KugelmannDrewes20010703 Nr. 10215 ZRG 119
(2002) 87
Drewes, Eva,
Entstehung und Entwicklung des Rechtsschutzes vor den Gerichten der
Europäischen Gemeinschaften am Beispiel der Nichtigkeitsklage (= Schriften zur
europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 33). Duncker
& Humblot, Berlin 2000. 155 S.
Die
Nichtigkeitsklage der Art. 234 EGV, Art. 33 EGKSV und Art. 146 EAGV erlaubt die
Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Organe der Europäischen
Gemeinschaften. Ihre Bedeutung in der Praxis liegt aus der Sicht natürlicher
und juristischer Personen darin, dass sie als einziger Rechtsbehelf einen
unmittelbaren Zugang zum Europäischen Gerichtshof bzw. zum Gericht erster
Instanz eröffnet. Sofern die Gemeinschaften durch Handlungen unmittelbar den
Rechtskreis von privaten Rechtssubjekten verletzen, stellt die
Nichtigkeitsklage das taugliche Rechtsmittel zur Verfügung. Die
Nichtigkeitsklage ermöglicht letztlich eine umfassende
Rechtmäßigkeitskontrolle, da zur Klage alle Organe der Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten berechtigt sind. An die Seite der
subjektiven tritt eine objektive Rechtskontrolle, weil die privilegierten
Klagebefugten eine Verletzung eigener Rechte nicht behaupten müssen. Derart
privilegiert sind die Mitgliedstaaten, der Rat und
die Kommission; nach dem Vertrag von Nizza wird das Europäische Parlament zu
diesem Kreis dazukommen.
Der Ansatz,
die Entstehungsgeschichte und Entwicklung dieses prozessualen Instruments zu
verfolgen, verspricht interessante Erkenntnisse, da es an einer besonderen
Schnittstelle der Tätigkeiten der Europäischen Gemeinschaften zu den Interessen
der Akteuren liegt. Zudem ist die Untersuchung der Entstehungsgeschichte eines
Rechtsinstruments des Gemeinschaftsrechts keine Selbstverständlichkeit. Denn
die rechtshistorische Aufarbeitung der europäischen Integration jenseits der
überwölbenden politischen Grundzüge steht noch am Anfang. Die Verfasserin nimmt allerdings keinen einfachen Längsschnitt durch die
Rechtsentwicklung vor. Sie schildert vielmehr die Entstehung der Nichtigkeitsklage
vor einem rechtsvergleichenden Hintergrund, indem sie die Konzeptionen in
Frankreich und Deutschland darstellt, um dann deren Einfluss auf das
europäische Modell zu untersuchen. Die These der Arbeit geht dahin, dass mit
der Nichtigkeitsklage nicht einfach das französische Vorbild übernommen wurde,
sondern sich vielmehr ein eigenständiger europarechtlicher
Rechtsbehelf herausgebildet hat.
Ausgangspunkt
sind die Verhandlungen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften. Die
sorgfältig recherchierte Darstellung von Drewes zeichnet
detailliert die Entstehung der Nichtigkeitsklage im Vertrag zur Gründung der
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl nach. Das Konzept des EGKSV wurde
für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische
Atomgemeinschaft dem Grunde nach weitgehend übernommen. Die Schilderungen von Drewes
beruhen neben dem Studium der Quellen auch auf Gesprächen mit Beteiligten und
Zeitzeugen wie Hans Kutscher
oder Hermann Mosler.
Die Aufarbeitung der Gründungsverhandlungen reicht weit über das Thema
Nichtigkeitsklage hinaus. Dokumente, die den Bereich Rechtsschutz näher
berühren, sind im Wortlaut abgedruckt. Dabei handelt es sich etwa um Briefe, um
Berichte der deutschen Delegation an das Auswärtige Amt oder um Redaktionsentwürfe
der Delegiertenkonferenz. Der Gedanke, eine effektive gerichtliche Kontrolle
einzuführen, stand von vornherein in engem Zusammenhang mit dem supranationalen
Charakter der Gemeinschaft. Die gerichtliche Kontrolle der Hohen Behörde der
Montanunion erweist sich als Erfolg der deutschen Delegation, die eine
Erweiterung der gerichtlichen Befugnisse betrieb. Die Klagegründe der
Nichtigkeitsklage dagegen stammen aus dem französischen Recht.
Dann wendet
sich die Verfasserin der
Rechtsvergleichung zu. In ihren Ausführungen zum Rechtsschutz gegen Maßnahmen
der Verwaltung in Frankreich gelingt ihr auf engstem Raum eine übersichtliche
Darstellung der französischen Rechtsentwicklung. Sie betont die eher objektive
Zielrichtung des Verwaltungsrechtsschutzes. Gerade unter diesem Gesichtspunkt
wäre allerdings ein intensiveres Eingehen auf das Rechtsschutzinteresse, den intérêt à agir, angebracht
gewesen. Denn die Klagebefugnis der Nichtigkeitsklage im Gemeinschaftsrecht
wird vor diesem Hintergrund diskutiert. Dagegen legt Drewes den Schwerpunkt auf
die Gründe für die Begründetheit der Klage.
Parallel
dazu behandelt die Verfasserin
auf sieben Seiten den Rechtsschutz gegen hoheitliche Maßnahmen in Deutschland.
Sie stellt historische Bezüge, etwa zur kurhessischen Verfassung von 1831 her,
widmet aber sowohl der Klagebefugnis des § 42 Abs. 2 VwGO
wie dem Problem der gerichtlichen Kontrolldichte nur wenige Sätze. Sicherlich
können für die Zwecke der Abhandlung keine eingehenden Ausführungen zu diesen
schwierigen und komplexen Materien erwartet werden. Die Verkürzung auf
Stichworte führt aber dazu, dass auch die themenbezogenen Elemente der
Problematik zu kurz kommen. So wird weder die Diskussion um die Objektivierung
des subjektiv-öffentlichen Rechts geschildert, noch wird das Verhältnis
gerichtlicher Kontrolldichte zu Instrumenten verwaltungsinterner Vorkontrolle
thematisiert. Für die Beurteilung der europarechtlichen Konzeption hätte die
Behandlung derartiger Fragen ertragreich sein können.
Den Teil
ihrer Arbeit zur Europäischen Rechtsanwendung versteht Drewes als zentrales
Element der Arbeit, denn es geht um das Spannungsfeld zwischen subjektivem
Rechtsschutz und objektiver Rechtskontrolle. Die Verfasserin zeigt, dass der Europäische Gerichtshof die
Voraussetzungen der Nichtigkeitsklage eigenständig auslegt. Nunmehr geht sie
auch näher auf den Kristallisationspunkt der Klageberechtigung Privater ein.
Die Ausführungen bleiben aber eher an der Oberfläche. Drewes konzentriert sich
wiederum auf die Begründetheit und untersucht die Ermessenskontrolle durch den
Europäischen Gerichtshof. Dazu schildert sie die Rechtslage in Frankreich und
Deutschland, was sie bereits in ihrem rechtsvergleichenden Teil hätte tun
können. Schon der französische Wortlaut der Vorschriften in den Verträgen
deutet auf die Kontrolle des Endzwecks („détournement
de pouvoir“), während der deutsche Wortlaut
(„Ermessensmissbrauch“) den Eindruck einer umfassenden Ermessenskontrolle
vermittelt. Der Europäische Gerichtshof hat eine über das französische Modell hinaus
gehende Ermessenskontrolle entwickelt, die eine weit gehende Prüfung der
Rechtmäßigkeit erlaubt, ohne dass er die deutsche Ermessensfehlerlehre
übernommen hätte. An diesem Punkt veranschaulicht Drewes, dass die Beiträge
unterschiedlicher Staaten in den Gründungsverhandlungen sich in den Regelungen
zwar niederschlagen. Letztlich hat der Europäische Gerichtshof aber eigene
Lösungswege gefunden.
In der
Arbeit liegt der Schwerpunkt eher auf der Entstehung als auf der Entwicklung
des Rechtsschutzes mittels der Nichtigkeitsklage. Die eingehende Behandlung des
EGKS-Vertrages ist ein weiterführender Ansatz für weitere Arbeiten über die
Geschichte der Europäischen Gemeinschaften, da dieser Vertrag im Jahre 2002
ausläuft und sich eine historische Sichtweise insoweit aufdrängt. Bei der
Behandlung des geltenden Rechts durch die Verfasserin bleiben Wünsche offen. Eine Vertiefung der
kursorischen Betrachtungen des deutschen Rechts hätte zu der Einsicht führen
könne, dass eine Konvergenz der Rechtsprechungen nicht auszuschließen ist. Die
Konzepte des Europäischen Gerichtshofes könnten näher an modernen
innerstaatlichen Rechtsentwicklungen liegen, als dies den Anschein hat. Auch
die Rechtsprechung des EuGH selbst hätte stärker ausgewertet werden können. Drewes
erörtert vorwiegend frühe Entscheidungen. Die Entwicklung der Nichtigkeitsklage
wird allenfalls in Grundzügen verdeutlicht. Die Stärken der Arbeit liegen damit
in der historischen Einordnung von Regelungen in ihre Entstehungsgeschichte.
Die grundlegende These, dass der Rechtsschutz in den Europäischen
Gemeinschaften nicht dem französischen Modell verhaftet blieb, sondern
autonomen Charakter trägt, wird für den Bereich der Ermessenskontrolle
überzeugend belegt. Eine Rechtsgemeinschaft prägt auch eigene Mechanismen des
Rechtsschutzes aus.
Mainz/Frankfurt
am Main