SchubertWinklerMöller20010918 Nr. 10485/10445 ZRG 119 (2002) 57

 

 

Winkler, Sabine, Das Bundes- und das spätere Reichsoberhandelsgericht. Eine Untersuchung seiner äußeren und inneren Organisation sowie seiner Rechtsprechungstätigkeit unter besonderen Berücksichtigung der kaufmännischen Mängelrüge (= Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N. F. 94). Schöningh, Paderborn 2001. 337 S.

Möller, Kristina, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Zivilsachen. Eine Untersuchung der Zuständigkeit und Organisation des Reichsgerichts sowie seiner Rechtsprechung im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Konkursanfechtung (= Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N. F. 93). Schöningh, Paderborn 2001. 171 S.

 

Umfassende Untersuchungen zur Zivilrechtsjudikatur des Bundes-/Reichsoberhandelsgerichts (ROHG) sowie des Reichsgerichts bis 1900 fehlen noch immer. Diesem Mangel wollten die beiden hier besprochenen Arbeiten abhelfen, auch wenn sie nur zwei zivilrechtliche Teilbereiche behandeln. Die Arbeit Sabine Winklers geht zunächst auf die äußere und innere Organisation des ROHG ein (S. 15-96). Die Verfasserin verzichtet auf eine detaillierte Entstehungsgeschichte des Gesetzes vom 12. 6. 1869 über die Errichtung eines Obersten Gerichtshofes für Handelssachen (hierzu Werner Schubert, Die deutsche Gerichtsverfassung 1869-1977, Frankfurt am Main 1981, S. 259ff.) und geht ausführlicher nur auf die zahlreichen juristischen Bedenken ein, die gegen das Gesetz im Reichstag vorgebracht worden waren. Diese wurden jedoch zurückgestellt, da in den Augen der Mehrheit der Mitglieder des Bundesrates und des Reichstags die Vorteile, die das Gesetz in Aussicht stellte – Schaffung und Fortentwicklung der Rechtseinheit auf dem Gebiet des Handels- und Wechselrechts – gegenüber den eventuellen Nachteilen überwogen. Allerdings nahm man wegen Fehlens eines einheitlichen Zivilprozeßrechts in Kauf, daß insoweit die landesgesetzlichen Regelungen maßgebend blieben. Das führte dazu, daß die Möglichkeiten der Revision aus den Gebieten des französischen Prozeßrechts, zu denen auch Bayern mit seiner Civilproceßordnung von 1869 gehörte, eingeschränkter waren als für die Gebiete des altpreußischen, des gemeinen und des sächsischen Rechts. Weitere Unterschiede ergaben sich daraus, daß auch materielles Landeszivilrecht anzuwenden war, wenn wie im Kaufrecht die Regelungen des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches unvollständig waren. Insoweit war das sächsische Bürgerliche Gesetzbuch revisibel, anders als dann seit 1879. Die Verfasserin bespricht im ersten Teil ihrer Arbeit die Verfassung des ROHG einschließlich des Geschäftsregulativs, die Zuständigkeit des Gerichts und in diesem Zusammenhang auch die Erweiterung der Zuständigkeiten ohne Bezug auf den Begriff der Handelssache, den Prozeß vor dem ROHG und die innere Organisation des Gerichts. Von den insgesamt 32 Mitgliedern des ROHG stammten 14 (44 %) aus Preußen. Dies bedeutete de facto „ein preußisches Übergewicht“ (S. 38), das aber deutlich unter dem prozentualen Anteil Preußens an der Gesamtbevölkerung des Reichs lag. Mitgeteilt wird auch die personelle Zusammensetzung der Senate in den einzelnen Geschäftsjahren (S. 45ff.; zur Biographie einiger Richter erst S. 174ff.).

Im zweiten Teil (S. 97-195) erläutert die Verfasserin auf der Grundlage einer von ihr erstellten Datenbank die Entscheidungstätigkeit des ROHG. Hierzu dient ihr die amtliche Entscheidungssammlung mit ca. 22,7 % der Gesamtentscheidungen des Gerichts als Quelle. Die Verfasserin hat nicht ausgewertet die Sammlung sämtlicher Erkenntnisse des ROHG, die als Bestandteil der ehemaligen Reichsgerichtsbibliothek 1990 in die Bibliothek des BGH gelangt ist. Diese „Sammlung“ umfaßt 87 Bände, in denen die Entscheidungen nach Ländern und insoweit nicht insgesamt fortlaufend nach dem Entscheidungsdatum geordnet sind. Die Verfasserin bezweifelt (S. 101f.) die Vollständigkeit dieser Sammlung, in der Urteile wie auch später in der „Sammlung“ der Urteile des Reichsgerichts fehlen. Ob die fehlenden Entscheidungen 20 % der Gesamtzahl umfassen – so die Verfasserin – müßte noch detaillierter geklärt werden. Eine Berücksichtigung der „Sammlung“ scheiterte nach der Verfasserin „nicht nur an der räumlichen Entfernung, sondern schließlich auch an dem beträchtlichen Umfang und der schwierigen inhaltlichen Zugänglichkeit des Werkes, die selbst eine zeitlich vertretbare überblicksmäßige Untersuchung zunichte machten“ (S. 101). Diese Sachzwänge sind zwar zu bedauern. Gleichzeitig können aber mit der Erschließung der 2.764 in der amtlichen Sammlung (allerdings nicht immer vollständig) veröffentlichten Entscheidungen die von der Verfasserin ermittelten Daten das Gesamtbild aller Urteile nur in ihrer Grundtendenz widerspiegeln. Die Daten der Verfasserin belegen zunächst die inhaltliche Entscheidungsvielfalt. So mußte das Gericht einerseits im Rahmen des Handels-, Gesellschafts- und Wechselrechts nicht nur das ADHGB und die Allgemeine Deutsche Wechselordnung anwenden, sondern auch andere „Streitentscheidungsnormen“ aus dem Allgemeinen Landrecht Preußens, dem Code zivil, dem sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuch usw. heranziehen. Die von der Verfasserin mitgeteilten Statistiken erschließen in ihrer Feingliederung z. B. die einzelnen Probleme in den jeweiligen Abschnitten und Titeln des Handelsgesetzbuches. Für den Titel „Handelskauf“ werden berücksichtigt: Annahmeverzug, Schuldnerverzug, Fixhandelskauf, kaufmännische Mängelrüge, Kauf nach Probe, Gefahrtragung, Lieferungsgeschäft und besondere Arten des Kaufs (S. 119; insges. 324 Entscheidungen). Zahlenmäßig aufgelistet ist ferner die Zahl der Entscheidungen, bei denen es für die Streitentscheidung auf nicht handelsrechtliche Normen ankam (für den Bereich Handels- und Gesellschaftsrecht 351 Entscheidungen). S. 150ff. werden die Herkunftsländer der Entscheidungen erschlossen, und zwar sowohl auf der Basis der amtlichen Entscheidungssammlung als auch auf derjenigen der Geschäftsübersichten. In diesem Zusammenhang geht die Verfasserin dem Einfluß landestypischer Gegebenheiten und prozeßrechtlicher Regelungen nach (S. 154ff.). Für die Zuständigkeiten der Senate konnte die Verfasserin gewisse Regelmäßigkeiten hinsichtlich einer gattungs- und herkunftsbezogenen Verteilung ausmachen (S. 170ff.).

Im dritten Teil (S. 197-268) analysiert die Verfasserin ausgewählte Entscheidungen des ROHG zur kaufmännischen Rügepflicht (Art. 347 ADHGB, heute § 377 HGB; die Regelung des § 378 HGB ist erst 1897 in das Gesetz aufgenommen worden). Die Besprechung der Judikatur erfolgt nach 1897 abgeänderten und nach nicht abgeänderten Tatbestandsmerkmalen; zu den letzteren gehören: Ablieferung, Untersuchung (Untersuchungspflicht, Zeit der Untersuchung und ihre Art und ihr Umfang), Mängelanzeige (Inhalt und Adressat der Anzeige, Träger der Verzögerungs- und Verlustgefahr) und Genehmigung (Verständnis des Genehmigungsbegriffes; anderweitige Genehmigung). Parallel dazu werden durchgehend die Literaturmeinungen erörtert. Auch weist die Verfasserin auf die Fortwirkung der ROHG-Judikatur in den Entscheidungen des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs hin (etwa S. 149f. zum Problem „Art und Umfang der Untersuchung“), insgesamt zeichnete sich die Rechtsprechung des ROHG durch besondere Gesetzestreue aus; Priorität hatten der unmittelbare Wortlaut der Norm und der Wille des historischen Gesetzgebers. Impulse bzw. Profilierungsversuche gingen von dieser Judikatur kaum aus. Auf diese Weise hat, so die Verfasserin S. 268, das ROHG „den Weg für ein umfassend zuständiges Reichsgericht geebnet und sich als wahres Vorbild für Gegenwart und Zukunft erwiesen“. Als Anlagen teilt die Verfasserin den Wortlaut des Gesetzes über die Errichtung des ROHG sowie eine Gliederungsübersicht zur Datenbank mit (beispielsweise für das ALR und das sächssische BGB). Ein knappes Sachregister schließt das Werk ab, das in den aufgezeigten Begrenzungen für einen wichtigen Teilbereich die handelsrechtliche Judikatur des ROHG umfassend erschließt. Allerdings beschränkt sich der Abschnitt über die kaufmännische Mängelrüge primär auf die dogmengeschichtliche Analyse. Insgesamt dürfte es noch zu früh sein, nur aufgrund der Analyse der Urteile zu Art. 347 ADHGB die handelsrechtliche Judikatur des ROHG inhaltlich, insbesondere auch sozial(rechts-)geschichtlich zu bewerten. Jedenfalls liegen hier noch, über die Kontinuitätsfrage hinaus, weitere Themenfelder einer Erschließung der ROHG-Judikatur.

Dies verdeutlicht auch die allerdings erheblich weniger umfangreiche Studie Kristina Möllers zur Rechtsprechung des Reichsgerichts in Zivilsachen. Der Abschnitt über die Geschichte des Reichsgerichts behandelt dessen äußere und innere Organisation. Auf die Errichtung des Reichsgerichts und die einschlägigen Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes geht die Verfasserin nur knapp ein. Weniger Probleme als für das ROHG warfen die Zuständigkeiten und die Geschäftsverteilung auf. Auf die RG-Präsidenten geht die Verfasserin kaum ein. Weiter ausgeführt ist der Abschnitt über die Rechtsprechung des Reichsgerichts von 1879 bis 1899. Grundlage der Datenbank der Verfasserin ist die amtliche Sammlung der RG-Entscheidungen (RGZ Bd. 1-45), wobei für das Handelsrecht auch noch die Bände 46-50 herangezogen werden, soweit sie Entscheidungen zum ADHGB enthalten. Daß Möller nicht die „Sammlung“ sämtlicher Erkenntnisse des Reichsgerichts in Zivilsachen ausgewertet hat, beruht auf den gleichen Gründen, die für die Arbeit Winklers maßgebend waren. Da in der amtlichen Sammlung prozentual weniger Entscheidungen abgedruckt sind als in derjenigen für das ROHG, können die von der Verfasserin ermittelten Statistiken ebenfalls nur die ungefähre Richtung aufzeigen. Insbesondere beschränkt sich Möller darauf, die (veröffentlichte) Judikatur des Reichsgerichts nur für die Reichsgesetze zu erschließen. Die RGZ-Bände umfassen die Entscheidungen für die Anfangszeit nur zu einem Drittel, für die Mitte der achtziger Jahre bereits zu 40–60 %. In der zahlenmäßigen Erschließung der Urteile zum Reichsrecht bringt die Verfasserin mehrere Detailgliederungen, z. B. für das Wechselrecht (Rückgriff und Protest, Einwendungen, Blankowechsel, Eigenwechsel, Verjährung, Akzept, Ausstellung, Indossament, Diverses, Wechselprozeß, Erfüllung der Wechselverbindlichkeit und Wechselbürgschaft), insgesamt 104 Entscheidungen, wobei jeweils auf einige Rechtsprobleme näher eingegangen wird. Für die Detailanalyse hat die Verfasserin den Problemkreis eines Gesetzes ausgewählt, das erst mit der Installierung des Reichsgerichts in Kraft trat, nämlich die Konkursanfechtung nach den §§ 22ff. KO a. F. (§ 29 ff. KO n. F.). Die Rechtsprechungsanalyse beschränkt sich auf die wichtigsten Problembereiche (Konkursanfechtung im allgemeinen, die besondere Konkursanfechtung nach § 23 KO, die Absichtsanfechtung nach § 24 KO, die Schenkungsanfechtung nach § 25 KO und den Rückgewähranspruch; Urteile zu § 3 AnfG werden miteinbezogen). Über die in RGZ veröffentlichten Entscheidungen hinaus werden auch in der Juristischen Wochenschrift veröffentlichte Urteile herangezogen (vgl. die Übersicht S. 162f.). Insgesamt ist die Darstellung kompakter als bei Winkler. Literaturmeinungen werden nur dann behandelt, wenn sie gegenüber dem Reichsgericht abweichende Ansichten vertraten. Eventuelle Kontinuitäten mit der preußischen Konkursordnung von 1855 werden nur thematisiert, wenn das Reichsgericht ausdrücklich darauf einging. Nicht unproblematisch ist die von der Verfasserin zunächst vorgenommene Beschränkung auf die Urteile bis 1899. Jedoch läßt sich dies damit rechtfertigen, daß bis dahin nahezu alle wichtigen Fragen der Konkursanfechtung höchstrichterlich geklärt waren. Erst im vierten Teil geht die Verfasserin der weiteren Entwicklung des Konkursanfechtungsrechts in der Rechtsprechung nach (S. 137-147). Insgesamt läßt sich für diesen Bereich ein sehr hohes Maß an Kontinuität feststellen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Reichsgericht den in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelten maßgebenden Standpunkt erst nach einer gewissen Experimentierphase gefunden hat. Noch stärker als Winkler hat sich Möller mit einer inhaltlichen Bewertung der Judikatur des Reichsgerichts – über die rechtsdogmatischen Fragen hinaus – zurückgehalten. Nach der Verfasserin war die „Präsenz von rechtsgeschichtlichen Erwägungen“ besonders aus der Entstehungsgeschichte der Konkursordnung im Rahmen der Urteilsbegründungen auffällig. Wie das Reichsoberhandelsgericht hat auch das Reichsgericht in seiner Frühzeit sich in den „Dienst der Sicherung und Fortentwicklung der Rechtseinheit“, soweit sie zunächst bestand, gestellt.

Insgesamt vermitteln die Monographien Winklers und Möllers einen ersten Einblick in die Entscheidungspraxis und in die Folgewirkungen der Judikatur des Reichsoberhandelsgerichts und des frühen Reichsgerichts. Es gilt nun, die gewonnenen Einsichten, möglichst unter Benutzung der „vollständigen“ Urteilssammlungen weiterzuführen und zu vertiefen.

 

Kiel                                                                                                               Werner Schubert