Reichert, Mike, Pflichten und Pflichtenkonflikte bei einer Verwahrung im römischen Recht im Wandel der Anschauungen (= Berliner Schriften zur Rechtsgeschichte, 13). Nomos, Baden-Baden 2022. 279 S.
Die Untersuchung wurde im Wintersemester 2021 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Betreut hat die Arbeit Cosima Möller. In der Einleitung (S. 34) wird als Ziel benannt, „anhand der Quellen Veränderungen des Pflichtengehalts der Verwahrung nachzuzeichnen und diese aus unterschiedlichen Konzeptionen des römischen Rechts zu erklären“. Die Arbeit folge methodisch „dem von Okko Behrends begründeten und von anderen weiter verfolgten Forschungsansatz, wonach Entscheidungen und diesen zugrundeliegende Rechtsauffassungen der römischen Juristen als Ergebnis verschiedener, philosophisch begründeter Grundkonzeptionen und ihrer Rezeption durch die kaiserzeitlichen Rechtsschulen erklärbar sind“ (S. 35).
In einer ausführlichen Einleitung (S. 17ff.) formuliert der Verfasser die Hauptthese seiner Arbeit, wonach die römisch-rechtlichen Quellen hinsichtlich der Pflichten des Verwahrers widersprüchlich sind (S. 22ff.), spricht weitere Themen der Forschung zur Verwahrung an (S. 28ff.) und erläutert die Zielsetzung, die Methodik und den Gang der Untersuchung (S. 33ff.). Im ersten und umfangreichsten Abschnitt der Abhandlung widmet sich der Verfasser den „Pflichten bei der Verwahrung im römischen Recht“ (S. 39ff.). Dabei geht er auch auf den Sprachgebrauch hinsichtlich der Verwahrung ein, nicht nur in der juristischen, sondern auch in der schönen Literatur und in philosophischen Schriften. Im folgenden Abschnitt stellt der Verfasser die „Haftung des Depositars als Spiegelbild der Pflichten“ dar (S. 158ff.). Es folgen Ausführungen zu einem Text des klassischen Juristen Tryphonin über „Pflichtenkonflikte und Pflichten gegenüber Dritten“ (S. 197 ff.). Nach einer Zusammenfassung der Ergebnisse zum römischen Recht (S. 229ff.) fügt der Verfasser „Betrachtungen zur Kodifikation der Verwahrung im deutschen und europäischen Privatrecht“ an (S. 229ff.). Ein Literaturverzeichnis beschließt die Untersuchung (S. 257ff.). Ein Quellenregister fehlt leider.
Im Folgenden wird exemplarisch darauf eingegangen, wie der Verfasser die zentrale, in der romanistischen Literatur schon häufig erörterte Frage behandelt, ob der Verwahrer nicht nur verpflichtet ist, die Sache auf Verlangen des Hinterlegers herauszugeben, sondern auch, sie zu bewachen (custodire). Einerseits besteht der Zweck der Hinterlegung darin, die Sache sicher aufbewahren zu lassen, was eine Überwachung impliziert; andererseits sind im klassischen Recht Darlegungen enthalten, wonach eine Rechtspflicht des Verwahrers zur Überwachung nicht besteht. Der Verfasser sieht einen Widerspruch in den Quellen, den er mit Hilfe von drei Texten klassischer Juristen zu belegen versucht. Eine Überwachungspflicht wird demzufolge von Ulpian (D. 16,3,1 pr.) postuliert, während Gaius (Inst. 3,207) und (der eben erwähnte) Ulpian an einer anderen Stelle (D. 16,3,1,12) das Bestehen einer solchen Pflicht verneinen (S. 22, 25f., 57f., 173ff., 179f., 231f.).
Nach Ansicht des Verfassers vertritt Ulpian in D. 16,3,1 pr., einem Text aus dem 30. Buch seines Kommentars zum Edikt, die Auffassung, der Verwahrer habe eine Rechtspflicht zur Überwachung zu erfüllen. Aufschlussreich sind demnach die Worte ut ostendat totum fidei eius commissum, quod ad custodiam rei pertinet („um zum Ausdruck zu bringen, dass alles, was die Obhut über die Sache mit sich bringt, der Gewissenhaftigkeit des Verwahrers anvertraut ist“). Mit „den Hinweisen auf die custodia und die fides“ werde deutlich, „dass an die Übernahme eines depositum Erwartungen und Pflichten geknüpft waren“ (S. 57). Ähnlich heißt es S. 175, Ulpian lasse „den Verwahrer für custodia einstehen“. Ulpian setzt demzufolge in D. 16,3,1 pr. eine Rechtspflicht zur Überwachung voraus.
Als Beleg für die gegenteilige Position führt der Verfasser zunächst die Institutionen des Gaius (3,207) an, in denen es heißt, wer eine Sache verwahre, stehe nicht für die Überwachung ein, sondern hafte nur für dolus (Vorsatz). In die gleiche Richtung weist dem Verfasser zufolge D. 16,3,1,12, ein Fragment, das (wie schon D. 16,3,1 pr.) dem 30. Buch von Ulpians Ediktskommentar entstammt. Ulpian behandelt den Fall, dass jemand einem anderen eine Sache übergibt und ihn beauftragt, Titius zu fragen, ob er sie verwahren wolle, und, sollte dieser ablehnen, die Sache selbst in Verwahrung zu nehmen. Ulpian fragt, ob eine Klage aus Verwahrung oder auch die Auftragsklage gegeben sei. Ulpian entscheidet, die Auftragsklage sei gegeben, weil es sich um einen umfassenderen Auftrag handele, der die Nebenbestimmung der Bewachung enthalte. Der Verfasser stellt fest, „dass aufgrund der geforderten custodia die Auftragsklage zu geben sei“; im Umkehrschluss könne angenommen werden, „dass Ulpian für das depositum nicht von einer besonderen Pflicht zur custodia ausging“ (S. 177 f.).
Die Interpretation des zuerst genannten Ulpian-Fragments (D. 16,3,1 pr.) ist fragwürdig, weil sie mit dem Wortlaut schwer vereinbar ist. Ulpian spricht nicht ausdrücklich von einer Rechtspflicht (obligatio) zur Bewachung. Das Fragment, das den Anfang der Darlegungen Ulpians zum depositum bildet, hat den Zweck, das Wesen der Verwahrung mit allgemeinen Worten zu beschreiben, um den Leser in die Materie einzuführen. Von Pflichten ist hier nicht die Rede. Der Autor verbindet jedoch, wie auch an anderen Stellen seiner Untersuchung (S. 26 f., 173 ff.), das Wort custodia ohne Weiteres mit einer Rechtspflicht zur Überwachung.
Wenn aus der Stelle überhaupt eine Pflicht abgeleitet werden soll, dann eine durch die fides begründete moralische Pflicht. Wer eine Sache in Verwahrung gibt, darf darauf vertrauen, dass der Verwahrer für sichere Aufbewahrung sorgt. Die Unterscheidung zwischen einer moralischen und einer Rechtspflicht liegt nahe, weil die Verwahrung ein beneficium ist, das in Freundschaftsverhältnissen erwiesen wird, in denen moralischen Pflichten besondere Bedeutung zukommt (worauf der Verfasser eingeht, vgl. S. 18ff.). Allerdings sind auch andere Auslegungen vertretbar. So unterscheidet zum Beispiel René Robaye in seiner 1987 erschienenen Monographie „L’obligation de garde“ zwischen einer custodia matérielle, das heißt einer praktisch vorzunehmenden Überwachung, und einer custodia technique, die mit einer rechtlichen Haftung verbunden ist (S. 18ff., 413f.). Die in D. 16,3,1 pr. angesprochene custodia lässt sich möglicherweise als bloße custodia matérielle qualifizieren.
Auch die Auslegung des zweiten Ulpian-Fragments (D. 16,3,1,12), dem der Verfasser entnimmt, dass eine Überwachungspflicht nicht besteht, ist fragwürdig. Nicht ersichtlich ist, warum aus dem (angeblichen) Bestehen einer Überwachungspflicht beim Auftrag auf das Fehlen einer solchen Pflicht bei der Verwahrung geschlossen werden kann. Unklar ist zudem, ob Ulpian hier überhaupt von einer Überwachungspflicht spricht. Die von ihm gebrauchten Worte custodires/custodiae beziehen sich zwar auf die Überwachung, nicht aber notwendigerweise auf eine entsprechende Pflicht. Aber einmal unterstellt, die Auslegung des Verfassers von fr. 12 sei zutreffend, so ist kaum anzunehmen, dass Ulpian sich innerhalb des gleichen Werkes, im 30. Buch seines Kommentars zum Edikt, ein paar Zeilen tiefer, widerspricht. Der Verfasser hält den angeblichen Widerspruch für „bemerkenswert“ (S. 176), hätte jedoch den Schluss ziehen müssen, dass seine These, Ulpian vertrete widersprüchliche Auffassungen, unzutreffend, zumindest jedoch sehr problematisch sein dürfte.
Die romanistische Literatur wird nur lückenhaft ausgewertet. Hinsichtlich der Frage einer Überwachungspflicht fehlen die Monographie von Antonio Metro: L’obbligazione di custodire nel diritto romano. 1966 und die bereits erwähnte Abhandlung von René Robaye.
Der Verfasser kann nicht belegen, dass hinsichtlich der Überwachungspflicht ein Widerspruch in den Quellen besteht. Daher ist auch seine auf die Lehre von Behrends bezogene Feststellung problematisch, der gewählte Forschungsansatz habe gezeigt, „dass sich die widersprüchlichen Quellen zu den Pflichten aus einer Verwahrung (…) aus unterschiedlichen Rechtskonzeptionen erklären lassen“ (S. 229). Im Rahmen dieser Rezension ist es nicht möglich, auf die von Behrends vertretene Lehre einzugehen. Deshalb kann hier auch nicht untersucht werden, ob und wie weit sich die Quellen zur Verwahrung, insbesondere zur Überwachungspflicht, dieser Lehre schlüssig einfügen lassen.
Da weitere, vom Verfasser behandelte Quellentexte und deren Interpretation an dieser Stelle nicht geprüft werden können, muss die Einschätzung der vorliegenden Arbeit unvollständig bleiben. Wer sich künftig mit dem depositum befasst, sollte die Untersuchung des Verfassers zwar berücksichtigen, sich aber der mit ihr verbundenen methodischen Problematik bewusst sein.
Heidelberg Hans-Michael Empell