Lischka, Julia, Umgang mit Unrecht – Die Aufhebung von während der NS- und DDR-Zeit ergangenen strafrechtlichen Unrechtsurteilen (= Rechtsgeschichtliche Studien 87). Kovač, Hamburg 2021. XV, 198 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Mit dem ersten von Menschen für Menschen geschaffenen Rechtssatz entsteht die Möglichkeit ihn zu beachten oder zu verletzen. Dementsprechend kann auch der Verhalten anderer Menschen mit dem Maßstab der Rechtssätze beurteilende Mensch rechtmäßig oder rechtswidrig handeln. Was prinzipiell bereits für die erste Entscheidung gilt, hat dort besondere Bedeutung, wo das Recht vorrangig der Verwirklichung (neuer) politischer Zielvorstellungen dient, wie dies etwa in der Zeit des ab 30. Januar 1933 das Deutsche Reich bestimmenden Nationalsozialismus oder des ab 8. Mai 1945 in der Besatzungszone der Sowjetunion maßgeblichen Sozialismus der Fall ist.
Mit einem Teilaspekt dieser allgemeinen Unrechtsproblematik beschäftigt sich die vorliegende, von Andreas Roth betreute, in dem Wintersemester 2019/2020 von dem Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Mainz angenommene Dissertation der Verfasserin, die nach dem kurzen Vorwort die unterschiedlichen Aufhebungsmöglichkeiten miteinander vergleichen und untersuchen will, ob und inwiefern bei der Aufhebung von zu der Zeit der Deutschen Demokratischen Republik ergangenen Unrechtsurteilen auf Erfahrungen bei der Aufhebung von Unrechtsurteilen während des Nationalsozialismus zurückgegriffen wurde und umgekehrt. Gegliedert ist die Untersuchung nach vier Abschnitten Einleitung, Ziel der Arbeit, Legitimation eines Vergleichs und Ansätze zur Aufarbeitung von Systemunrecht in zwei Hauptkapitel. Sie betreffen die Entstehung und die Aufhebung von Unrechtsurteilen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Deutschen Demokratischen Republik (S. 15ff.) und einen Vergleich der Aufhebung der Unrechtsurteile (S. 163ff.).
In ihrem Ergebnis gelangt die Verfasserin nach umsichtiger Erörterung zu der Einsicht, dass die Frage nach dem Umgang mit Strafurteilen, die nach einer Rechtsänderung nunmehr als rechtswidrig eingestuft werden müssen, eine ganz grundsätzliche ist, obwohl nach ihrer ansprechenden Erkenntnis, schwer zu fassen ist, was unter einem Unrechtsurteil zu verstehen ist. Insgesamt stellt sie dabei fest, dass hinsichtlich der nationalsozialistischen Unrechtsurteile die Betroffenen und ihre Angehörige (!) jahrzehntelang um die Aufhebung der Unrechtsurteile kämpfen mussten, was in einem Rechtsstaat unzumutbar ist und sich nicht wiederholen darf. Das Ziel müsse es demgegenüber sein, Unrechtsurteile so schnell und effektiv wie möglich aufzuheben, um das Leid der Betroffenen so gering wie möglich zu halten wie dies bei der schnellen Aufhebung der Unrechtsurteile der deutschen Demokratischen Republik unter freilich anderen wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten gelang, wobei in der Politik allerdings weder auf die Erfahrungen mit der Aufhebungsgesetzgebung zu den nationalsozialistischen Unrechtsurteilen noch auf die Erfahrungen mit den sozialistischen Unrechtsurteilen zurückgegriffen werden konnte oder zurückgegriffen wurde.
Innsbruck Gerhard Köbler