu entdeckte Quellenfragmente aus dem Nachlass Savignys, aufgrund derer das bisherige Bild von Savignys Urteil über den Code Civil zu differenzieren sei (144ff., 150ff.). Das in seiner Schrift über den „Beruf“ (1814) eingeführte operative Strategem „politisch-technisch“ verwendet Savigny auch bei der Beurteilung des Code Civil (163–69). Dass er dadurch zum Verteidiger der Rechtssicherheit und im Gegensatz zu Thibaut zum Liberalen avanciert, halte ich indessen für einen unnötigen Rettungsversuch, weil die „eigentliche Unvergänglichkeit“ von Savignys Leistung (175) unabhängig von den Kontroversen längst schon feststeht.

 

Der Savigny-Rezeption in Frankreich widmen sich auch die beiden folgenden Beiträge. Mikhaïl Xifaras veranschaulicht sie am Werk des ebenso originellen wie rhetorisch ausschweifenden ersten Kassationsgerichtspräsidenten des Zweiten Kaiserreichs Raymond Troplong („L’École de l’Exégèse était-elle historique? Le cas de Raymond-Théodore Tropolong [1795–1869], lecteur de Friedrich Carl von Savigny“, 177–209). Troplong war glühender Bonapartist, der an den Code Civil als Basis-Code für andere Länder glaubte. Trotz des Gegensatzes in der Frage der Kodifikation rezipierte er Savigny, wenn auch eklektisch und teilweise missverständlich (186f., 190, 193). Kraft seines hohen nationalen Ansehens machte er Savignys Werk in Frankreich bekannt. Der abschliessende Vergleich zwischen Savigny als Kantianer und Positivisten und Troplong als christlichen Juristen überzeugt mich dagegen weniger (204ff.).

 

Breiter, sehr detailreich, erörtert Jean-Louis Halpérin die Rezeption von Savignys Lehre des internationalen Privatrechts in Frankreich („Les interactions au XIXe siècle entre doctrine allemande et doctrine française en matière de droit international privé“, 211–229). Obwohl der achte Band von Savignys System bereits 1852 – drei Jahre nach Erscheinen – in französischer Übersetzung vorlag, unterblieb bei aller Referenz gegenüber der Persönlichkeit des großen Deutschen zunächst die Rezeption seiner IPR-Lehre. Die Auseinandersetzung begann erst gegen Ende des Jahrhunderts (214ff.), wobei sich zu diesem Zeitpunkt bereits neue Einflüsse aus Deutschland präsentierten, an die angeknüpft werden konnte. So schwenkt der Begründer der Revue générale de droit international, Antoine Pillet, der selber eine bedeutende IPR-Theorie entwickelte, damals schon von Savigny zu Jherings Konzept (217ff.). Und auch Ehrlichs und Zitelmanns Universalismus fand um die Jahrhundertwende Zustimmung (219ff.). Diese Rezeptionen versiegen jedoch mit dem Erlass des Bürgerlichen Gesetzbuchs und dem Beginn des Ersten Weltkriegs (222–29).

 

Gerade im Zusammenhang mit der aktuellen Reform des Jusstudiums nach Bologneser Modell erscheint der Beitrag von Diethelm Klippel und Jan Rolin lesenswert („Französische und deutsche Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jhahrhunderts. Ein bibliographischer Überblick“, 231–57). Die Autoren zeigen nämlich, wie unnütz die Nützlichkeit sein kann, vergleicht man die unterschiedlichen Studiengänge und die Bücherproduktionen im Zusammenhang mit dem Fachbereich der Rechtsphilosophie in Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert. Dem Klischee entsprechend lösten damals der Historismus und Positivismus die Naturrechtsdiskussion in Deutschland ab. Es ist Klippels Verdienst, den Fortbestand von Rechtsphilosophie und Naturrecht im 19. Jahrhundert anhand verschiedener Untersuchungen in den letzten Jahren nachgewiesen zu haben. In Frankreich ist die Lage etwa vergleichbar. Dort versuchte indessen nicht eine prominente akademische Elite die rechtsphilosophische Diskussion zu unterbinden, sondern Napoleon selbst beendete die „reflexive“ Methode im Studium durch ein kaiserliches Dekret, indem er 1804 den Universitäten das „Diktat des Unterrichts“ auf der Basis der cinq codes verordnete (237ff.). (Eine Spätfolge hievon lässt sich in der Schweiz noch spüren: das Jusstudium ist in der Westschweiz nachhaltiger von Frankreich beeinflusst als in der Deutschschweiz.) Der utilitaristische Gesetzespositivismus führte zunächst zu einer Unterdrückung der intellektuellen Diskussion in Frankreich. Auf französischer wie auf deutscher Seite bestand Einigkeit im negativen Urteil über die Auswirkungen der École de l’exégèse, wie sie Napoleon institutionalisiert hatte. Französische Kritiker verwiesen daher immer wieder auf Deutschland als Vorbild, wo die Diskussion im Anschluss an Kant und Hegel noch lebendig war (242ff.) und woran sich zunächst auch eine bescheidene, doch stetig zunehmende Diskussion der Rechtsphilosophie in Frankreich anschloss. Von dieser französischen Diskussion berichtete wiederum Leopold August Warnkönig in der Kritischen Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung zwischen 1829 und 1838 regelmäßig (247ff.), was zeitweilig auch zur Rezeption der neu erwachten französischen Rechtsphilosophie in Deutschland führte (251ff.).

 

Zu den Rezipienten auf deutscher Seite gehörte neben Rotteck und Zachariä insbesondere auch Mittermaier, dessen überragende Vermittlerrolle in Europa Barbara Dölemeyer seit längerem herausarbeitet („K. J. A. Mittermaier und J. J. G. Foelix. Zwei Pole juristischer Kommunikation im 19. Jahrhundert.“, 259–85). Ihr Augenmerk gilt diesmal der Beziehung zu und Korrespondenz mit dem Advokaten am Cour d’Appel in Paris, Jean Jacques Gaspard Foelix, der ursprünglich aus dem Großherzogtum Oldenburg stammte (und ähnlich wie Goethe [= Göthe] seinen Namen öfters noch als Fölix schrieb). Foelix war Herausgeber einer eigenen Revue zur aus- und inländischen Gesetzgebung zwischen 1833–50 (278) und in diesem Zusammenhang suchte und fand er Rat und Unterstützung bei Mittermaier. Beide Juristen waren am gegenseitigen Austausch, aber auch an der Festigung der deutsch-französischen Beziehungen interessiert. Foelix’ herausragendes Engagement wurde übrigens von der Breisgauer Universität Freiburg mit dem Ehrendoktorat gewürdigt (269).

 

Alfred Dufour, der wie gewohnt Eleganz und Präzision in der Darstellung klug zu verbinden weiß (287–328), stellt die Vermittlerrolle Helvetiens, insbesondere von „Genève et la science juridique européenne im Zusammenhang mit den Annales de Législation et de Jurisprudence bzw. d’Economie politique dar. Auch wenn diese Zeitschrift nur vier Jahrgänge (1820–23) aufweist, so vergleicht Dufour ihre Bedeutung mit derjenigen der Bibliothèque Britannique (292) oder der Thémis (328), soweit sie eine internationale Vermittlungsfunktion im Bereich der Grundlagenfächer zur Rechtswissenschaft übernahm (312f.), so dass sie selbst vom sonst zurückhaltenden Savigny zwei Mal positiv erwähnt wurde (291).

 

Der umfangreichste Beitrag stammt aus der Feder von Christoph Bergfeld über die „Aufhebung der Schuldhaft“ (329–78). Seine Untersuchung bezieht neben den deutsch-französischen auch die englischen Verhältnisse mit ein. Die Schuldhaft ist ein Relikt aus der Zeit vor der Dichotomie von öffentlichem und privatem Recht (330). Sie ist ein gerichtlich legitimiertes Zwangsmittel des Gläubigers gegen den Schuldner, der nicht leisten will und somit das Recht – etwa auf Herausgabe einer Erbschaft (334) – verweigert. Mit Zunahme der objektiven Leistungsunfähigkeit der Schuldner im 19. Jahrhundert mangels Liquidität verkehrte sich das prozessuale Zwangsmittel zum Strafmittel in privater Hand (347), insbesondere von Hausbesitzern und Herbergswirten (353). Damit erschien auch den Zeitgenossen die Schuldhaft als ein Relikt im Rechtssystem von Individualismus und Liberalismus. So machte Mittermaier bereits 1831 unter Verweisung auf das kanonische Recht den Widerspruch zwischen Personalarrest und Sachschulden geltend (355), und auf dem Deutschen Juristentag 1863 wurde die Nutzlosigkeit der Schuldhaft aus philanthropischen und aufklärerischen Ideen offen kritisiert (374f.). Die Abschaffung der Schuldhaft erfolgte europaweit innert zehn Jahren nach dem Beispiel Frankreichs, das 1867 den Personalarrest abschaffte, gefolgt von den Niederlanden, Österreich, Italien sowie Deutschland (332ff.; zu ergänzen wären hier Zürich 1869 und nach der Revision der Bundesverfassung 1874 auch die Schweiz).

 

Beachtung verdient ebenfalls der Aufsatz von Norbert Waszek über „Lorenz Stein: Propagateur du droit français en Allemagne“ (379–403). Stein wird als einer der Begründer der sozialen Rechtsstaatsidee des 19. Jahrhunderts (380) dargestellt, der in der Nachfolge Hegels stand (396). Im Gegensatz zur Kodifikationsdebatte der Historischen Rechtsschule in Deutschland, die sich vor allem um technische Fragen drehte (391ff., 398, 402), erkannte Stein im Code und nicht in der Verfassung die wahre Antwort auf die zentralen rechtspolitischen Themen der Zeit, die sich gegen den Feudalismus und für die Menschenwürde aussprachen (394f.).

 

Die letzten beiden Texte des Bandes von Herrera und Beaud sind dem 20. Jahrhundert gewidmet. Carlos Miguel Herrera schreibt über den « Socialisme juridique et droit administratif“ (405–44). Es handelt sich um eine ziemlich geschwätzige Abhandlung über das Phänomen des „juristischen Sozialismus“, das durch den Text geistert nach Maßgabe des kläglichen Definitionsversuchs (409): „Le socialisme juridique est un réformisme: l’établissement d’un nouvel ordre se fera par la voie de réformes successives. Le socialisme juridique entend épouser le mouvement propre de l’évolution sociale, et même du droit, puisque le germe du socialisme se trouve déjà dans toutes les institutions juridique“. Im Klartext heißt dies alles und doch nichts, weil alles in sich begrifflich zirkulär bleibt. Herrera präsentiert in der Folge eine Grand’Revue der Märtyrer des sozialistischen Glaubens, in der einige große Namen wie Jaurès, Lassalle und Menger sowie dessen französische Schüler Emanuel Lévy und Maxime Leroy erscheinen. Dann lesen wir von einem vergessenen juristischen Sozialisten namens Charles Andler, der zwar selbst keine Theorie, aber immerhin eine Art Analyse präsentierte, die das Thema kohärent rekonstruiere (411). Doch bevor der Gedankengang konkret entwickelt wird, tritt schon wieder ein neuer Genosse namens André Mater, Jurist aus Belgien und – wohl als Gütezeichen verstanden – zudem ein anti-klerikaler Propagandist, vor einer Entourage von ungefähr zwanzig weiteren Gesinnungsgenossen auf den Plan (412). Mater und sein Werk werden immerhin eingehender – wohl auch in propagandistischer Absicht – dargestellt (414–26). Herrera beschreibt Maters Methodik als programmatischen Versuch zur Durchsetzung des Sozialismus mittels der Methode des juristischen Sozialismus, die darin bestehe „à manipuler le très souple droit bourgeois pour l’adapter au collectivisme“ (415), worin Herrera eine realistische bzw. positivistische Methodik erkennen will, was Mater gerade gegenüber anderen Sozialisten seiner Zeit wie z. B. Anton Menger besonders qualifiziere: Dadurch nämlich erübrigten sich soziale Grundrechte für die Arbeitnehmer, weil das Recht selbst zum politischen Kampfmittel werde (416, 421). Die weiteren zwanzig Seiten sind dem Werk Maurice Haurious und dessen Intention vom politischen Charakter der Institutionen (438) gewidmet, das dieser ebenfalls in kritischer Auseinandersetzung mit Menger (429ff.) entwickelte. Insgesamt sieht der Autor damit den Einfluss des Lebens auf das Recht bestätigt (441) – was auch immer dies heißen mag.

 

Der Sammelband schliesst mit der qualitativ hochwertigen Analyse Olivier Beauds über „René Capitant, analyste lucide et critique du national-socialisme“ (445–98). René Capitant – Sohn des berühmten Henri – war ein engagierter Links-Gaullist und Widerstandskämpfer der ersten Stunde, der sich insbesondere durch seine intellektuelle Klarheit und Redlichkeit in seinen noch unbekannten Beiträgen über den Nationalsozialismus auszeichnet (445–49). Trotz Durchscheinen seiner Aversion gegen das Hitler-Regime behält Capitant die Selbstkontrolle, denn den Zweck seiner Analyse sah er in der bewussten „Démontage“ des Dritten Reichs durch Aufweis der impliziten Antinomien in den eigenen Aussagen (453, 457, 461, 464). Hellsichtig erkannte er die Struktur einer totalitären Diktatur in der Hand Hitlers (461, 463), die sich über den diskriminierenden Rassismus, das Führerprinzip und eine Feudalisierungstendenz durchsetzte (467f.). Im Gegensatz zu jener Nachkriegsliteratur, die einen geistigen Sündenbock sucht und ihn etwa in Hegel findet, erfasste Capitant bereits 1935 mit aller Deutlichkeit die Differenz zwischen dem Staatskonzept Hegels mit der Dichotomie von Staat und Gesellschaft und der Aufhebung der Gesellschaft durch den totalitären Staat der Nazis (473). Capitant analysierte auch schon vollkommen zutreffend, wie dieses Ziel erreicht werden würde, nämlich durch Absorption des privatwirtschaftlichen Kapitalismus im totalitären Staat (487), eine innere militärische Kolonisation des sozialen Lebens (491) und vor allem unter Einbezug der Arbeitswelt und der Jugend (493). Die Luzidität dieser Analyse belegt, dass es bereits damals durchaus möglich war, die Verhältnisse zu erkennen und sich dazu zu positionieren. Umgekehrt beweist die Verdrängung dieser Möglichkeiten aus dem geschichtlichen Beurteilungshorizont der nachfolgenden Jahrzehnte, dass auch in der Wissenschaft der Wille zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Wissenschaftsgeschichte schwach war und es in dieser Hinsicht immer noch ist.

 

Noch ein Wunsch an die Herausgeber für die Edition des nächsten Bandes: Kurze Zusammenfassungen, die ein Resultat wiedergeben, wie dies etwa die Hälfte der Autoren liefert, und insbesondere eine Zusammenfassung in der jeweils anderen Sprache sowie ein Registerapparat, der Vernetzungen aufweist, wären nicht bloß der Reputation des Bandes zuträglich, sondern würden auch die wechselseitigen Einflüsse und Rezeptionen fördern.

 

Zürich                                                                                                                        Marcel Senn