Morina, Christina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren. Siedler, München 2023. 400 S., 6 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Für die so bemerkenswerten wie beunruhigenden Wahlerfolge der Rechtspopulisten vorwiegend in den ostdeutschen Ländern der Bundesrepublik Deutschland (BRD) scheint eine simple Erklärung auf der Hand zu liegen: Im Westen habe man eben in Sachen Demokratieerfahrung vier Jahrzehnte Vorsprung vor dem Osten, während die Bürger der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gleichsam von einer (nationalsozialistischen) Diktatur in jene (kommunistische) des SED-Staates geschlittert seien und dadurch weder die Gelegenheit gehabt hätten, den Nationalsozialismus offen kritisch aufzuarbeiten, noch an dem wirtschaftlichen Segen einer prosperierenden Demokratie teilzuhaben. So plausibel diese Argumentation auf den ersten Blick erscheinen mag, so wenig trifft sie in ihrem holzschnittartigen, simplifizierenden Charakter die komplexen deutschen Realitäten vor und nach der Wiedervereinigung. Zur Erklärung der Verwerfungen, die aktuell nicht nur die Demokratie im vereinten Deutschland, sondern darüber hinaus auch in anderen Ländern der Europäischen Union auf den Prüfstand stellen, taugt sie nicht. Um es kurz anzudeuten: Anders, als vordergründig zu vermuten steht, war das Demokratische auch in der ehemaligen ostdeutschen Republik nicht bloß ein markanter Bestandteil des Staatsnamens, sondern zugleich ein zentraler Topos der Staatsrhetorik und politischen Propaganda, der selbst bei systemtreuen Genossen demokratische Begehrlichkeiten weckte und sich in entsprechenden Forderungen an die Staatsführung Bahn brach.

 

Die 1976 in Frankfurt an der Oder (DDR) geborene, in Leipzig, Ohio, Maryland und Jena akademisch ausgebildete Frau, die nun anhand empirischen Materials deutlich mehr Licht in eine Zone diffuser Vermutungen bringt, lehrt seit 2019 als Professorin Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld, zu ihren Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem die hier relevante politische Kulturgeschichte des geteilten bzw. wiedervereinigten Deutschland. „Tausend Aufbrüche“ betitelt Christina Morina ihren Band zur Geschichte der Demokratie in Deutschland von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart, ebenso wie dessen zentrales drittes Kapitel (von – neben Einleitung und dem den Inhalt treffend rekapitulierenden Fazit – insgesamt fünf). Im Blick sind dabei die vielfältigen und heterogenen direktdemokratischen Ideen und Bestrebungen in Ost und West zur Überarbeitung und Ergänzung des bestehenden Repräsentativsystems und des Grundgesetzes, die im Zuge der „friedlichen Revolution“ des Herbstes 1989 geäußert und dann im Prozess der Wiedervereinigung allesamt ad acta gelegt wurden. Gerade dieser unerfüllte Wunsch nach mehr spürbarem Gewicht des Individuums in der staatlichen Politik sei eine jener offenen Wunden, in die nun etwa die „Alternative für Deutschland“ (AfD) geschickt den Finger lege und die diese trotz ihres offen verfassungsfeindlichen rechtsextremistischen Randes zur (vorübergehenden oder auch dauerhaften) Heimat auch so vieler enttäuschter Demokraten werden lasse.

 

Das vorliegende Buch, das insbesondere populäre Klischees über das politische Denken in Ostdeutschland korrigiert, verstehe sich als „Beitrag zu einer politischen Kulturgeschichte ‚von unten‘“ (S. 19) (der Rezensent hielte es für exakter, von einer „Kulturgeschichte des Politischen“ zu sprechen) und rekonstruiere, so die Verfasserin, „erstmals systematisch, wie die Deutschen im weitesten Sinne – also nicht nur deutsche Staatsbürger, sondern, wo immer es die Quellen erlauben, auch in Deutschland lebende Menschen mit Einwanderungsgeschichte – Demokratie als politische Ordnung und alltägliche Praxis, als Versprechen und Hoffnung im geteilten und vereinten Deutschland verhandelt haben. Es beschreibt, was es vor 1989 für sie bedeutete, in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik zu leben, und was aus dieser doppelten Berufung auf die Demokratie – hier die liberale, parlamentarische Repräsentativdemokratie, dort die ‚Volksdemokratie‘ oder ‚sozialistische Demokratie‘ – folgte.“ Als eine „epochale Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe“ verbleibe auf dieser geschichtlichen Basis heute weiterhin die Frage, „wie eine Gesellschaft sich selbst und ihr Gemeinwesen ,zum Wohle aller‘ versteht und gestaltet“ (S. 26ff.). Die Studie schöpft aus bislang „noch weitgehend unerforschte(n) Quellenbestände(n) […] aus Zusammenhängen, in denen sich Bürger in großer Zahl an ‚ihr‘ Staatswesen im weitesten Sinne gewandt haben, also an Repräsentanten und Regierungsvertreterinnen, Parteien oder Bürgerbewegungen, Institutionen und Gremien“. Konkret gemeint sind damit Briefe an die Bundespräsidenten Karl Carstens und Richard von Weizsäcker aus dem Bundesarchiv, sowie Bürgerpost an die Staats- und Parteiführung, die Ministerien und die Medien der DDR, die im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) landete, dazu Schriftgut aus Berliner und Leipziger Oppositionsarchiven und Bürgerschreiben an die 1992/93 tagende Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (GVK). Zwar erlaube die getroffene Auswahl „keine im strengen Sinne repräsentativen Aussagen“, wohl aber „einen substanziellen Einblick in die Vielfalt der gesellschaftlich verhandelten Vorstellungen, die […] immer auch im Lichte der jeweils verfügbaren Wahl- und Einstellungsforschung gewichtet werden“ (S. 17f.). Zur Sprache kommen in der Arbeit, die Demokratie nicht statisch, sondern primär in ihrem prozessualen Charakter betrachtet, unter anderem zunächst die jeweils unterschiedlichen Staatsbürgervorstellungen und Demokratiediskurse in der BRD und der DDR, sodann die kreativen Demokratieideen in der Zeit des Mauerfalls 1989/1990, die weitere Entwicklung bis zur Ankunft in der gemeinsamen Berliner Republik und schließlich die Ambivalenzen der Demokratie während der Kanzlerschaft Angela Merkels. Hieraus ergeben sich durchaus interessante Befunde.

 

Der Vergleich der Bürgerbriefe in Ost und West lasse zwei „zutiefst bewegte und höchst politisierte Gesellschaften“ erkennen. Die Mehrzahl der Westdeutschen äußerte sich konstruktiv kritisch in ihren Rollen als Wahlbürger, Steuerbürger und dienende Bürger und belegt damit, dass der häufig als untauglich – weil zu wenig emotional besetzt – betrachtete republikanische Verfassungspatriotismus der Bundesrepublik sehr wohl in der gesellschaftlichen Realität angekommen ist. In der DDR argumentierte man in den Briefen schlichtweg als Mensch, als Träger einer Funktion oder als Bewohner des Landes und grenzte sich mit dem Begriff des Bürgers von dem Paradoxon der Staatsmacht – einer faktischen Diktatur mit einem andauernd beschworenen demokratischen Anspruch – ab. Diese ostdeutschen Schreiben belegten „eine […] Politisierung bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein – und das lange vor dem revolutionären Herbst 1989. Das noch immer weit verbreitete Bild einer erstarrten, apathischen Nischengesellschaft, die sich nach Jahrzehnten des sozialistischen (Mit-)Experimentierens von Staat und Politik gleichermaßen verabschiedet habe, lässt sich vor diesem Hintergrund kaum aufrechterhalten. Demokratie wurde auch und gerade in der DDR, der angeblichen zweiten deutschen Republik, im tagtäglichen Vermessen der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit gewissermaßen im Dauerkritikmodus […] debattiert, gefordert, geübt, verworfen“ (S. 295f.). Mit dem Mauerfall flossen dann gleichsam zwei Ströme – die DDR-Demokratieanspruchsgeschichte seit 1949 und die seit 1968 wachsende BRD-Demokratiekritikgeschichte – ineinander, „die plötzlich grundsätzlich infrage stehende DDR wurde […] nicht nur zum demokratiepolitischen ‚Abenteuerspielplatz‘ (Stefan Wolle) unzähliger ostdeutscher Bürgerbewegungen und –initiativen, sondern auch zur Hoffnungs- und Projektionsfläche westdeutscher Demokratiereformer, allen voran die seit Jahren für mehr ‚Basisdemokratie‘ streitenden Kritiker der Parteiendemokratie“ (S. 298). Allerdings sei „dem Glücksdiskurs unter dem Eindruck der tausend Aufbrüche und zugleich der einmaligen, erfolgreich genutzten Chance zur staatlichen Einheit […] alsbald ein allumfassender Krisen- und Kahlschlagdiskurs“ gefolgt (S. 217). Bekanntlich hat das Wahlverhalten einer Mehrheit der Ostdeutschen sowohl den moderaten als auch den radikalreformerischen Kräften auf Bundesebene nicht das notwendige Vertrauen ausgesprochen und einer Übernahme der bestehenden bundesrepublikanischen Ordnung (Grundgesetz) den Weg geebnet, direktdemokratisch-plebiszitäre Elemente finden sich aber in fünf ostdeutschen Landesverfassungen. Nichtsdestotrotz sollten gerade all diese nicht realisierten „demokratie- und verfassungspolitischen Vorstellungen […] tiefgreifend, konstruktiv und auch beunruhigend […] die Demokratieentwicklung der nun Berliner Republik“ prägen (S. 301).

 

Ein Aspekt ist der eingangs bereits thematisierte Erfolg der AfD „als ein genuin deutsch-deutsches politisches Projekt […]; selbst ihr ostdeutscher Schwenk um 2015 muss als ein gesamtdeutscher Angriff auf die demokratische Ordnung eingeordnet werden“ (S. 242), ein anderer die – im Gegensatz zur ansonsten eher mageren gesellschaftlichen Präsenz – erstaunlich hohe Repräsentation Ostdeutscher in der staatspolitischen Führung (Parteien, Legislative, Bundesexekutive), wo ihr Anteil zwischen 1990 und 2013 (bei einem Bevölkerungsanteil von 16 Prozent in den östlichen Bundesländern) zeitweilig bis zu 25 Prozent betrug. Noch vor dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck ist Angela Merkel ohne Zweifel der prominenteste Name; die mehrfach wiedergewählte CDU-Kanzlerin wollte zwar „nie als ,die ostdeutsche‘ Kanzlerin, sondern – ganz dem Amt entsprechend – als Kanzlerin aller gesehen werden“, und dennoch werde „bei näherer Betrachtung […] deutlich, dass Merkel im Laufe ihres Lebens als öffentliche Person gelernt hat, präzise zu kalibrieren, in welcher Form und Intensität sie ihre Herkunft thematisiert“ (S. 267). Ihre ostdeutsche Prägung offenbare sich an diversen Elementen ihres Politikverständnisses und ihres politischen Stils: Politik als Aufgabe, dienend ein Staatswesen in Ordnung zu halten, der Blick auf die gesamte Gesellschaft als Fortschreibung des sozialistischen „Wir-alle“-Idealismus, eine Rhetorik des Zupackens („Wir schaffen das“) als in den Anpassungsstrategien an den DDR-Staatssozialismus wurzelnder Appell an das Improvisations- und Durchhaltevermögen der Menschen, schließlich ihre betonte Schlichtheit und Absage an jegliche Großtuerei. Dessen ungeachtet seien zukünftig historisierend noch „die politischen Leerstellen der von ihr geführten Bundesregierungen in Bezug auf Ostdeutschland kritisch auszuleuchten“ (S. 288).

 

Als die Ostdeutschen 1990 mit der Einheit die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft erhielten, so das Fazit Christina Morinas, seien sie in der Berliner Republik „faktisch zunächst keine ‚souveränen Mitglieder‘ dieser Gesellschaft“ gewesen und „konnten nur allmählich zu solchen werden“, wobei die immer noch im Gange befindliche Änderung ihres Status von dem Maß abhängig sei, „in dem sich die bis heute gültige, gewachsene Ordnung der ‚alten‘ Bundesrepublik als hinreichend gestaltbar erweist“, was auch und noch viel stärker für den Prozess der faktischen Gleichstellung der Hinzukommenden (Einwanderer, Geflüchtete) gelte (S. 309). Folge man Jürgen Habermas‘ optimistischer Sicht auf die Zukunft der Demokratie in Deutschland, so fördere der demokratische Prozess „als Modus nie abgeschlossener gesellschaftlicher Selbstverständigung die ‚gemeinsame Bindung an historisch errungene republikanische Freiheiten‘ und damit die ‚Loyalität zu einer überzeugenden politischen Ordnung, die über alle subkulturellen Differenzen hinweg das wechselseitige Einstehen der Bürger füreinander motiviert‘“ (S. 307). Überlegungen, welche Herausforderung die Integration direktdemokratischer Elemente in das bestehende Repräsentativsystem in praktischer und rechtlicher Hinsicht darstellt, stellt Christina Morinas treffende und umfangreich dokumentierte Studie nicht an. Diesbezügliche Bedenken und Gravamina aus politikwissenschaftlicher Perspektive hat beispielsweise Peter Graf Kielmannsegg („Repräsentation und Partizipation. Überlegungen zur Zukunft der repräsentativen Demokratie“, 2016) namhaft gemacht.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic