AugustinovicJähnerhöhenrausch20221104 Nr. 17596 ZIER 12 (2022) 70. IT
Jähner, Harald, Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen. Rowohlt, Berlin 2022. 557 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
„Wenn ich mir was wünschen dürfte, / Käm ich in Verlegenheit, / Was ich mir denn wünschen sollte, / Eine schlimme oder gute Zeit. / Wenn ich mir was wünschen dürfte, / Möchte ich etwas glücklich sein, / Denn wenn ich gar zu glücklich wär‘, / Hätt‘ ich Heimweh nach dem Traurigsein.“ 1930 hat Marlene Dietrich diesen Text Friedrich Hollaenders gesungen, den der Verfasser des vorliegenden Werkes über die zwanziger Jahre, der Journalist und Honorarprofessor für Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin, Harald Jähner, mit folgenden Worten kommentiert: „So weise, so realistisch, so kokett konnte sie klingen, die Weimarer Republik“ (S. 474). In den Zeilen des Liedes kommt aber vor allem jene Ambivalenz zum Ausdruck, die diese Epoche der deutschen Geschichte zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft kennzeichnet: Eine Zeit der großen fortschrittsoptimistischen Erwartungen, Möglichkeiten und Freiheiten für die einen, aber auch der tiefen modernisierungskritischen Verunsicherung und der Identitätskrise für die anderen, maßgeblich beeinflusst vom Erlebnis der Hyperinflation von 1923 und dem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosenzahlen im Gefolge der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahre. Die große Depression führte dazu, dass sich „ein tiefsitzender Pessimismus“ (S. 379) durchzusetzen begann, und „der fatale Hang zu Radikalismus und Dramatisierung machte vor der Krise erst recht nicht halt“ (S. 389). Diese weit verbreitete toxische Mentalität habe das Fundament der Republik am Ende heillos erschüttert und der Diktatur zum Durchbruch verholfen.
Es sei jedoch überzogen, die Weimarer Republik nur von ihrem Ende her zu interpretieren, denn „die Entwicklung zum Nationalsozialismus war nicht zwingend. So schwach war die Weimarer Demokratie nicht, dass nicht auch ein anderer Ausgang denkbar gewesen wäre. Die Menschen hatten die Wahl, jeder für sich, nicht zuletzt in der Wahlkabine“ (S. 17). Warum es trotzdem kam, wie es nicht kommen musste, versuchen die insgesamt 14 Kapitel des Bandes auszumalen, die ein breites Panorama der wesentlichen politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen jener so dynamischen und ereignisreichen Jahre entwerfen. In dem „Das neue Leben“ überschriebenen Vorwort stellt der Verfasser unter anderem fest: „Nur wenige Zeitabschnitte unserer Geschichte haben von Beginn bis Ende ähnlich intensive Emotionen entfacht wie sie [die Weimarer Republik, W. A.]. Geboren aus den Qualen des Krieges, wurde der Enthusiasmus der Revolution überschattet von den Demütigungen der Niederlage und dem Gefühl geistiger Obdachlosigkeit, den Risiken einer ungewohnten Freiheit. Wie in einer Achterbahn ging es auf und ab“ (S. 13). Die Frage, wie man sich in der Weimarer Republik fühlte, müsse somit an die damalige Gesellschaft in ihrer gesamten Breite gerichtet werden und offenbare naturgemäß je ganz unterschiedliche Befindlichkeiten, nicht zuletzt im Gegensatz zwischen den urbanen Zentren und der ländlichen Peripherie, denn „hart kontrastierten auf dem Land die Mühen des Alltags mit den Verheißungen der neuen Konsummoderne, die man aus den Städten vernahm“ (S. 14).
Betrachtet man die einzelnen Kapitel der Darstellung, kann man grob zwischen solchen mit einer Schwerpunktsetzung auf dem politischen Sektor und stärker kulturgeschichtlich akzentuierten Abschnitten unterscheiden. Zur ersten Gruppe zählen die Kapitel 1 (Als der Krieg nach Hause kam), 5 (Prekäre Balance: Ebert stirbt, Hindenburg kommt), 13 (Einsame Eliten – Kabinettspolitik gegen Populismus) und 14 (Das Ende: Reichskanzler Hitler). Die ökonomischen Wegmarken Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise inklusive Massenarbeitslosigkeit stehen im Fokus der Kapitel 2 (Wenn das Geld stirbt) sowie 10 (Die Arbeit geht aus). Alle weiteren Kapitel behandeln gesellschaftliche und kulturelle Phänomene als Metaphern ihrer Zeit: Es geht um die Moderne im Bauen und Wohnen (Bauhaus und Art déco versus Heimatschutzstil; der Urheberrechtsstreit zwischen drei namhaften Designern um ein Sitzmöbel, den sogenannten Freischwinger, sei „juristisch bis heute interessant“, S. 127), die sich etablierende städtische Schicht der Büroangestellten/Sekretärinnen, Aspekte der Emanzipation der Frau und die damit verbundenen Ängste vieler Männer, die Befreiung von Zwängen durch eine neue offene Tanzkultur, Geschwindigkeit und Verkehr, Freizeit und Körperkult, oszillierende Geschlechteridentitäten, den destruktiven Einfluss der Inflation auf Sitte und Moral und die kulturellen Konflikte der Depressionszeit, die dem „Ende der Kommunikationsgemeinschaft“ vorausgingen und mit dem weit verbreiteten Überdruss an den nun vielfach als dekadent wahrgenommenen Freiheiten der Republik, einer breiten Rückbesinnung auf überwunden geglaubte Wertvorbilder und dem allgemeinen Niedergang der Zuversicht nun der Diktatur den Weg bereiteten. „Die Stimmung sank, die Erlösungsbereitschaft stieg, neue Arten des Höhenrauschs wurden gesucht, mitreißendere, aggressivere, unheilvollere denn je“ (S. 17).
Der Riss in der deutschen Gesellschaft der zwanziger Jahre mit gefühlt „unversöhnlich gegeneinander abgeschottete(n) Lebenswelten, zwischen denen keine Bereitschaft zur Verständigung bestand“, erweckt bei Harald Jähner „Assoziationen zur heutigen Lage“, und „beunruhigt von der Versuchung vieler Fundamentalskeptiker, sich aus der medialen Öffentlichkeit, als Mainstream denunziert, zu verabschieden und sich in obskure, alternative Medienwelten zurückzuziehen, blickt man mit neu geschärftem Blick auf die ‚Weimarer Verhältnisse‘“ (S. 16f.). Phänomene wie die wachsende Konzentration des Kapitals in immer weniger Händen, die beachtlichen Wahlerfolge populistisch agierender Persönlichkeiten und Parteien in Europa und anderen Teilen der Welt, die dramatischen Verwerfungen der Präsidentschaft Donald Trumps in den USA oder die bedenklichen zentrifugalen Tendenzen im Kontext der Corona-Pandemie lassen tatsächlich Sorgen um die Resilienz der heutigen demokratischen Gesellschaften nicht unbegründet erscheinen. Auch die Etablierung einer „cancel culture“, die unbequeme, vom informell verordneten, als politisch korrekt vorgegebenen Meinungsspektrum abweichende Fakten unterdrückt und jene, die mit Recht auf solche Fakten aufmerksam machen, von der Diskussion ausschließt, ist ein Vorgang, der zu denken gibt und in seinem Rigorismus an den dramatisierenden Radikalismus der Weimarer Jahre sowie an die Bruchlinien zwischen der tonangebenden gesellschaftlichen Elite und jenem Teil der Bevölkerung, der von der rasanten Entwicklung nicht zu profitieren vermochte und auf der Strecke blieb, erinnert. Hier lassen sich gewiss Parallelen ausmachen, die Handlungsbedarf anzeigen, auch wenn glücklicher Weise heutzutage die Militarisierung der Gesellschaft zumindest in Europa in keiner Weise mit jenem Grad vergleichbar ist, wie er in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gegeben war. Auf der anderen Seite ist aktuell infolge der weit reichenden Möglichkeiten der modernen Informationstechnologie und der globalen Vernetzung die Gefahr der Destabilisierung durch gezielte Desinformation stark gestiegen.
An einigen Beispielen sei gezeigt, wie facettenreich der Verfasser die eigenartige, stets präsente Ambivalenz der Weimarer Jahre schildert. Gleichsam eine Erbsünde der Republik sei es gewesen, dass die Mehrheitssozialdemokraten gezwungen gewesen seien, sich mit dem Militär und den nationalistischen, verfassungsfeindlichen Freikorps einzulassen, um die drohende Errichtung einer revolutionären kommunistischen Diktatur abzuwehren. Der erste Reichspräsident Friedrich Ebert habe sein Amt als „eines des Ausgleichs und der Mäßigung“ verstanden, doch damit wenig Anklang gefunden „in einer Zeit, die sich an das Maßlose gewöhnt hatte und nach Schneid und Schärfe lechzte. […] In einer solchen Zeitstimmung, wo man auf allen Gebieten ‚nach den Sternen greifen wollte‘, konnte Ebert gar nicht anders herüberkommen als entsetzlich mittelmäßig“ (S. 71). Für die sich nach außen hin als Aufsteiger gerierende und als effektivste Zielgruppe einer ausufernden Unterhaltungskultur figurierende Schicht der Angestellten, darunter besonders viele Frauen, galt in Wahrheit: „Bedroht vom Abstieg, pendelnd zwischen Schein und Sein, zur Solidarität eher unfähig wegen der inneren Konkurrenzstrukturen, wehte der raue Wind der Krise besonders gnadenlos durch ihre Reihen. Sie verkörperten am überzeugendsten die Dynamik der Weimarer Republik und waren ihr zugleich am stärksten ausgesetzt“ (S. 175). Die auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit in Zeitgeistmagazinen kolportierte „erotische Aufladung des Verhältnisses von Frau und Auto“ konnte als „Emanzipation von oben“ vom Heer der Arbeitslosen „im Moment der Krise gar nicht anders als demütigend und beleidigend empfunden werden. Die Mehrheit der Deutschen ging zu Fuß, saß dichtgedrängt in der S-Bahn oder fuhr Stehklasse in der Reichsbahn“ (S. 225). Zugleich erlebte „das Konzept der Selbstoptimierung […] seine Geburtsstunde im Massenmaßstab“, der Sport „erfreute sich […] eines beispiellosen Booms“ (S. 281), und gemessen an der beträchtlichen Zahl und Vielfalt ihrer Vereine „war die Weimarer Republik wesentlich geselliger als die Gegenwart“, wobei „Gemeinsinn und Boshaftigkeit […] glücklich zusammen(fanden)“ (S. 295). Als „etwas Einschneidenderes als die Materialschlachten des Weltkriegs“ empfand der Schriftsteller Stefan Zweig „die Veränderung der Frauen“, mit deren gestiegenem Selbstbewusstsein zugleich, wie der Journalist Axel Eggebrecht klagte, „die Unsicherheit des Mannes gegenüber der Frau […] nachgerade unerträglich geworden“ sei (S. 323). Mit der Depression und der Suche nach ihren Ursachen gerieten viele Innovationen wieder unter die Räder, eine „allzu eingängige Kulturkritik (fand) rasch das Fremde, an dem man sich im Übermaß orientiere“, als die vermeintliche Wurzel des Bösen. „Das Elegante wirkte dekadent in der Krise; das Herausgerülpste erschien wahrhaftiger als das Wohlformulierte“ (S. 385) – Sätze, die gedanklich den Kreis zur unmittelbaren Gegenwart schließen und auch als kritische Diagnose aktueller Entwicklungen gelesen werden können. Damals „hatten die meisten Deutschen nie gelernt, sich konstruktiv zu streiten“ (was nach Jahrzehnten einer funktionierenden Demokratie heute anders sein sollte), und „vielen erschienen die Parteien als Quell allen Übels, als seien sie es, die die unterschiedlichen Interessenlagen erst angerichtet hätten“ (eine allzeit populäre Verkürzung der komplexen Realität) (S. 418).
Wer Harald Jähners „Höhenrausch“ liest, wird somit nicht nur in ein fremdes Universum abtauchen, von dem uns bereits an die hundert Jahre trennen, sondern auch manches Wohlbekannte ausmachen, selbst wenn ihm die Weimarer Republik bislang nicht mehr als die Bezeichnung einer historischen Epoche war, die oft zu Unrecht einseitig als eine Zeit der kulturellen Blüte und des politischen Versagens auf eine bloße Vorgeschichte des Nationalsozialismus reduziert wurde. Will man eine Quintessenz dieser feinfühlig die Stimmungen einer Epoche rekonstruierenden Darstellung formulieren, vermittelt der damalige Gang der Ereignisse anschaulich die Unverzichtbarkeit von Empathie im demokratischen Diskurs. Das „für alle Lebensbereiche“ in Anspruch genommene Motto, man dürfe „sich nicht in die Lage des Anderen versetzen. Mitgefühl lähmt“ (S. 422), war offenkundig ein optimaler Nährboden für den Absturz.
Kapfenberg Werner Augustinovic