Kaiser, Anna-Bettina, Ausnahmeverfassungsrecht. Mohr Siebeck, Tübingen 2020. 416 S. Angezeigt von Albrecht Götz von Olenhusen.
Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall, Carl Schmitt, Politische Theologie, 1922
And in crises, the executive governs nearly alone, at least so far as law is concerned, E. Posner/A. Vermeule, Terror in the Balance, 2008
Der Ausnahmezustand zählt seit jeher zu zentralen staats- und verfassungsrechtlichen Problemfeldern. Die literarische, die rechtliche Faszination des Phänomens schwindet freilich in dem Maße, in dem es sich realisiert. Die elegant formulierte Lust an befreiten Ereignissen wie Kriegen oder Belagerungszuständen mag einer nicht so seltenen Sucht nach retrospektiver Verklärung oder politischen Intentionen von gegenwärtigen oder aufstrebenden Machthabern entsprechen. Vom abstrakten Krisen- bis zum engagierten Verschwörungstheoretiker führen da oft kurzatmige Schritte und flache Wege. Die eindrucksvolle verfassungsrechtliche Theorie der Krise, in diesem Falle antizipatorisch entfaltet, vermag aus dieser rechts- und verfassungsgeschichtlich grundierten und exemplarisch klarsichtigen wie luziden Perspektive dogmatische wie lösungsgeneigte Wege aus bekannten Paradoxien und Aporien des Rechtsstaates aufzuzeigen.
Wenn die Freiburger Habilitationsschrift der an der Humboldt-Universität lehrenden Anna-Bettina Kaiser sich diesem ja zweifellos unerwartet höchst aktuellen Thema widmet – die Arbeit stammt von 2017, begutachtet von nicht geringeren als Andreas Voßkuhle und Mathias Jestedt - ,kann sie nicht allein wegen des eminent historischen Gehalts hohe Aufmerksamkeit beanspruchen. Hier wird die brennende Frage gestellt, inwieweit Ausnahmegesetze den Code des Systems zerstören, die Ausnahme vom Gesetz als eine gefährliche Kategorie angesehen werden kann.
Wir haben es nicht nur mit einem schwer aufzulösenden oder kaum zu tragenden Dilemma gegenwärtiger Staatlichkeiten zu tun: die Verfasserin zeigt die Probleme der Verrechtlichung, die fragwürdigen Auswege von Staatsnotrecht und Idemnität auf, sieht eine Lösung gordischen Knotens nicht in der Suspension der Rechtsordnung, sondern darin, dass der einzelne in konfliktiven Situationen - „Leben gegen Leben“, „Rettungsfolter vs. Menschenwürde - die rettende Tat vollbringen muss“ (S. 359). Damit wird nicht von ungefähr implizit auf existentialistische Denkmodelle und Diskurse über „Grenzsituationen“ (K. Jaspers) früherer Epochen zurückverwiesen.
Dass das Rechtssystem nicht das einzige Problemlösungsmittel ist, wenn es um die hier als ausnahmslos unantastbare Menschenwürde und das Grundvertrauen von Bürgern auf den Staat angeht, diese fast schlicht wirkende, aber hier sehr komplex und mit Einschluss historischer und verfassungsrechtlicher Ableitungen entwickelte existenzielle Lage wird in dieser fundamentalen Arbeit einmal mehr deutlich.
Gegen den Ausnahmedenker par excellence Carl Schmitt denkt Kaiser die Ausnahme umgekehrt vom Recht der Normallage aus: Wie weit können die Grenzen hinausgeschoben werden, wie vermag das Recht der Ausnahmelage noch eine Steuerungswirkung zu entfalten. Carl Schmitt habe die Ausnahme überschätzt.
Der Ausnahmezustand als Regel (Walter Benjamin) oder als herrschendes Paradigma des Regierens (Agamben) nimmt Kriege, Rebellion, wirtschaftliche Depression und andere Krisen in den Blick. Theorie und Geschichte des Ausnahmeverfassungsrechts - Inklusion, Exklusion -, die Regelungen des Grundgesetzes , die einschlägige Dogmatik stehen auf dem Prüfstand: der Umgang mit den Grundrechten im Ausnahmezustand als Lackmustest. Oder anders formuliert: haben wir lediglich eine Schönwetterverfassung und wie steht es um die „Diktaturfestigkeit“ der Freiheitsrechte?
Mit dem langen Abschied vom Suspensionsmodell zum komplexen Einschränkungsmodell des Grundgesetzes (mit Verhältnismäßigkeit und Wesengehaltsgarantie) hat sich auch international ein notstandsfester Grundrechtsschutz konturiert. Das deutsche Modell mit den Einschränkungen ermöglicht zumindest eine „Normalisierung des Ausnahmezustands“, wenn auch um den Preis der Tarnung notwendiger Ausnahmen als Regeln.
Wer soll der Hüter der Verfassung sein: nach Carl Schmitt der Reichspräsident, nach Kelsen eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Die deutsche Variante wird von Kaiser kritisch analysiert. Stichwort: Glykol, Kontaktsperre, extralegales Staatsnotrecht etwa; von E.-W. Böckenförde als Auflösung und Preisgabe der Integrität rechtsstaatlicher Verfassung erklärt, Dogmatisierung
überpositiven Rechts am Beispiel der Mauerschützen, am Abhörurteil, an den Radikalenbeschlüssen etc. Im Rechtsvergleich schneidet das deutsche Verfassungsrecht, wie es sich in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts darbietet, hier mit insgesamt eher guten Noten ab, mag auch die sorgsam austarierte Kritik eher die feinsinnige schärfere Ausnahme als die Regel bilden.
Die Diskussion um so genannte law circle ist allerdings nie abgerissen. Die Produktion einer Dogmatik für Krisenzeiten steht anders als bei der „Umbruchsdogmatik“ noch eher am Anfang. Immerhin wird eine neue Dimension sichtbar auf der Basis von Schutzpflichten als Grundrecht auf Sicherheit, mit dem Ritterschlag als „Supergrundrecht“.
Die hier nicht auszuschöpfende, ja nicht einmal nur in Ansätzen übersichtlich zu referierende Arbeit, in jedem Sinne ein opus magnum, zitiert nicht von ungefähr Hans Kelsen: Hinter der treuherzigen Versicherung, dass der Staat „leben“ müsse, verbirgt sich meist nur der rücksichtslose Wille, dass der Staat so leben müsse, wie es diejenigen für richtig halten, die sich der Rechtfertigung eines „Staatsnotrechtes“ bedienen (1925).
Bei Carl Schmitt trat es ungeschrieben neben den geschriebenen Ausnahmezustand. Kaiser widerlegt solche Theoreme. Terrorismus, Rechtsextremismus, Atomkatastrophen, Euro- oder globale Krisenzeiten haben das verfassungsrechtliche Problem bewusstgemacht und in den Fokus gerückt.
Methodisch wird hier „law in context“ vorgestellt und analysiert. Dabei wird eine absolute Katastrophe ausgeklammert. Kaiser konzentriert sich auf die so genannte Unechte Ausnahme, von den Soziologen als die „normale“ Katastrophe gesehen (C. Perrow).
Ob die Wahrnehmung einer Krise fürs Rechtssystem nur unbeachtliches Rauschen ist oder ob der Ausnahmezustand, etwas „Morsches im Recht“, das Rechtssystem sprengt, und es letztlich nur der Staatsraison überantwortet wird, ist für deren Bewältigung nicht einerlei. Wiewohl vor drei Jahren noch unter anderem aktuellen Kontext veröffentlicht wird dieses Werk mutatis mutandis unversehens ein höchst geeigneter Maßstab für die derzeit allenthalben aus diversen Richtungen und mit differenten ideologischen Prämissen aufgeworfene Frage, was das Handeln der Verfassungsorgane unter Krisenbedingungen bedeutet, ob es einer Reform der Regelungen im Grundgesetz bedarf und wie gegenwärtige punktuelle oder langfristig angelegte bzw. wirkende Aktionen der staatlichen und gesellschaftlichen Kräfte unter den fragilen Bedingungen der Pandemie gesellschaftlich-rechtlich zu bewerten sind.
Düsseldorf Albrecht Götz von Olenhusen