EndresReif20010511 Nr. 10082 ZRG 119 (2002) 53
Reif, Heinz, Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Oldenbourg, München 1999. 156 S.
Die „Enzyklopädie deutscher Geschichte“ will vor allem
Studenten, Geschichtslehrer und interessierte Laien rasch und zuverlässig über
den gegenwärtigen Stand der Forschung und Kenntnisse in den verschiedenen
Bereichen der deutschen Geschichte informieren. Dies trifft in vorbildlicher
Weise auch auf den Band von Heinz Reif zur Geschichte und Bedeutung des Adels
im 19. und 20. Jahrhundert zu. In einem Überblick werden zunächst die Grundzüge
der Adelsstruktur zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgezeigt. Dabei wird vor
allem die innere Differenzierung des Adels hervorgehoben, also die Unterschiede
der Herkunft, des Reichtums, der Praxisbereiche, der Adelsqualität und der
Rechtsstellung. Auch wirkte die territoriale Vielfalt des Reiches noch lange
nach, so dass auch im 19. Jahrhundert zahlreiche regionale Adelstraditionen
nebeneinander bestanden. Wesentlich schneller als der hohe Adel verlor der
niedere seine Vorrangstellung, und nach 1848 blieben ihm nur noch einige
unwichtige Privilegien. Da seit 1815 alle 36 Fürsten des Deutschen Bundes das
Recht besaßen, den Adel zu verleihen, setzte eine dynamische Nobilitierungspolitik ein. Grundvoraussetzung für die
Selbstbehauptung des Adels war die Bewahrung seines Landbesitzes, was nach Reif
erfolgreich gelang, insbesondere in Ostelbien.
Weiterhin besetzte der Adel die Mehrheit der höheren Stellen des Staates, die
Regierungs-, Verwaltungs- und Militärämter und
selbstverständlich die glänzenden Hofämter. 60 bis 70% der preußischen
Adelssöhne dienten im Militär. Mit dem Wegfall von mehr als 6000
Offizierstellen 1918/20 wuchs aber der Druck auf die Adelssöhne, in neue Berufe
zu gehen, was auch für die nicht heiratenden Adelstöchter galt. Große Höfe wie
München, Dresden, Hannover und Berlin haben den Adel stabilisiert, da sie den
alten Adelsrang stützten und die Ungleichheit der Geburt akzentuierten. So ist
auch von einer Öffnung des Adels und einer „Verschmelzung“ von Adel und
Bürgertum zu einer neuen und modernen Elite nur wenig zu erkennen. Das Aufsehen
der wenigen Verbindungen war größer als die Zahl solcher Fälle, wie Reif
nachweist. In der Politik erfreute sich der Adel in Preußen und Bayern durch die
Einrichtung des Herrenhauses und der 1. Kammer einer besonderen Stützung durch
die Monarchie, wie auch durch die Heroldsämter und
Adelsmatrikeln und die strengen Hofrangsordnungen. Dies alles ging 1918
verloren, was der Adel als Schock erlebte. Das traditionelle System familiarer Besitzsicherung wurde nun aufgelöst.
Hausgesetze, standesspezifische Heirats- und Erbregeln und das Fideikommiss
wurden aufgehoben. Im Nationalsozialismus war die Zukunft und Rolle des Adels
zunächst sehr unsicher. Aber letztlich konnte Hitler auf den Adel als Besitzer
großer Güter und als Reservoir für Offiziere und Diplomaten nicht verzichten.
Ein letztes Mal profitierte der Adel, wie Reif betont, von einem Bündnis mit
der Macht. Allerdings kam auch ein Drittel der Männer und Frauen des
Widerstands aus dem Adel. Die „Bodenreform“ nach 1945 besonders östlich der
Elbe beendete eine mehr als tausendjährige Adelsgeschichte in Deutschland.
In einem zweiten großen Kapitel werden die Grundprobleme
und Tendenzen in der Forschung eingehend dargelegt, analysiert und diskutiert.
Dies gilt etwa für die Nobilitierungspolitik und ihre
Auswirkungen, für die Korrektur der „Verdrängungsthese“ oder für die Krise des
„Agrarstaats“, um nur einige Bereiche herauszugreifen. Abschließend werden
Perspektiven künftiger Adelsforschung aufgezeigt, wobei Reif neue Konzepte und
Kategorien der Elitenbildung einfordert, um die Geschichte des Adels in der
bürgerlichen Gesellschaft umfassend erforschen und aufzeigen zu können.
Bayreuth Rudolf
Endres