Winkler,
Sabine, Das Bundes- und das spätere Reichsoberhandelsgericht. Eine
Untersuchung seiner äußeren und inneren Organisation sowie seiner
Rechtsprechungstätigkeit unter besonderen Berücksichtigung der kaufmännischen
Mängelrüge (= Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der
Görres-Gesellschaft N. F. 94). Schöningh, Paderborn 2001. 337 S.
Möller,
Kristina, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Zivilsachen. Eine
Untersuchung der Zuständigkeit und Organisation des Reichsgerichts sowie seiner
Rechtsprechung im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der
Konkursanfechtung (= Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der
Görres-Gesellschaft N. F. 93). Schöningh, Paderborn 2001. 171 S.
Umfassende
Untersuchungen zur Zivilrechtsjudikatur des Bundes-/Reichsoberhandelsgerichts
(ROHG) sowie des Reichsgerichts bis 1900 fehlen noch immer. Diesem Mangel
wollten die beiden hier besprochenen Arbeiten abhelfen, auch wenn sie nur zwei
zivilrechtliche Teilbereiche behandeln. Die Arbeit Sabine Winklers geht zunächst auf die äußere und innere Organisation des ROHG
ein (S. 15-96). Die Verfasserin verzichtet auf eine detaillierte
Entstehungsgeschichte des Gesetzes vom 12. 6. 1869 über die Errichtung eines
Obersten Gerichtshofes für Handelssachen (hierzu Werner Schubert, Die
deutsche Gerichtsverfassung 1869-1977, Frankfurt am Main 1981, S. 259ff.) und
geht ausführlicher nur auf die zahlreichen juristischen Bedenken ein, die gegen
das Gesetz im Reichstag vorgebracht worden waren. Diese wurden jedoch
zurückgestellt, da in den Augen der Mehrheit der Mitglieder des Bundesrates und
des Reichstags die Vorteile, die das Gesetz in Aussicht stellte – Schaffung und
Fortentwicklung der Rechtseinheit auf dem Gebiet des Handels- und Wechselrechts
– gegenüber den eventuellen Nachteilen überwogen. Allerdings nahm man wegen
Fehlens eines einheitlichen Zivilprozeßrechts in Kauf, daß insoweit die
landesgesetzlichen Regelungen maßgebend blieben. Das führte dazu, daß die
Möglichkeiten der Revision aus den Gebieten des französischen Prozeßrechts, zu
denen auch Bayern mit seiner Civilproceßordnung von 1869 gehörte,
eingeschränkter waren als für die Gebiete des altpreußischen, des gemeinen und
des sächsischen Rechts. Weitere Unterschiede ergaben sich daraus, daß auch
materielles Landeszivilrecht anzuwenden war, wenn wie im Kaufrecht die
Regelungen des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches unvollständig waren.
Insoweit war das sächsische Bürgerliche Gesetzbuch revisibel, anders als dann
seit 1879. Die Verfasserin bespricht im ersten Teil ihrer Arbeit die Verfassung
des ROHG einschließlich des Geschäftsregulativs, die Zuständigkeit des Gerichts
und in diesem Zusammenhang auch die Erweiterung der Zuständigkeiten ohne Bezug
auf den Begriff der Handelssache, den Prozeß vor dem ROHG und die innere
Organisation des Gerichts. Von den insgesamt 32 Mitgliedern des ROHG stammten
14 (44 %) aus Preußen. Dies bedeutete de facto „ein preußisches Übergewicht“
(S. 38), das aber deutlich unter dem prozentualen Anteil Preußens an der Gesamtbevölkerung
des Reichs lag. Mitgeteilt wird auch die personelle Zusammensetzung der Senate
in den einzelnen Geschäftsjahren (S. 45ff.; zur Biographie einiger Richter erst
S. 174ff.).
Im zweiten
Teil (S. 97-195) erläutert die Verfasserin auf der Grundlage einer von ihr
erstellten Datenbank die Entscheidungstätigkeit des ROHG. Hierzu dient ihr die
amtliche Entscheidungssammlung mit ca. 22,7 % der Gesamtentscheidungen des
Gerichts als Quelle. Die Verfasserin hat nicht ausgewertet die Sammlung
sämtlicher Erkenntnisse des ROHG, die als Bestandteil der ehemaligen
Reichsgerichtsbibliothek 1990 in die Bibliothek des BGH gelangt ist. Diese „Sammlung“
umfaßt 87 Bände, in denen die Entscheidungen nach Ländern und insoweit nicht
insgesamt fortlaufend nach dem Entscheidungsdatum geordnet sind. Die
Verfasserin bezweifelt (S. 101f.) die Vollständigkeit dieser Sammlung, in der
Urteile wie auch später in der „Sammlung“ der Urteile des Reichsgerichts fehlen.
Ob die fehlenden Entscheidungen 20 % der Gesamtzahl umfassen – so die
Verfasserin – müßte noch detaillierter geklärt werden. Eine Berücksichtigung
der „Sammlung“ scheiterte nach der Verfasserin „nicht nur an der räumlichen
Entfernung, sondern schließlich auch an dem beträchtlichen Umfang und der
schwierigen inhaltlichen Zugänglichkeit des Werkes, die selbst eine zeitlich
vertretbare überblicksmäßige Untersuchung zunichte machten“ (S. 101). Diese
Sachzwänge sind zwar zu bedauern. Gleichzeitig können aber mit der Erschließung
der 2.764 in der amtlichen Sammlung (allerdings nicht immer vollständig)
veröffentlichten Entscheidungen die von der Verfasserin ermittelten Daten das
Gesamtbild aller Urteile nur in ihrer Grundtendenz widerspiegeln. Die Daten der
Verfasserin belegen zunächst die inhaltliche Entscheidungsvielfalt. So mußte
das Gericht einerseits im Rahmen des Handels-, Gesellschafts- und Wechselrechts
nicht nur das ADHGB und die Allgemeine Deutsche Wechselordnung anwenden,
sondern auch andere „Streitentscheidungsnormen“ aus dem Allgemeinen Landrecht
Preußens, dem Code zivil, dem sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuch usw. heranziehen.
Die von der Verfasserin mitgeteilten Statistiken erschließen in ihrer
Feingliederung z. B. die einzelnen Probleme in den jeweiligen Abschnitten und
Titeln des Handelsgesetzbuches. Für den Titel „Handelskauf“ werden
berücksichtigt: Annahmeverzug, Schuldnerverzug, Fixhandelskauf, kaufmännische
Mängelrüge, Kauf nach Probe, Gefahrtragung, Lieferungsgeschäft und besondere
Arten des Kaufs (S. 119; insges. 324 Entscheidungen). Zahlenmäßig aufgelistet
ist ferner die Zahl der Entscheidungen, bei denen es für die Streitentscheidung
auf nicht handelsrechtliche Normen ankam (für den Bereich Handels- und
Gesellschaftsrecht 351 Entscheidungen). S. 150ff. werden die Herkunftsländer
der Entscheidungen erschlossen, und zwar sowohl auf der Basis der amtlichen
Entscheidungssammlung als auch auf derjenigen der Geschäftsübersichten. In
diesem Zusammenhang geht die Verfasserin dem Einfluß landestypischer
Gegebenheiten und prozeßrechtlicher Regelungen nach (S. 154ff.). Für die
Zuständigkeiten der Senate konnte die Verfasserin gewisse Regelmäßigkeiten
hinsichtlich einer gattungs- und herkunftsbezogenen Verteilung ausmachen (S.
170ff.).
Im dritten
Teil (S. 197-268) analysiert die Verfasserin ausgewählte Entscheidungen des
ROHG zur kaufmännischen Rügepflicht (Art. 347 ADHGB, heute § 377 HGB; die
Regelung des § 378 HGB ist erst 1897 in das Gesetz aufgenommen worden). Die
Besprechung der Judikatur erfolgt nach 1897 abgeänderten und nach nicht
abgeänderten Tatbestandsmerkmalen; zu den letzteren gehören: Ablieferung,
Untersuchung (Untersuchungspflicht, Zeit der Untersuchung und ihre Art und ihr
Umfang), Mängelanzeige (Inhalt und Adressat der Anzeige, Träger der Verzögerungs-
und Verlustgefahr) und Genehmigung (Verständnis des Genehmigungsbegriffes;
anderweitige Genehmigung). Parallel dazu werden durchgehend die
Literaturmeinungen erörtert. Auch weist die Verfasserin auf die Fortwirkung der
ROHG-Judikatur in den Entscheidungen des Reichsgerichts und des
Bundesgerichtshofs hin (etwa S. 149f. zum Problem „Art und Umfang der
Untersuchung“), insgesamt zeichnete sich die Rechtsprechung des ROHG durch
besondere Gesetzestreue aus; Priorität hatten der unmittelbare Wortlaut der
Norm und der Wille des historischen Gesetzgebers. Impulse bzw.
Profilierungsversuche gingen von dieser Judikatur kaum aus. Auf diese Weise
hat, so die Verfasserin S. 268, das ROHG „den Weg für ein umfassend zuständiges
Reichsgericht geebnet und sich als wahres Vorbild für Gegenwart und Zukunft
erwiesen“. Als Anlagen teilt die Verfasserin den Wortlaut des Gesetzes über die
Errichtung des ROHG sowie eine Gliederungsübersicht zur Datenbank mit
(beispielsweise für das ALR und das sächssische BGB). Ein knappes Sachregister
schließt das Werk ab, das in den aufgezeigten Begrenzungen für einen wichtigen
Teilbereich die handelsrechtliche Judikatur des ROHG umfassend erschließt.
Allerdings beschränkt sich der Abschnitt über die kaufmännische Mängelrüge
primär auf die dogmengeschichtliche Analyse. Insgesamt dürfte es noch zu früh
sein, nur aufgrund der Analyse der Urteile zu Art. 347 ADHGB die
handelsrechtliche Judikatur des ROHG inhaltlich, insbesondere auch
sozial(rechts-)geschichtlich zu bewerten. Jedenfalls liegen hier noch, über die
Kontinuitätsfrage hinaus, weitere Themenfelder einer Erschließung der
ROHG-Judikatur.
Dies
verdeutlicht auch die allerdings erheblich weniger umfangreiche Studie Kristina
Möllers zur Rechtsprechung
des Reichsgerichts in Zivilsachen. Der Abschnitt über die Geschichte des
Reichsgerichts behandelt dessen äußere und innere Organisation. Auf die
Errichtung des Reichsgerichts und die einschlägigen Bestimmungen des
Gerichtsverfassungsgesetzes geht die Verfasserin nur knapp ein. Weniger Probleme
als für das ROHG warfen die Zuständigkeiten und die Geschäftsverteilung auf.
Auf die RG-Präsidenten geht die Verfasserin kaum ein. Weiter ausgeführt ist der
Abschnitt über die Rechtsprechung des Reichsgerichts von 1879 bis 1899.
Grundlage der Datenbank der Verfasserin ist die amtliche Sammlung der
RG-Entscheidungen (RGZ Bd. 1-45), wobei für das Handelsrecht auch noch die
Bände 46-50 herangezogen werden, soweit sie Entscheidungen zum ADHGB enthalten.
Daß Möller nicht die
„Sammlung“ sämtlicher Erkenntnisse des Reichsgerichts in Zivilsachen
ausgewertet hat, beruht auf den gleichen Gründen, die für die Arbeit Winklers
maßgebend waren. Da in der amtlichen Sammlung prozentual weniger Entscheidungen
abgedruckt sind als in derjenigen für das ROHG, können die von der Verfasserin
ermittelten Statistiken ebenfalls nur die ungefähre Richtung aufzeigen.
Insbesondere beschränkt sich Möller darauf, die (veröffentlichte) Judikatur des
Reichsgerichts nur für die Reichsgesetze zu erschließen. Die RGZ-Bände umfassen
die Entscheidungen für die Anfangszeit nur zu einem Drittel, für die Mitte der
achtziger Jahre bereits zu 40–60 %. In der zahlenmäßigen Erschließung der
Urteile zum Reichsrecht bringt die Verfasserin mehrere Detailgliederungen, z.
B. für das Wechselrecht (Rückgriff und Protest, Einwendungen, Blankowechsel,
Eigenwechsel, Verjährung, Akzept, Ausstellung, Indossament, Diverses, Wechselprozeß,
Erfüllung der Wechselverbindlichkeit und Wechselbürgschaft), insgesamt 104
Entscheidungen, wobei jeweils auf einige Rechtsprobleme näher eingegangen wird.
Für die Detailanalyse hat die Verfasserin den Problemkreis eines Gesetzes
ausgewählt, das erst mit der Installierung des Reichsgerichts in Kraft trat,
nämlich die Konkursanfechtung nach den §§ 22ff. KO a. F. (§ 29 ff. KO n. F.). Die Rechtsprechungsanalyse
beschränkt sich auf die wichtigsten Problembereiche (Konkursanfechtung im
allgemeinen, die besondere Konkursanfechtung nach § 23 KO, die
Absichtsanfechtung nach § 24 KO, die Schenkungsanfechtung nach § 25 KO und den
Rückgewähranspruch; Urteile zu § 3 AnfG werden miteinbezogen). Über die in RGZ
veröffentlichten Entscheidungen hinaus werden auch in der Juristischen
Wochenschrift veröffentlichte Urteile herangezogen (vgl. die Übersicht S.
162f.). Insgesamt ist die Darstellung kompakter als bei Winkler.
Literaturmeinungen werden nur dann behandelt, wenn sie gegenüber dem
Reichsgericht abweichende Ansichten vertraten. Eventuelle Kontinuitäten mit der
preußischen Konkursordnung von 1855 werden nur thematisiert, wenn das
Reichsgericht ausdrücklich darauf einging. Nicht unproblematisch ist die von
der Verfasserin zunächst vorgenommene Beschränkung auf die Urteile bis 1899.
Jedoch läßt sich dies damit rechtfertigen, daß bis dahin nahezu alle wichtigen
Fragen der Konkursanfechtung höchstrichterlich geklärt waren. Erst im vierten
Teil geht die Verfasserin der weiteren Entwicklung des Konkursanfechtungsrechts
in der Rechtsprechung nach (S. 137-147). Insgesamt läßt sich für diesen Bereich
ein sehr hohes Maß an Kontinuität feststellen. Dabei ist zu berücksichtigen,
daß das Reichsgericht den in den achtziger und neunziger Jahren des 19.
Jahrhunderts entwickelten maßgebenden Standpunkt erst nach einer gewissen
Experimentierphase gefunden hat. Noch stärker als Winkler hat sich Möller mit
einer inhaltlichen Bewertung der Judikatur des Reichsgerichts – über die
rechtsdogmatischen Fragen hinaus – zurückgehalten. Nach der Verfasserin war die
„Präsenz von rechtsgeschichtlichen Erwägungen“ besonders aus der
Entstehungsgeschichte der Konkursordnung im Rahmen der Urteilsbegründungen
auffällig. Wie das Reichsoberhandelsgericht hat auch das Reichsgericht in
seiner Frühzeit sich in den „Dienst der Sicherung und Fortentwicklung der
Rechtseinheit“, soweit sie zunächst bestand, gestellt.
Insgesamt
vermitteln die Monographien Winklers und Möllers einen ersten Einblick in die
Entscheidungspraxis und in die Folgewirkungen der Judikatur des
Reichsoberhandelsgerichts und des frühen Reichsgerichts. Es gilt nun, die
gewonnenen Einsichten, möglichst unter Benutzung der „vollständigen“
Urteilssammlungen weiterzuführen und zu vertiefen.
Kiel Werner
Schubert