Diner, Dan, Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021. 346 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Der deutsche Blick auf den Zweiten Weltkrieg folgt dem Ausschwärmen von Hitlers Armeen in der Reihenfolge der sukzessiven Besetzung des europäischen Kontinents, dem Scheitern des Angriffs auf die Sowjetunion mit dem sich vollziehenden Holocaust bis hin zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches. Der Afrika-Feldzug erscheint in diesem vor allem auf den slawischen Osten konzentrierten Szenario nur als Nebenkriegsschauplatz, ebenso wie jene Kriegsgebiete in Asien und im pazifischen Raum, die überwiegend unter dem Gesichtspunkt der Konfrontation Japans mit den Vereinigten Staaten von Amerika betrachtet werden.
Der deutsche Historiker Dan Diner, der, 1973 in Völkerrecht promoviert und nach seiner Habilitation 1980 erst in Odense, Essen, Tel Aviv und Leipzig wirkend, seit 2001 an der Hebräischen Universität zu Jerusalem Moderne Geschichte lehrt, zeigt in diesem Buch einmal mehr, wie sehr gängige Interpretationsraster geschichtlicher Ereignisse sich verändern, wenn man einen Standortwechsel vornimmt und das Geschehen aus neuen Blickwinkeln analysiert. Der Punkt, den er wählt, ist das vom Völkerbund den Briten anvertraute Mandatsgebiet Palästina und die Rolle, die dieser Region im politischen Kalkül des British Empire jeweils zukam. Herzstück dieser Lagebeurteilungen ist der Indische Ozean als große Drehscheibe der britischen Kolonialmacht, die es unter allen Umständen abzusichern galt. An diesem Ziel war langfristig nur festzuhalten, wenn es gelänge, die britische Kontrolle über das geostrategische Vorfeld, sprich die Regionen des Mittleren und Nahen Ostens (Ölreserven, Suezkanal), nicht zu verlieren. Was die Briten Juden und Arabern jeweils zugestanden oder verweigerten, hing somit grundlegend davon ab, auf wessen Wohlwollen die Kolonialmacht mit Blick auf Indien stärker angewiesen war. Es waren, wie in Anbetracht der massiven Dominanz des arabisch-muslimischen Bevölkerungselements in dem angesprochenen Raum leicht zu erkennen ist, die arabischen Machthaber, welche die Briten sich zu Lasten der Juden Palästinas gewogen zu machen und auf deren Befindlichkeiten sie entsprechend Rücksicht zu nehmen trachteten.
Die Gesamtheit der palästinischen Juden, den sogenannten Yishuv, und ihre zionistischen Anführer, die in Palästina das Gelobte Land, genannt Eretz Israel, erblickten und – stark spirituell aufgeladen – ausnahmslos dort eine jüdische Staatlichkeit als Heimstätte aller Juden zu begründen suchten, stellte die britische Interessenspolitik vor erhebliche Probleme. 1917 war es Chaim Weizmann gelungen, von den Briten die sogenannte Balfour-Erklärung zu erwirken: „Mit ihr bekundete die Regierung seiner Majestät, sie stehe Plänen, eine nationale Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina zu errichten, wohlwollend gegenüber und werde deren Umsetzung befördern. Diese Zusage ging in die Mandatsverfassung ein, als der Völkerbund den Briten 1922 die Treuhänderschaft über Palästina übertrug“ (S. 19). Als die Führer der jüdischen Welt 1942 zu einer Konferenz im New Yorker Biltmore-Hotel zusammentrafen, war hingegen das Vertrauen in Weizmanns auf Großbritannien setzende Politik schon endgültig erschüttert. In der Person David Ben Gurions wurde ab nun ein neuer, die sich als Weltmacht zunehmend etablierenden Vereinigten Staaten von Amerika als Partner präferierender Weg beschritten. Die schlechten Erfahrungen, die man zwischenzeitlich mit der Politik des British Empire gemacht hatte, seien ausschlaggebend für diesen Bruch gewesen. Im Gefolge des Überfalls des faschistischen Italien auf Äthiopien (1935) und des mit dem „Zementzwischenfall“ im Hafen von Jaffa ausgelösten arabischen Aufstandes (1935 – 1939) erfolgte „die mit dem britischen Weißbuch vom Mai 1939 faktisch beschiedene Aufhebung des im Palästina-Mandat von 1922 beschlossenen Auftrags der Beförderung einer dort einzurichtenden jüdischen Heimstätte. Im Verbund mit einer zusehends sich verschärfenden internationalen Lage und einer von ihr ausgehenden Drift in jenen zweiten großen europäischen Krieg hinein gab die Krise den arabischen Ländern und ihren Machthabern sowie den für das Empire erhebliche Bedeutung zukommenden indischen Muslimen einen Hebel in die Hand, auf die britische Palästina-Politik in ihrem Sinne einzuwirken“ (S. 62). Die Palästinafrage hatte damit die Qualität einer panarabischen und panmuslimischen Angelegenheit angenommen.
Der Verfasser zeigt, dass britische Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen immer wieder problematische Auswirkungen auf das Schicksal jüdischer Menschen hatten. 1941 werden die Juden Bagdads, von einem massiven Pogrom heimgesucht, im Stich gelassen: „Auf den Schutz des Empire, das über ausreichend starke Truppen am Ort verfügte, konnten sie […] nicht zählen [… ,] aus sicherer Entfernung nahmen sie das blutige Geschehen nur am Rande wahr. […] Vorrang hatte die Sicherung der zweifelhaften Legitimität des gerade im Schutz britischer Bajonette in die Hauptstadt zurückgekehrten Regenten“ (S. 175). Besondere Empörung rief ein Vorfall aus dem Jahr 1942 hervor: Das in Rumänien ausgelaufene, mit jüdischen Flüchtlingen besetzte Schiff „Struma“ wurde „auf Veranlassung der britischen Mandatsregierung zu Jerusalem im Hafen von Istanbul festgehalten“; man „wollte offenbar in Sachen illegaler Einwanderung nach Palästina ein Exempel statuieren. So hatten die Briten die türkischen Behörden aufgefordert, das Schiff dorthin zu geleiten, wo es hergekommen war: aufs offene Meer. […] Dort […] wurde es […] vom Torpedo eines sowjetischen U-Boots […] zerfetzt. Nur einer der fast achthundert Menschen an Bord überlebte“ (S. 251ff.). Als wiederum 1944 Briten und Amerikaner Churchills Drängen auf eine Eroberung des Dodekanes ablehnen, ermöglichen sie damit nicht nur den Deutschen die späte Deportation der dort noch lebenden Juden nach Auschwitz, sondern ebenso italienische Luftangriffe auf Haifa und Tel Aviv, die dort Juden wie Araber töten (was im Übrigen eine vorübergehende Annäherung der rivalisierenden Bevölkerungsgruppen nach sich zog). Den Wunsch nach im Zweiten Weltkrieg eigenständig kämpfenden jüdischen Streitkräften lehnen die Briten mit Blick auf die politischen Implikationen stets ab, Juden sollen ausschließlich als integrale Bestandteile der britischen Streitkräfte militärisch aktiv werden. Das Kriegsrecht bewahrt immerhin so jüdisch-palästinisch-britische Kriegsgefangene in deutscher Hand davor, das Schicksal von Juden ohne Kombattantenstatus zu teilen, die in Auschwitz ermordet werden.
Moralisch fragwürdig handeln aber, wie die Darstellung erweist, nicht nur die Briten, sondern auch manche Zionisten, die in ihrem Bestreben, die Zuwanderung nach Palästina zu forcieren, nicht den Schulterschluss mit polnischen Antisemiten scheuen, die sich so ihrer jüdischen Mitbürger zu entledigen suchen. Darüber hinaus war der erwünschte Immigrant in Palästina zunächst der vom Geist des Aufbaus beseelte, motivierte Pionier, ein Idealbild, dem die Realität der Masse der mittellosen und traumatisierten jüdischen Flüchtlinge mitnichten entsprach. Das Bemühen, dennoch alle Juden in Palästina zusammenzuführen, bewirkte unter anderem, dass – nicht zuletzt von den Briten geförderte – Versuche, Juden anderswo in Sicherheit zu bringen, hintertrieben wurden. 1940 verhinderte die Haganah im Hafen von Haifa durch einen Sprengstoffanschlag das Auslaufen des Schiffes „Patria“ nach Mauritius. Dieser lange geleugnete Sabotageakt „forderte an die dreihundert Todesopfer – jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei, zudem Besatzungsmitglieder sowie britisches Militärpersonal. Die Überlebenden waren von in Booten herbeigeeilten Arabern und Briten geborgen worden“ (S. 260).
Dan Diner knüpft seine Betrachtungen, die sich, vom globalen Süden ausgehend, nach allen Richtungen bis Europa und in den pazifischen Raum hinein erstrecken, zumeist an ein konkretes Ereignis, das als Ausgangspunkt seiner vielfältige Zusammenhänge aufzeigenden Überlegungen fungiert. Auf diese Weise werden Konturen herausgearbeitet, die einem der „europäischen“ Perspektive verhafteten Betrachter nicht in dieser Deutlichkeit erkennbar sind. Ein Beispiel dafür ist die überragende Bedeutung, die dem sogenannten Persischen Korridor bei der Versorgung der Sowjetunion mit Kriegsmaterial zufiel: „Dass die Sowjets in den kritischen Monaten August/September 1941 Truppen zur Invasion des Iran bereitstellten, zu einem Zeitpunkt, an dem die deutsche Wehrmacht nahezu ungebremst auf Moskau zustrebte, macht deutlich, welcher Stellenwert der Region innerhalb der Gesamtkriegführung der Anti-Hitler-Koalition zukam – vor allem wegen jener dort bald pulsierenden Lebensader für die Rote[ ] Armee. […] Die anglo-russische Übereinkunft über den Iran erfüllte eine […] Absicht, nämlich in Reaktion auf den nazi-deutschen Angriff auf die Sowjetunion eine Art Ersatz für die im Westen noch nicht realisierbare Zweite Front zu schaffen [in] Gestalt jener logistischen Schneise, welche die Rote Armee in die Lage versetzte, von einer hinhaltend-zähen Verteidigung zur Offensive überzugehen und einen Bewegungskrieg Richtung Westen in Gang zu setzen. Wie sehr die anglo-sowjetische Annäherung den Zwängen des historischen Augenblicks geschuldet war, wird daran erkennbar, dass die Sowjets jedes westalliierte Anerbieten schroff zurückwiesen, Truppen für die gemeinsame Kriegsanstrengung gegen das Nazi-Militär im Bereich von Kaukasus und Kaspischem Meer und damit auf dem Gebiet der Sowjetunion bereitzustellen. […] Die traditionelle britisch-russische Rivalität in jener Region überdauerte die Anti-Hitler-Koalition […]. Dass der Kalte Krieg 1946 gerade dort, im Norden des Irans, beginnen sollte, war der geopolitischen Tiefendimension der Weltgegend gleichsam eingeschrieben“ (S. 185f.).
Die größte Gefahr für die Juden Palästinas wie auch für das British Empire hätte in der Realisierung des folgenden Szenarios bestanden, das durch die entscheidenden Schlachten von El-Alamein und Stalingrad 1942/43 Makulatur werden sollte, nämlich die deutschen Pläne einer „strategischen ‚Zange‘ sich aufeinander zubewegender Heeresteile […]: im Süden von Ägypten her, im Norden über den Kaukasus. Deren Zusammentreffen, womöglich auf der Höhe Palästinas, hätte […] die lebenswichtigen Transport- und Kommunikationsstränge des Empire […] durchtrennt“ und die jüdische Bevölkerung Palästinas in das Vernichtungsprogramm des Holocaust einbezogen (S. 143). Eindrucksvoll schildert der Verfasser die Endzeitstimmung, die der vermeintlich unmittelbar bevorstehende (dann gleichsam in letzter Minute abgewendete) Fall Ägyptens in Palästina erzeugte und die ihren Ausdruck in Plänen von einem Exodus nach Indien, Unterwerfung in der Hoffnung auf Gnade, Partisanenkrieg oder einer heroischen letzten Schlacht fand. Dabei blieb „das, was später als Holocaust bezeichnet werden sollte, dem Yishuv lange fern – real wie in der Wahrnehmung. […] So wurde lange nicht erkannt, dass jenes schreckliche Geschehen weit über lokale Mordaktionen hinausreichte, […] dass es sich um eine räumlich entgrenzte, systematisch durchgeführte Vernichtung von Juden jeden Alters und Geschlechts handelte […]. Angesichts eines Geschehens von der Dimension des Holocaust spaltete sich die Wahrnehmung. Wissen und Nicht-Wissen über das Ereignis schienen unbeschadet nebeneinander zu bestehen. Das Bewusstsein weigerte sich, die empirische Evidenz zur Kenntnis zu nehmen“ (S. 267ff.).
Hervorgegangen sei der Staat Israel „aus zweierlei Momenten: aus dem zionistischen Vorhaben, das bei anfänglich britischer Förderung und britischem Schutz quasistaatliche Strukturen legen konnte, sowie aus dem existenziellen Druck jüdischer Überlebender und Flüchtlinge, die den Friedhof Europa hinter sich zu lassen beabsichtigten. Der im und auf den Weltkrieg folgende Niedergang der europäischen Imperien, der Prozess der Dekolonisierung ebenso wie der chronisch gewordene arabisch-israelische Konflikt brachten es mit sich, dass sich die Juden aus den arabischen wie islamischen Ländern in ihrer Mehrheit letztendlich im jüdischen Staat wiederfinden sollten. […] Die Überlebenden und Flüchtlinge, dem politischen Zionismus gegenüber meist fremd oder agnostisch eingestellt, waren nach dem Geschehen des Holocaust allein von dem Wunsch beseelt, unter Juden zu leben“ (S. 293).
So vermittelt Dan Diners innovative Studie nicht nur ungewöhnliche Einsichten in jene Interdependenzen zwischen unterschiedlichen Räumen und Kräften, die den Verlauf des Zweiten Weltkrieges bestimmten, sondern auch viel Wissen um die Geburt des jüdischen Staates in Palästina und die tiefgreifenden Verwerfungen, die diesen Raum immer noch nicht zur Ruhe kommen lassen. Neben den als Endnotenapparat gestalteten Anmerkungen verfügt der Band über ein jeweils eigenständiges Orts- und Personenregister. Für eine visuelle Orientierung sorgen zwei sehr übersichtliche Karten auf dem vorderen und hinteren Vorsatz (Gebiet des Nahen und Mittleren Ostens sowie eine Weltkarte, jeweils mit der Einzeichnung textrelevanter Örtlichkeiten).
Kapfenberg Werner Augustinovic