Precht, Richard David/Welzer, Harald, Die Vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 288 S., 4 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Wer sich die einfache Frage stellt, wie viel unseres „Wissens“ auf eigener unmittelbarer Erfahrung und Wahrnehmung beruht und wie viel davon uns über verschiedene Kanäle mittelbar zugetragen wird, erkennt sofort die eminente Bedeutung von Medien und deren damit einhergehende Machtposition. Sie konstituieren ganz überwiegend unsere jeweiligen Realitäten und unser „Wissen“ über die Welt. Medienkompetenz, also die Fähigkeit, die Glaubwürdigkeit von Informationsquellen zu prüfen und zu hinterfragen, wird damit immer mehr zu einer Schlüsselqualifikation des idealen aufgeklärten Bürgers im demokratischen Staat. Dieser mag in erster Linie den ihrem öffentlich-rechtlichen Auftrag verpflichteten, sogenannten Qualitätsmedien vertrauen.

 

Doch wie steht es heute um dieses Vertrauen und ist es überhaupt noch gerechtfertigt? Zwei prominente kritische Diagnostiker gegenwärtiger Lagen, die nicht zuletzt ihre Prominenz auch ihrer starken medialen Präsenz verdanken, der Philosoph Richard David Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer, Erforscher basaler Erkenntnisse zur Formierung von Täterschaft, untersuchen im vorliegenden Band gemeinsam diese Problematik. Sie sind nicht zuletzt motiviert durch geteilte schmerzhafte persönliche Erfahrungen, durch ein mediales Bashing, mit dem sie sich wegen ihrer exponierten Stellungnahmen gegen Waffenlieferungen an die angegriffene Ukraine (Einzelheiten sind in der Online-Enzyklopädie Wikipedia nachzulesen) konfrontiert sahen. Die beiden Verfasser arbeiten schon länger sporadisch zusammen und haben 2016 einen Beitrag in der „Zeit“ publiziert, in dem sie in der Flüchtlingsfrage das zögerliche Handeln einer älteren Generation intellektueller Entscheidungsträger kritisch hinterfragen und mehr Einfluss für eine weltoffene Jugend fordern.

 

In ihrer jüngsten Publikation legen sie dar, wie ihrer Auffassung zufolge „Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“ (Untertitel). „Deliberativ, inklusiv, integrierend, vermittelnd, bürgernah, pluralistisch, demokratiefördernd“ hätten die Leitmedien eigentlich zu agieren, müssten dabei „die Geplagten umsorgen und die Umsorgten plagen“ (S. 58f.) und für jenen „herrschaftsfreien Diskurs“ (Jürgen Habermas) sorgen, der einer „bürgerlichen Öffentlichkeit“ notwendig zugrunde liege und das Funktionieren der liberalen Demokratie gewährleiste. Da aber neben demokratischen Idealen ebenso kapitalistische Interessen die Medienlandschaft prägten, sei es zu einer Verzerrung gekommen: Auf der einen Seite seien die Medien zu unabhängigen Machtinstrumenten avanciert, die sich jeder Kontrolle von außen entzögen, auf der anderen Seite seien sie gezwungen, unablässig Aufmerksamkeit zu erzeugen, um ihre ökonomischen Grundlagen zu sichern. Dieser Mechanismus entfremde sie immer mehr ihrer ureigentlichen Aufgabe, nämlich der Schließung der sogenannten Repräsentationslücke, die zwischen einer informierten und in den staatlichen Institutionen überproportional vertretenen Bildungselite und der Masse der Bevölkerung klaffe. Anstatt gesellschaftliche Pluralität abzubilden, würden sich auch Leitmedien immer mehr in einem selbstreferentiellen Kosmos bewegen, in dem Reichweite und Sensationswert die maßgeblichen Orientierungsmarken setzten. Die Verfasser bemühen dafür die Begriffe des Cursors, des Mainstreams und des Schwarmverhaltens zur Bezeichnung einer idealen Position der „gefühlten Mitte“ (S. 147), um welche die etablierten Medien unablässig pendelten, um ihre Zugehörigkeit zur „politjournalistischen In-group“ zu festigen. Es entstehe so medial die Fiktion einer Mehrheitsmeinung, die mit der in der Bevölkerung tatsächlich vorherrschenden Meinung nur wenig zu tun habe.

 

Die Demokratie verkomme in diesem Prozess zur Mediokratie: Der Trend der politischen Parteien weg von ihren ursprünglich ideologisch definierten Grundpositionen „hin zur hochflexiblen Mitte“ (S. 145) habe nicht allein politisch eine Kultur der Ausgrenzung und Diffamierung abweichender Positionen, sondern darüber hinaus eine „breite polit-mediale Phalanx der ‚Guten‘“ hervorgebracht, „Parteien und Politiker haben sich […] in den letzten Jahrzehnten, mitunter bis zur Selbstaufgabe, den Spielregeln und Personalisierungen der Medien angepasst“ (S. 146f.). Im Klartext bedeutet das: Nicht die Politiker manipulieren die Medien und geben ihnen die Richtung vor, wie es Verschwörungstheoretiker der ihnen verhassten „Lügenpresse“ so gerne unterstellen, sondern umgekehrt trieben die Medien kraft ihrer überbordenden informellen Machtposition als Vierte Gewalt im Staat die Politik vor sich her, und wer sich außerhalb des von ihnen forcierten Mainstreams stelle, laufe beständig Gefahr, als persona non grata diffamiert und zum Opfer von Kampagnenjournalismus zu werden, worüber beispielsweise die Schicksale Christian Wulffs und Armin Laschets beredt Zeugnis ablegten. Darüber hinaus zwinge der ökonomische Druck der im Netz boomenden Direktmedien die Qualitätsmedien unter anderem, deren fragwürdige Muster zu kopieren: „Der Reichweiten- oder Erregungsjournalismus der Direktmedien verließ sein ursprüngliches Habitat und siedelte sich überall dort an, wo die Leitmedien verzweifelt auf Kundenfang gingen“ (S. 195), was auch bedeute, für das Verständnis notwendige Kontexte auszublenden und dadurch komplexe Problemlagen unzulässig zu simplifizieren. „So kann Immanuel Kant ein Rassist werden und Joanne K. Rowling transphob, man muss nur den historischen oder den feministischen Kontext streichen, schon geht das“ (S. 237).

 

Angesichts der behaupteten Entwicklungen gilt die Sorge der Verfasser „der Qualität der Öffentlichkeit“ (S. 16) und damit dem Zustand unserer liberalen Demokratie. Dem Diktum von der gespaltenen Gesellschaft erteilen sie eine klare Absage, denn es sei „der Verbund von Massenmedien und politischen Parteien, der die Polarisierung inszeniere“ und damit einen falschen Eindruck erwecke: „Die Zwei-Welten-Theorie, die die Gesellschaft im Vokabular der Spaltung und des Auseinanderdividierens beschreibt, macht es […] leicht, die Komplexität sozialer und mentaler Lagerungen der Gesellschaft zu unterschätzen“ (S. 207). Es gelte aber, unbedingt das durch die dargestellten Entwicklungen weithin geschwundene Vertrauen in die Medien wieder herzustellen, etwa durch eine Abkehr vom abgehobenen „Helikopterblick“, durch einen lösungsorientierten konstruktiven Journalismus, der verstärkt über Gelungenes berichte und dabei die lokale und kommunale Ebene stärker ins Bewusstsein der Allgemeinheit rücke, durch eine an Qualitätskriterien orientierte Ausbildung der Journalisten, durch das Fokussieren auf eine „Informations- und Thematisierungsfunktion […], die Online-Medien aufgrund ihrer Eigenlogik überhaupt nicht haben können“ (S. 264), sowie durch eine Dotierung und Ausweitung der öffentlich-rechtlichen Medien „als einer nicht marktfähigen Sphäre der demokratischen Meinungsbildung und Aushandlung“ (S.267).

 

Richard David Precht und Harald Welzer scheint von vornherein klar gewesen zu sein, dass ihre Befunde in der Medienwelt auf lebhaften Widerspruch stoßen werden, habe es doch schon „hyperventilierende Kritik [gegeben], als nur die Verlagsankündigung erschien“, weshalb damit zu rechnen sei, „dass man das Buch entweder ignoriert oder […] die Kritik durch Personalisierung abwehrt – was erlauben Precht, was erlauben Welzer“ (S. 17f.). Solche Ankündigungen machen jedenfalls neugierig und sind dem Absatz des Buches bestimmt nicht abträglich. Selbstverständlich ist auch sachliche Kritik in der Tat nicht ausgeblieben, die sich vor allem an dem raschen Entstehen der Publikation, an der unzureichenden empirischen Basis verschiedener Feststellungen (der inzwischen bekannt gewordene Zwischenbericht einer quantifizierenden Studie eines Teams um den Mainzer Kommunikationswissenschaftler Marcus Maurer zur Leitmedienberichterstattung über den Krieg in der Ukraine bis Ende Mai 2022 konnte so Prechts und Welzers Vorwurf einer kritiklosen, ausschließlich akkordiert regierungsfreundlichen Ausrichtung im Sinne eines „Cursorjournalismus“ nicht verifizieren) und an allzu generalisierenden Schlussfolgerungen festmacht. Im Gegenzug muss man konzedieren, dass es den Verfassern gelungen ist, ein wichtiges strukturelles Problem demokratischer Öffentlichkeit angemessen und verständlich so zu beschreiben, dass die wesentlichen Mechanismen und Einflusssphären, welche auf dem Mediensektor Wirkung entfalten und dessen Verfasstheit determinieren, für jeden Interessierten nachvollziehbar werden. Man versteht, dass in einer unübersichtlicher werdenden komplexen Welt, in der die Demokratie verstärkt auf dem Prüfstand steht und es immer mehr zum Problem wird, Reales von bloßer Fiktion zu unterscheiden, die konstruktiv-kritische Beschäftigung mit der Medienlandschaft unverzichtbar geworden ist. Wer mit Prechts und Welzers Schriften einigermaßen vertraut ist, wird leicht feststellen können, welcher Part jeweils welchem Verfasser zugeordnet werden kann, darüber hinaus ist viel bereits früher Artikuliertes – man denke beispielsweise nur an Prechts Positionen im Hinblick auf die einzufordernde soziale Verantwortung des Bürgers in der Gesellschaft oder auf den Mainstream – auch in die aktuelle Publikation eingeflossen.

 

Ob die beiden Verfasser sich wohl auch die Frage gestellt haben, was ihre Ausführungen über ihre eigene strikte Positionierung gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, auf die sie immer wieder rekurrieren, aussagen? „Es ist eine durchaus bedeutende kulturelle Veränderung, wenn auf einmal jeder Trottel alles beurteilen können soll“, stellen sie scharfsinnig fest und sprechen von der „kollektiven Ermächtigung der ganz und gar Inkompetenten“ (S. 239). Nun sind Harald Welzer und Richard David Precht mit Sicherheit keine „Trottel“, in ihren Fachgebieten durch entsprechende Arbeiten ausgewiesen und in der Lage, aus sozialpsychologischer und philosophischer Perspektive bereichernde und kritische Aspekte in die Diskussion einzubringen. Worüber sie jedoch – und das verbindet sie mit dem ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung – wohl nicht ausreichend verfügen, ist jene solide faktenbasierte sicherheitspolitische Expertise, die derlei politischen Entscheidungen von erheblicher Tragweite wie der Frage, ob und in welcher Weise die Ukraine unterstützt werden soll, zwingend zugrunde gelegt werden muss und die im derzeitigen besonnenen, zurückhaltenden Handeln der NATO ihren Ausdruck findet. Es wäre eine Frage der wissenschaftlichen Redlichkeit, sich hier zu deklarieren und explizit darauf hinzuweisen, dass eine Stellungnahme mit sozialpsychologischem oder philosophischem Hintergrund eine durchaus beachtenswerte und den Horizont erweiternde, aber eben doch nur eine Meinung darstellt und jedenfalls bestimmt keine fundierte sicherheitspolitische Analyse. Womöglich wäre ob einer klaren Relativierung der eigenen Rolle („Ich bin kein Experte auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik und kann die maßgeblichen Parameter folglich auch nicht seriös beurteilen, aber ich gebe zu bedenken, dass …“), welche die Beiträge nicht entwertet, wohl aber fachlich korrekt verortet, der die Verfasser treffende „Shitstorm“ bescheidener ausgefallen. Ob jemand bei klarem Verstand Atomwaffen (und nicht nur diese, die Feststellung gilt auch für den Angriffskrieg allgemein) zum Einsatz bringt oder nicht, unterliegt nämlich einem rationalen Kalkül und wird abseits der ethischen Implikationen in erster Linie davon abhängen, mit welchen Konsequenzen er zu rechnen hat, ob also das zu erwartende Übel für den Täter selbst größer ist als der zu generierende Vorteil. Diese dem „Gleichgewicht des Schreckens“ eignende Logik hat - communis opinio  - die Welt im Kalten Krieg vor einer Eskalation bewahrt und wirkt unabhängig von der Person Putin oder der Frage von Waffenlieferungen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic