Schon zum dritten Mal haben der französische Philosoph Jean-François Kervégan von der Pariser Panthéon-Sorbonne Universität und der Rechtshistoriker Heinz Mohnhaupt vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte ein zweisprachiges Symposion zur Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie durchgeführt. Nun liegt auch dessen Ergebnis in der Reihe der Sonderhefte des Ius Commune vor. Der Band vereinigt fünfzehn Beiträge (davon neun in französischer Sprache) von je sieben französischen und deutschen Wissenschaftern sowie eines Westschweizers.
Vier Themenschwerpunkte sollten – gemäss Vorwort
– die Aufsätze bündeln: 1. Die unterschiedliche Wahrnehmung und Rezeption von
Rechtsinstitutionen und -instituten in beiden Ländern, 2. die abnehmende
Fähigkeit zum Dialog unter den Vertretern des geltenden Rechts im Verhältnis zu
der heute politisch beschworenen europäischen Kultureinheit, 3. der «bricolage» im Austauschvorgang von Mitteilungen über Recht
zwischen Absender und Empfänger und 4. die linguistisch-politische Dimension
unserer dogmatischen Begriffe. Vor diesem Hintergrund schien sich die
Möglichkeit anzubieten, die Beiträge vergleichend nach ihrem programmatischen
Ansatz abzuhandeln. Doch die genauere Lektüre zeigte, dass die Themen der
wechselseitig rezipierten Kultureinheiten sowie der
gegenseitigen Wahrnehmung von Instituten bzw. Institutionen dominieren, wogegen
der analytische Aspekt der linguistisch-politischen Sprachdifferenz eher
beiläufig erwähnt wird und die Thematik der «bricolage»
im Hintergrund bleibt. Die vorliegende Besprechung folgt daher nicht dem
programmatischen Ansatz des Vorworts, sondern handelt die Aufsätze seriell ab
mit dem Ziel, aus der Wahrnehmungsdifferenz vergleichbarer Phänomene zweier
Sprachkulturen selbst Erkenntnisse zu gewinnen, wie Beaud
erläutert (451). Von daher ergibt sich die nachstehende Revue.
Am breitesten deckt der ebenso differenzierte wie
klar strukturierte Beitrag von Heinz Mohnhaupt „Einfluss, Wirkung
und Funktion von deutschen Übersetzungen französischer Schriften in
Deutschland“ (1–41) die eigenen methodologischen Forderungen, insbesondere auch
zum Problemfeld der bricolage ab. Zutreffend erfasst
er die Kultur im Austauschprozess der Nationen als einen wechselseitigen
Rezeptionsvorgang, der sich als Veränderung des eigenen traditionellen
Kommunikationssystems versteht und insofern stets eine besondere Form der
Auslegung darstellt, wobei sich nie alle Begriffe übersetzen lassen (2, 8f.).
Dies veranschaulicht Mohnhaupt an drei klassischen Rezeptionsthemen zu Bodin, Montesquieu und Sieyès. So
rezipiert die deutsche Staatsrechtstheorie den
Souveränitätsbegriff Bodins aus ihrem engen polizeiwissenschaftlichen
Blickwinkel des Verhältnisses von Obrigkeit und Untertanen als Ausdruck der
absoluten Staatsgewalt der Fürsten, und die öffentliche Sache (res publica) der Bürger wird gleichzeitig zum befehlsgewaltigen
Regiment. Bodin hingegen verstand die oberste
Hierarchiestufe im postaristotelischen Konzept gerade als gegen den Machtstaat
eines Machiavelli gerichtet (22–25). Während Montesquieus Begriff des esprit der deutschen Rechtsliteratur des 18. Jahrhunderts
erhebliche Übersetzungsprobleme bereitete (27), wurde er im 19. Jahrhundert zwar gegen den Text
gelesen, aber unter dem liberalen Aspekt der Gewaltenteilung geläufig (30, 32)
und blieb es bis auf den heutigen Tag auch. Nicht
Unähnliches widerfuhr Sieyès (38f.): Seine
politisch-revolutionäre Kampfschrift gegen die Adels-Privilegien im Sinn des
Revolutionsgeistes wurde in der eingedeutschten Fassung verharmlost, als ob er
über „Vorrechte” mit bürgerlichen Bügelfalten geschrieben hätte.
Der Aufsatz Michel Senellarts
über „Censure et gouvernement
chez les théoriciens de l’Etat moderne en France et Allemagne
(XVIe–XVIIIe siècles)“ (43–68) schliesst hier
an und veranschaulicht die unterschiedlichen Auffassungen des Instituts der censure von Jean Bodin in
Frankreich und Georg Obrecht (1547–1612) in
Deutschland. Während der census nach antikem
Verständnis ein finanzpolitisches Bewertungsprinzip für private Güter war und
durch Bodin in der Weise auch verwendet wurde (45),
fungiert er in der Bodin-Rezeption bei Obrecht als staatspolitisches Axiom der Polizeiwissenschaft
zur Rationalisierung des Staats (50): Der census
wird zum politischen Integrationsfaktor eines autoritären Systems, das sich
als Verwaltungsorganisation seiner Untertanen versteht, wogegen im
republikanischen Verständnis der Monarchie nach Bodin
der census ein Instrument zur Förderung
der Staats-Harmonie ist (58f.). Mit der Reflexion auf die «öffentliche Meinung»
wird schließlich die Funktion des census bei
Rousseau vollends gebrochen (60ff.).
Auch der Text Klaus Malettkes über „La Perception de la ,supériorité territoriale‘ et de
la ‚souveraineté‘ des princes d’Empire en France au XVIIe
siècle“ (69–89) thematisiert die unterschiedliche
Bodin-Rezeption. Das differierende Verständnis des
Souveränitätsbegriffs der Deutschen und Franzosen zeitigte konkrete politische
Folgen bei zwei Friedensabschlüssen im 17. Jahrhundert und führte unter anderem
zu jener Konfusion, wie wir sie von Pufendorfs
Charakterisierung des Reichs als „Monstrum“ her kennen (79–85). Diese
Einschätzung beruhte auf der Selbst-Wahrnehmung des Reichs gemäß deutscher
Tradition, eine Monarchie im klassischen Sinn zu sein – Bodin
dagegen hatte das Reich immer als eine Form der Aristokratie aufgefasst.
Diese drei Beiträge verdeutlichen vor allem die
Schwierigkeiten der deutschen Reichs- und Staatstheoretiker mit der neuen aus
Frankreich stammenden Begriffs- und Vorstellungswelt, insbesondere mit Bodins republikanischer Souveränitätsidee, die kaum je
richtig erfasst wurde. Eigenständig zeigt sich der deutsche Horizont in Sachen
Rechtsphilosophie erstmals seit der Aufklärung.
Ein solch luizides
Moment der deutschen Philosophiegeschichte stellt Kants Begriff der Autonomie
der intelligiblen Person dar. Reinhard Brandt
(91–118) erläutert in seinem Beitrag über „Rousseau und Kant“, wie Kant von der
angelsächsischen naturalistischen Anthropologie beeinflusst nach 1762 über
Rousseaus Freiheitsbegriff den Gedanken der „autonomen Person“ formuliert.
Dieser Entwicklungsschritt gelingt Kant dialektisch aus der Antinomie des
Deismus’ eines Locke und im bewussten Gegensatz zum – so Brandt –
„Kulissenwort“ der Natur, wie es Rousseau verwendet (101). Kant löst diese
Antinomie im Sinn seiner kritischen Theorie der praktischen Vernunft durch den
bekannten handlungstheoretischen Formalismus eines Gesetzgebungsverfahrens
(104). Durch den Rückgriff auf den Intellekt sichert er die Funktionen von
Staat und Recht gegenüber dem in der Neuzeit eingeführten Voluntarismus
rational ab (115). Bedauerlich ist nur, dass Brandt die epistemologischen
Voraussetzungen hierfür nicht klärt, sie nicht einmal durch eine Verweisung
erwähnt (117).
Doch sein Beitrag bereitet auf den wohl
gewichtigsten Aufsatz dieses Sammelbandes von Jean-François Kervégan
über „Tocqueville und Hegel“ (118–141) vor. Zwar gibt
es zwischen Hegel und Tocqueville weder eine
persönliche noch eine zitatmässig feststellbare
Verbindung, die die Autoren unter sich selbst hergestellt hätten. Hinzu kommen
die zahlreichen (insbesondere deutschen) Sekundärliteraturprodukte nach dem
zweiten Weltkrieg, die Hegel als einen Gegner von Gleichheit, Freiheit und
Demokratie darstellen, Tocqueville dagegen als
Koryphäe des Liberalismus feiern. Wie Kervégan die
Deutschen belehrt, ist dies ebenso unwahr wie ungerecht, ja sogar „imprudent“ (131). Er zeigt, dass und wie beide Autoren in
der post-revolutionären Zeit die „Demokratie“ zwar als das Ziel der modernen
Gesellschaft sehen, gleichzeitig aber auch die Gefahren der modernen
Massendemokratie erkennen, nachdem die traditionelle Legitimation von
politischer Herrschaft in der frühen Neuzeit zu einem reinen Immanenzproblem
geworden ist und über den Souveränitätsbegriff eines sozialen Volkskörpers als
Ausdruck real-politischer Macht dargestellt wird (128ff.). Tocqueville
erkannte und analysierte diese Problematik mit Bezug auf das Pariser
Terrorregime von 1793/94 und auf die Verkehrung des revolutionären
Gleichheitspostulats zur Zeit der napoleonischen Diktatur. In der Nachfolge von
Rousseau und den US-Federalists wollte er die
Gleichheit durch eine Begrenzung der Freiheit sichern und gestaltete deshalb
die Volkssouveränität als Repräsentationssystem aus. Dagegen sah Hegel in einer
repräsentativen Demokratie gerade keine angemessene Antwort auf die Frage nach
der richtigen Balance von Gleichheit und Freiheit. Diese Ideen seien zu
abstrakt und würden die Zivilgesellschaft durch sozio-ökonomische
Differenzen real unterlaufen. Nach Hegel muss alle Freiheit im bzw. durch den
Rechtsstaat „objektiviert“ werden, weil soziale Gleichheit letztlich auf der
politischen Freiheit beruht, die durch den effizienten Rechtsstaat gesichert
wird (132f.). Meines Erachtens zutreffend bezeichnet Kervégan
Tocqueville als Demokraten aus Vernunft, der
jeglicher Zentralisation der Staatsgewalt abhold ist, Hegel dagegen als
Verteidiger einer liberalen Monarchie und eines funktionierenden Beamtenstaates
zur Realisierung der individuellen Freiheit (135f., 140).
Mit Joachim Rückerts Text über den „Code
Civil, Code Napoléon und Savigny“ (143–176) gelangen wir wieder auf
rechtshistorisches Terrain. Rückert berichtet – wie schon auf dem Jenaer
Rechtshistorikertag 2000 – über neu entdeckte Quellenfragmente aus dem Nachlass
Savignys, aufgrund derer das bisherige Bild von Savignys Urteil über den Code
Civil zu differenzieren sei (144ff., 150ff.). Das in seiner Schrift über
den „Beruf“ (1814) eingeführte operative Strategem
„politisch-technisch“ verwendet Savigny auch bei der Beurteilung des Code Civil
(163–69). Dass er dadurch zum Verteidiger der Rechtssicherheit und im Gegensatz
zu Thibaut zum Liberalen avanciert, halte ich
indessen für einen unnötigen Rettungsversuch, weil die „eigentliche
Unvergänglichkeit“ von Savignys Leistung (175) unabhängig von den Kontroversen
längst schon feststeht.
Der Savigny-Rezeption in Frankreich widmen sich
auch die beiden folgenden Beiträge. Mikhaïl Xifaras veranschaulicht sie am Werk des ebenso
originellen wie rhetorisch ausschweifenden ersten Kassationsgerichtspräsidenten
des Zweiten Kaiserreichs Raymond Troplong („L’École de l’Exégèse était-elle historique? Le cas de Raymond-Théodore Tropolong [1795–1869],
lecteur de Friedrich Carl von Savigny“, 177–209). Troplong war glühender Bonapartist, der an den Code Civil als Basis-Code für
andere Länder glaubte. Trotz des Gegensatzes in der Frage der Kodifikation rezipierte er Savigny, wenn auch eklektisch und teilweise
missverständlich (186f., 190, 193). Kraft seines hohen nationalen Ansehens
machte er Savignys Werk in Frankreich bekannt. Der abschliessende
Vergleich zwischen Savigny als Kantianer und
Positivisten und Troplong als christlichen Juristen
überzeugt mich dagegen weniger (204ff.).
Breiter, sehr detailreich, erörtert Jean-Louis Halpérin die
Rezeption von Savignys Lehre des internationalen Privatrechts
in Frankreich („Les interactions au XIXe siècle entre doctrine allemande et doctrine
française en matière de droit international privé“, 211–229). Obwohl der achte Band von
Savignys System bereits 1852 – drei Jahre nach Erscheinen – in französischer
Übersetzung vorlag, unterblieb bei aller Referenz gegenüber der Persönlichkeit
des großen Deutschen zunächst die Rezeption seiner IPR-Lehre.
Die Auseinandersetzung begann erst gegen Ende des Jahrhunderts (214ff.), wobei
sich zu diesem Zeitpunkt bereits neue Einflüsse aus Deutschland präsentierten,
an die angeknüpft werden konnte. So schwenkt der Begründer der Revue générale de droit international, Antoine Pillet, der
selber eine bedeutende IPR-Theorie entwickelte,
damals schon von Savigny zu Jherings Konzept
(217ff.). Und auch Ehrlichs und Zitelmanns Universalismus fand um die Jahrhundertwende
Zustimmung (219ff.). Diese Rezeptionen versiegen jedoch mit dem Erlass des
Bürgerlichen Gesetzbuchs und dem Beginn des Ersten Weltkriegs (222–29).
Gerade im Zusammenhang mit der aktuellen Reform
des Jusstudiums nach Bologneser Modell erscheint der
Beitrag von Diethelm Klippel und Jan Rolin lesenswert („Französische und deutsche
Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jhahrhunderts.
Ein bibliographischer Überblick“, 231–57). Die Autoren zeigen nämlich, wie
unnütz die Nützlichkeit sein kann, vergleicht man die unterschiedlichen
Studiengänge und die Bücherproduktionen im Zusammenhang mit dem Fachbereich der
Rechtsphilosophie in Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert. Dem
Klischee entsprechend lösten damals der Historismus und Positivismus die
Naturrechtsdiskussion in Deutschland ab. Es ist Klippels
Verdienst, den Fortbestand von Rechtsphilosophie und Naturrecht im 19.
Jahrhundert anhand verschiedener Untersuchungen in den letzten Jahren
nachgewiesen zu haben. In Frankreich ist die Lage etwa vergleichbar. Dort
versuchte indessen nicht eine prominente akademische Elite die
rechtsphilosophische Diskussion zu unterbinden, sondern Napoleon selbst
beendete die „reflexive“ Methode im Studium durch ein kaiserliches Dekret,
indem er 1804 den Universitäten das „Diktat des Unterrichts“ auf der Basis der cinq codes verordnete (237ff.).
(Eine Spätfolge hievon lässt sich in der Schweiz noch spüren: das Jusstudium
ist in der Westschweiz nachhaltiger von Frankreich beeinflusst als in der
Deutschschweiz.) Der utilitaristische Gesetzespositivismus führte zunächst zu
einer Unterdrückung der intellektuellen Diskussion in Frankreich. Auf
französischer wie auf deutscher Seite bestand Einigkeit im negativen
Urteil über die Auswirkungen der École de l’exégèse, wie sie Napoleon institutionalisiert hatte.
Französische Kritiker verwiesen daher immer wieder auf Deutschland als Vorbild,
wo die Diskussion im Anschluss an Kant und Hegel noch lebendig war (242ff.) und
woran sich zunächst auch eine bescheidene, doch stetig zunehmende Diskussion
der Rechtsphilosophie in Frankreich anschloss. Von dieser französischen
Diskussion berichtete wiederum Leopold August Warnkönig in der Kritischen
Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung zwischen 1829 und 1838
regelmäßig (247ff.), was zeitweilig auch zur Rezeption der neu erwachten
französischen Rechtsphilosophie in Deutschland führte (251ff.).
Zu den Rezipienten auf deutscher
Seite gehörte neben Rotteck und Zachariä insbesondere
auch Mittermaier, dessen überragende Vermittlerrolle
in Europa Barbara Dölemeyer seit längerem
herausarbeitet („K. J. A. Mittermaier und J. J. G. Foelix. Zwei Pole juristischer Kommunikation im 19.
Jahrhundert.“, 259–85). Ihr Augenmerk gilt diesmal der Beziehung zu und
Korrespondenz mit dem Advokaten am Cour d’Appel in
Paris, Jean Jacques Gaspard Foelix, der ursprünglich
aus dem Großherzogtum Oldenburg stammte (und ähnlich wie Goethe [= Göthe] seinen Namen öfters noch als Fölix
schrieb). Foelix war Herausgeber einer eigenen Revue
zur aus- und inländischen Gesetzgebung zwischen 1833–50 (278) und in diesem
Zusammenhang suchte und fand er Rat und Unterstützung bei Mittermaier.
Beide Juristen waren am gegenseitigen Austausch, aber auch an der Festigung der
deutsch-französischen Beziehungen interessiert. Foelix’
herausragendes Engagement wurde übrigens von der Breisgauer Universität
Freiburg mit dem Ehrendoktorat gewürdigt (269).
Alfred Dufour, der wie gewohnt Eleganz und Präzision
in der Darstellung klug zu verbinden weiß (287–328), stellt die Vermittlerrolle
Helvetiens, insbesondere von „Genève et la science juridique européenne“ im Zusammenhang mit den Annales de Législation et de Jurisprudence bzw. d’Economie politique dar. Auch wenn diese Zeitschrift nur vier
Jahrgänge (1820–23) aufweist, so vergleicht Dufour ihre
Bedeutung mit derjenigen der Bibliothèque Britannique (292) oder der Thémis
(328), soweit sie eine internationale Vermittlungsfunktion im Bereich der
Grundlagenfächer zur Rechtswissenschaft übernahm (312f.), so dass sie selbst
vom sonst zurückhaltenden Savigny zwei Mal positiv erwähnt wurde (291).
Der umfangreichste Beitrag stammt aus der Feder
von Christoph Bergfeld über die „Aufhebung der Schuldhaft“ (329–78).
Seine Untersuchung bezieht neben den deutsch-französischen auch die englischen
Verhältnisse mit ein. Die Schuldhaft ist ein Relikt aus der Zeit vor der
Dichotomie von öffentlichem und privatem Recht (330). Sie ist ein gerichtlich
legitimiertes Zwangsmittel des Gläubigers gegen den Schuldner, der nicht
leisten will und somit das Recht – etwa auf Herausgabe einer Erbschaft (334) –
verweigert. Mit Zunahme der objektiven Leistungsunfähigkeit der Schuldner im
19. Jahrhundert mangels Liquidität verkehrte sich das prozessuale Zwangsmittel
zum Strafmittel in privater Hand (347), insbesondere von Hausbesitzern und
Herbergswirten (353). Damit erschien auch den Zeitgenossen die Schuldhaft als
ein Relikt im Rechtssystem von Individualismus und Liberalismus. So machte Mittermaier bereits 1831 unter Verweisung auf das
kanonische Recht den Widerspruch zwischen Personalarrest und Sachschulden
geltend (355), und auf dem Deutschen Juristentag 1863 wurde die Nutzlosigkeit
der Schuldhaft aus philanthropischen und aufklärerischen
Ideen offen kritisiert (374f.). Die Abschaffung der Schuldhaft erfolgte europaweit
innert zehn Jahren nach dem Beispiel Frankreichs, das 1867 den Personalarrest
abschaffte, gefolgt von den Niederlanden, Österreich, Italien sowie Deutschland
(332ff.; zu ergänzen wären hier Zürich 1869 und nach der Revision der
Bundesverfassung 1874 auch die Schweiz).
Beachtung verdient ebenfalls der Aufsatz von
Norbert Waszek über „Lorenz Stein: Propagateur du droit français en Allemagne“ (379–403).
Stein wird als einer der Begründer der sozialen Rechtsstaatsidee des 19.
Jahrhunderts (380) dargestellt, der in der Nachfolge Hegels stand (396). Im
Gegensatz zur Kodifikationsdebatte der Historischen Rechtsschule in
Deutschland, die sich vor allem um technische Fragen drehte (391ff., 398, 402),
erkannte Stein im Code und nicht in der Verfassung die wahre Antwort auf die
zentralen rechtspolitischen Themen der Zeit, die sich gegen den Feudalismus und
für die Menschenwürde aussprachen (394f.).
Die letzten beiden Texte des Bandes von Herrera
und Beaud sind dem 20. Jahrhundert gewidmet. Carlos
Miguel Herrera schreibt über den « Socialisme
juridique et droit administratif“ (405–44). Es handelt sich um eine ziemlich
geschwätzige Abhandlung über das Phänomen des „juristischen Sozialismus“, das
durch den Text geistert nach Maßgabe des kläglichen Definitionsversuchs (409):
„Le socialisme juridique est un réformisme:
l’établissement d’un nouvel ordre se fera par la voie de réformes successives. Le socialisme juridique
entend épouser le mouvement propre de l’évolution sociale, et même du droit,
puisque le germe du socialisme se trouve déjà dans toutes les institutions
juridique“. Im
Klartext heißt dies alles und doch nichts, weil alles in sich begrifflich
zirkulär bleibt. Herrera präsentiert in der Folge eine Grand’Revue
der Märtyrer des sozialistischen Glaubens, in der einige große Namen wie Jaurès, Lassalle und Menger sowie dessen französische
Schüler Emanuel Lévy und Maxime Leroy erscheinen.
Dann lesen wir von einem vergessenen juristischen Sozialisten namens Charles Andler, der zwar selbst keine Theorie, aber immerhin eine
Art Analyse präsentierte, die das Thema kohärent rekonstruiere (411). Doch
bevor der Gedankengang konkret entwickelt wird, tritt schon wieder ein neuer
Genosse namens André Mater, Jurist aus Belgien und – wohl als Gütezeichen
verstanden – zudem ein anti-klerikaler Propagandist, vor einer Entourage von
ungefähr zwanzig weiteren Gesinnungsgenossen auf den Plan (412). Mater und sein
Werk werden immerhin eingehender – wohl auch in propagandistischer Absicht –
dargestellt (414–26). Herrera beschreibt Maters
Methodik als programmatischen Versuch zur Durchsetzung des Sozialismus mittels
der Methode des juristischen Sozialismus, die darin bestehe „à manipuler le très souple droit bourgeois pour l’adapter au collectivisme“
(415), worin Herrera eine realistische bzw. positivistische Methodik erkennen
will, was Mater gerade gegenüber anderen Sozialisten seiner Zeit wie z. B.
Anton Menger besonders qualifiziere: Dadurch nämlich erübrigten sich soziale
Grundrechte für die Arbeitnehmer, weil das Recht selbst zum politischen
Kampfmittel werde (416, 421). Die weiteren zwanzig Seiten sind dem Werk Maurice
Haurious und dessen Intention vom politischen
Charakter der Institutionen (438) gewidmet, das dieser ebenfalls in kritischer
Auseinandersetzung mit Menger (429ff.) entwickelte. Insgesamt sieht der Autor
damit den Einfluss des Lebens auf das Recht bestätigt (441) – was auch immer
dies heißen mag.
Der Sammelband schliesst
mit der qualitativ hochwertigen Analyse Olivier Beauds
über „René Capitant, analyste
lucide et critique du national-socialisme“ (445–98). René Capitant
– Sohn des berühmten Henri – war ein engagierter Links-Gaullist und
Widerstandskämpfer der ersten Stunde, der sich insbesondere durch seine
intellektuelle Klarheit und Redlichkeit in seinen noch unbekannten Beiträgen
über den Nationalsozialismus auszeichnet (445–49). Trotz Durchscheinen seiner
Aversion gegen das Hitler-Regime behält Capitant die
Selbstkontrolle, denn den Zweck seiner Analyse sah er in der bewussten „Démontage“ des Dritten Reichs durch Aufweis
der impliziten Antinomien in den eigenen Aussagen
(453, 457, 461, 464). Hellsichtig erkannte er die Struktur einer totalitären
Diktatur in der Hand Hitlers (461, 463), die sich über den diskriminierenden
Rassismus, das Führerprinzip und eine Feudalisierungstendenz durchsetzte
(467f.). Im Gegensatz zu jener Nachkriegsliteratur, die einen geistigen
Sündenbock sucht und ihn etwa in Hegel findet, erfasste Capitant
bereits 1935 mit aller Deutlichkeit die Differenz zwischen dem Staatskonzept Hegels mit der Dichotomie
von Staat und Gesellschaft und der Aufhebung der Gesellschaft durch den
totalitären Staat der Nazis (473). Capitant analysierte auch schon vollkommen zutreffend, wie dieses
Ziel erreicht werden würde, nämlich durch Absorption des
privatwirtschaftlichen Kapitalismus im totalitären Staat (487), eine innere militärische Kolonisation des sozialen Lebens (491)
und vor allem unter Einbezug der Arbeitswelt und der Jugend (493). Die Luzidität dieser Analyse belegt, dass es bereits damals
durchaus möglich war, die Verhältnisse zu erkennen und sich dazu zu
positionieren. Umgekehrt beweist die Verdrängung dieser Möglichkeiten aus dem
geschichtlichen Beurteilungshorizont der nachfolgenden Jahrzehnte, dass auch in
der Wissenschaft der Wille zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen
Wissenschaftsgeschichte schwach war und es in dieser Hinsicht immer noch ist.
Noch ein Wunsch an die Herausgeber für die
Edition des nächsten Bandes: Kurze Zusammenfassungen, die ein Resultat
wiedergeben, wie dies etwa die Hälfte der Autoren liefert, und insbesondere
eine Zusammenfassung in der jeweils anderen Sprache sowie ein Registerapparat,
der Vernetzungen aufweist, wären nicht bloß der Reputation des Bandes
zuträglich, sondern würden auch die wechselseitigen Einflüsse und Rezeptionen
fördern.
Zürich Marcel
Senn