LammelZivilprozess20000414
Nr. 1057 ZRG 118 (2001)
Zivilprozess und Gerichtsverfassung, hg. v. Schubert,
Werner (= Akademie für Deutsches Recht 1933 – 1945. Protokolle der
Ausschüsse 6). Lang, Frankfurt am Main – Berlin – Bern – New York – Paris -
Wien 1997. XI, 906 S.
Die Zivilprozessordnung stammt zwar ebenso wie das
Bürgerliche Gesetzbuch noch aus dem 19. Jahrhundert, ist aber wesentlich älter
als dieses, da sie bereits mit den anderen sog. Reichsjustizgesetzen 1877
erlassen worden ist. Die in ihr zum Ausdruck kommenden, der Hochzeit des
Liberalismus entstammenden Ideen einer weitgehenden Parteiherrschaft haben sich
nicht bewährt. Deshalb kamen bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts
Bestrebungen zur Reform auf, um das Verfahren zu straffen und letztendlich
wirkungsvoller zu gestalten. Hierbei stießen immer ‑ und stoßen noch
heute ‑ zwei fundamentale Prinzipien des Zivilprozesses aufeinander: die
Parteiherrschaft einerseits, zum Ausdruck kommend in der Dispositions‑
und Verhandlungsmaxime, und die Wahrheitspflicht, deren Erfüllung letztlich
eine Amtsermittlung fordert[1].
In diesen großen Rahmen sind auch die Diskussionen der
Ausschüsse und Ämter im vorgelegten Band der Akademieprotokolle einzuordnen.
Zunächst gibt Schubert als Herausgeber in der Einleitung einen kurzen
Überblick über die Beratungen der Ausschüsse, dann über die Entwicklung des
Zivilprozessrechts im Zeitraum von 1877 bis 1945, um daran anknüpfend die
Reformdiskussionen bis zum Entwurf von 1931 nachzuzeichnen. Schließlich hebt er
die reformorientierten Arbeiten wichtiger Persönlichkeiten im Akademieausschuss
hervor, um dann die Einleitung mit einer Bibliographie der Ausschussmitglieder
abzurunden. Im Rahmen dieser Einführung muss er allerdings betonen, dass es ihm
aus finanziellen Gründen nicht gelungen ist, das gesamte zur Verfügung stehende
Material zu veröffentlichen, er vielmehr gezwungen war, eine Auswahl zu
treffen. Der zeitliche Rahmen der mitgeteilten Beratungen erstreckt sich von
Januar 1934 bis Oktober 1937, um dann ab Dezember 1941 fortzufahren bis Juni
1944.
Bei der Bewertung des trotz der Beschränkung sehr
umfangreichen Materials bilden die beiden genannten zeitlichen Abschnitte nicht
nur eine zeitliche Zäsur, sondern durchaus auch eine Änderung im
Argumentationsstil. Während die erste Epoche trotz des neuen ideologischen
Hintergrundes weitgehend von zivilprozessrechtsimmanenten Argumenten geprägt
war, entfernte sich die zweite Epoche argumentativ doch mehr von dieser Basis,
was besonders beim Sonderausschuss „Wahrheitserforschung im Streitverfahren“
auffällt. Hier hielt nur Pagenstecher an den Grundgedanken einer
Parteiherrschaft fest, während die Tendenz der übrigen Ausschussmitglieder
dahin ging, die Befugnisse des Richters im Interesse der Rechtsfindung zu
stärken. Gemeinsam ist aber sämtlichen Diskussionen das Bestreben, den
Zivilprozess effektiver zu gestalten. Dabei entfernte man sich immer mehr von
der ursprünglich liberalen Konzeption der Zivilprozessordung, die es den
Parteien anheim gestellt hatte, ihr Recht durch entsprechende
Verfahrensgestaltung zu suchen. In expliziter Abkehr sollte dem neuen
Zivilprozess die Wahrheitsfindung als vorrangiges Leitbild dienen. Nicht mehr
der private Rechtsausgleich stand im Vordergrund, sondern die Interessen der
Allgemeinheit an der Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Diese Konzeption
verlangte eine stärkere Beteiligung des Richters an der Lenkung des Prozesses
und führte in aller Deutlichkeit zu dem Gegensatz von Verhandlungsmaxime und
Wahrheitspflicht mit dem sich unmittelbar daraus ergebenden Problem der
Ermittlungen von Amts wegen. Das endete schließlich bei der Problematik, die
Bindung des Richters an die Anträge der Parteien zu lockern, wenn erkennbar
wird, dass durch die Beschränkung der zwischen den Parteien herrschende Streit
nicht umfassend geschlichtet werden kann. Diese Frage darf aber nicht nur unter
ideologischen Gesichtspunkten gesehen werden ‑ zumal mehrfach, sowohl im
ersten Zeitraum als auch in dem ideologisch mehr durchsetzten zweiten, betont
wurde, dass das Führerprinzip im Zivilprozess keine Anwendung finden könne ‑,
sondern unter dem Gesichtspunkt eines effektiven Mitteleinsatzes der Justiz:
der Richter, der sich in den Sach‑ und Streitstand einmal gründlich
eingearbeitet hat, solle nicht erneut mit anderen Aspekten desselben Falles
belastet werden, sondern seine Arbeitskraft rationell dadurch einsetzen, dass
der Streit umfassend in einem Verfahren erledigt wird.
Mit dem Problem des rationellen Einsatzes der Arbeitskraft
des Richters ‑ der kriegsbedingte Personalmangel wurde hierbei mehrfach
angesprochen ‑ eng verbunden war die Frage, in welcher gerichtlichen Form
die einzelnen Rechtsstreitigkeiten bearbeitet werden sollten: im Kollegium,
durch den alleinentscheidenden Einzelrichter, durch den Rechtspfleger, durch
Güteverfahren, Zulassung von Billigkeitsentscheidungen oder letztlich durch
einen Schöffenrichter als sog. Volksrichter, der aber nicht mit dem Personal
des Volksgerichtshofes verwechselt werden darf. Grundlage der Überlegungen war
hierbei die Erkenntnis, dass es durchaus Rechtsstreitigkeiten gibt, deren
Schlichtung nicht unbedingt Rechtskenntnisse voraussetzt, sondern mehr ein
Einfühlungsvermögen in die besonderen Lebensverhältnisse. Aber auch bei der
Frage, ob der Einzelrichter allein entscheiden soll, sowie insgesamt bei der
Überbürdung erweiterter Lenkungsaufgaben auf das Gericht wurde ständig auf die
Notwendigkeit hingewiesen, dass die Richter entsprechende Persönlichkeiten sein
müssten. Dass hiermit nicht unbedingt der NS‑Rechtswahrer gemeint sein
musste ‑ obwohl die Fortbildung in den Ordensburgen und durch
Richterbriefe durchaus angesprochen worden ist ‑, ergibt sich aus den
beiden Gutachten von Sattelmacher zu Ausbildungsfragen mit dem
Ergänzungsgutachten von Otto Palandt[2], die zu einem
Zeitpunkt erstattet worden sind (1944), zu dem wohl schon mit einem Ende der NS‑Herrschaft
gerechnet wurde, jedenfalls stehen die Gutachten ‑ formell und materiell
im deutlichen Gegensatz zu den vorher noch mitgeteilten Diskussionen. Mit ihrer
Ablehnung z. B. von einer Fachschulausbildung und der Forderung nach einem
Zusammenspiel von Theorie und Praxis während der Ausbildung zeigen sie Gedanken
auf, auf die auch heute noch zurückgegriffen werden könnte.
Damit ist schon der Wert dieser Edition für die gegenwärtige
Diskussion um eine Reform des Zivilprozesses angesprochen. Es darf zwar nicht
verkannt werden, dass die zeitbedingte Ideologie eine Umgestaltung des
Verfahrens, weg von der Parteiherrschaft hin zur Herrschaft des Gerichts,
erleichtert hat, und das mag bei den Akademiediskussionen durchaus eine Rolle
gespielt haben, auch wenn es nur selten offen ausgesprochen worden ist. Der
Referentenentwurf über ein Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom Dezember
1999 will ebenfalls die materielle Prozessleitungsbefugnis des Gerichts stärken[3], ohne
allerdings auf das geänderte Verständnis vom Zivilprozess hinzuweisen; insoweit
waren die Akademiediskussionen ehrlicher. Denn die beabsichtigte gesteigerte
gerichtliche Prozessleitungspflicht ist ‑ insbesondere unter Anwälten ‑
nicht unumstritten[4].
Aus diesen Kreisen wurde schon nach der Reform 1976 die ‑ nicht
unkommentiert gebliebene[5] ‑ Frage
gestellt: „Wer führt den Zivilprozess ‑ der Anwalt oder der Richter?[6]. Auf dem 61.
Deutschen Juristentag 1996 in Karlsruhe wurde von Anwaltsseite das Verhältnis
von Aufklärungspflicht und Verhandlungsmaxime wiederum problematisiert[7], und
entsprechend wurden alle Vorschläge hinsichtlich einer allgemeinen
Aufklärungspflicht in erster Instanz mit den sich daraus ergebenden
Einschränkungen bei der Berufung abgelehnt[8]. Der
Referentenentwurf geht auf diese Problematik nicht ein, obwohl er ‑
durchaus in inhaltlicher Übereinstimmung mit den Akademieberatungen ‑
eine tiefgreifende strukturelle Umgestaltung des Zivilprozesses vornimmt. Ziel
dieser Reform ist es ‑ wenn von den finanziellen Überlegungen abgesehen
werden soll ‑, die erste Instanz zu stärken und die Rechtsmittelinstanzen
nur zur rechtlichen (nicht mehr auch zur tatsächlichen) Überprüfung des ersten
Urteils bzw. zur Wahrung der Rechtseinheit und zur Klärung von Grundsatzfragen
zu verwenden[9].
Diese Möglichkeiten stehen den politischen Entscheidungsträgern durchaus offen,
nur wäre es methodisch ehrlicher gewesen, auf den Paradigmenwechsel deutlich
hinzuweisen und sich hierüber auch Rechenschaft abzulegen. Methodenfragen
scheinen aber in der modernen Gesetzgebung nicht an vorderster Stelle zu
stehen. Auch die Problematik der Richterausbildung angesichts der Verlagerung
der Entscheidungen nicht nur der ersten Instanz, sondern auch weitgehend der
zweiten Instanz auf den Einzelrichter[10] bleibt völlig
ausgespart, wiederum im Gegensatz zu den diesen Punkt stark betonenden
Akademieberatungen. Auf die Ausbildungsfragen ist ebenfalls beim 61. Deutschen
Juristentag hingewiesen worden[11], ebenso auf
die Abhängigkeit der Effektivität des Einzelrichtereinsatzes vom jeweiligen
Richtertyp[12].
Die Ausbildungsordnungen stellen insoweit ein Phantom von Richter[13] vor, das in
der Realität nie vorkommt, wie die zahllosen Diskussionen zur Reform der
Juristenausbildung zeigen[14]. Richter, die
statt ihres Verstandes nur auswendig gelernte Entscheidungen des
Bundesgerichtshofes (und davon meistens nur die Leitsätze) benutzen ‑
ohne auf deren konkreten Zusammenhang zu achten[15] ‑,
werden den Qualitätsanforderungen, die die Stärkung der ersten Instanz mit sich
bringt, kaum im Sinne der angestrebten bürgernahen Justiz gerecht werden. Alles
in allem zeugen die Akademieberatungen von einem Niveau und einer Durchdringung
der Reformproblematik, die sich hinter den modernen Reformbestrebungen nicht zu
verstecken brauchen. Sowohl unter geistesgeschichtlichem als auch
prozessrechtsdogmatischem Aspekt ist die Lektüre ein Gewinn.
Frankfurt am Main Siegbert
Lammel
[1] Ein Gegensatz, der sich noch weiter in die Geschichte zurückverfolgen lässt, s. Bomsdorf, Prozessmaximen und Rechtswirklichkeit. Verhandlungs‑ und Untersuchungsmaxime im deutschen Zivilprozess ‑ Vom gemeinen Recht bis zur ZPO, 1971.
[2] Leider finden sich für diese beiden Gutachter keine bibliographischen Hinweise in dem entsprechenden Abschnitt der Edition. Zu Palandt jüngst Slapnicar, NJW 2000, 1692, der aber dem in dem Gutachten zum Ausdruck kommenden Ideengehalt Palandts nicht gerecht wird, indem er nur auf die politisch angehauchten Vorworte zum BGB-Kommentar abstellt.
[3] Siehe S. 70 Referentenentwurf sowie die Begründung zu § 139 E, S. 104.
[4] Busse, Justizreform so, eine schöne lllusion, NJW 2000, 785.
[5] Siehe Brinkmann, NJW 1985, 2460.
[6] Birk, NJW 1985, 1489.
[7] Senninger, Verhandlungen 61. DJT, II, l, S. 1 14.
[8] Verhandlungen 61. DJT, II, l, S.1 67, Beschlüsse Nr. I 1, IV 1 bis 11.
[9] So deutlich Däubler‑Gmelin, ZRP 2000, 35.
[10] Referentenentwurf, S. 71/80.
[11] Verhandlungen 61. DJT, 11, 2, S.1 103.
[12] Bischof, ZRP 1999, 354.
[13] In der Präambel zum hessischen Justizausbildungsgesetzes heißt es z. B.: „Ziel der juristischen Ausbildungsreform ist der kritische, aufgeklärt rational handelnde Jurist, der sich seiner Verpflichtung als Wahrer des freiheitlich demokratischen und sozialen Rechtsstaats bewusst ist und in der Lage ist, die Aufgaben der Rechtsfortbildung zu erkennen.
[14] Zuletzt Goll, ZRP 2000, 38, dessen Vorstellungen sich durchaus mit denen von Sattelmacher vor über 50 Jahren (!) decken.
[15] Abschreckende Beispiele für die sich daraus ergebende Zitierwut, insbesondere wenn ein sog. abgeordneter Richter beteiligt ist, sind die Entscheidungen des OLG Frankfurt, NJW 1986, 2117; 1987, 848; NJW‑RR 1986, 1176; 1350; 1987, 91; 310; 1988, 128; ZMR 1986, 358; JurBüro 1986, 1848; MDR 1987, 331; darin sollen sich wohl die von den Anforderungsprofilen für Beförderungsämter, s. JMBI Hessen 1999, 175, geforderten weit überdurchschnittlichen bzw. herausragenden Rechtskenntnisse manifestieren. Symptomatisch erscheint auch, dass die Rechtskenntnisse nur eine von insgesamt 14 „Besonderen Voraussetzungen“ und von insgesamt 32 „Allgemeinen“ und „Besonderen Voraussetzungen“ darstellen.