Heinemann, Winfried, Unternehmen „Walküre“. Eine Militärgeschichte des 20. Juli 1944 (= Zeitalter der Weltkriege 21). De Gruyter, Berlin 2019. X, 406 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
In der Vielfalt der widerständigen Handlungen gegen das nationalsozialistische Regime kommt den Ereignissen des 20. Juli 1944 dadurch ein Alleinstellungsmerkmal zu, dass es sich um den einzigen realisierten Versuch handelt, durch die Tötung des Diktators zugleich einen politischen Systemwechsel zu ermöglichen und damit die Weichen für eine möglichst rasche Beendigung des längst verlorenen Krieges zu stellen. Trotz weitreichender organisatorischer Vorbereitungen ist dieses Unternehmen, das unter der Camouflage der „Walküre“ benannten militärischen Planungen für einen Einsatz des Heeres im Fall innerer Unruhen entwickelt wurde, bekanntlich an diversen Umständen gescheitert, deren bedeutendster die Tatsache war, dass Adolf Hitler den Anschlag mit minimalen Blessuren überlebt hat und somit weiterhin handlungsfähig geblieben ist. Hervorzuheben ist, dass nur Offiziere, also Angehörige des Militärs, aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und ihres privilegierten Zugangs zu Hitler überhaupt in der Lage waren, ein solches Vorhaben einigermaßen erfolgversprechend ins Werk zu setzen, und diese zudem bereit sein mussten, das eigene Leben nicht zu schonen. Daher handelt es sich bei dem 20. Juli 1944 zweifellos um ein Stück Militärgeschichte. Um die Motive, die Absichten und die Taten der handelnden Akteure jedoch angemessen verstehen zu können, ist darüber hinaus eine breitere Kontextualisierung notwendig, welche die Sphäre des Militärischen als relevanten Referenzraum eingehend ausleuchtet.
Winfried Heinemann, renommierter Militärhistoriker und Offizier, bezeichnet sein vorliegendes Werk als „Ergebnis eines lebenslangen Lernprozesses“ und „summa meiner Forschungsarbeit“ (S. IX). Militärgeschichte versteht er in einem modernen Sinn als „die Untersuchung militärischer Vorgänge in ihrer politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und auch kulturellen Verflochtenheit, als Teil und gemäß den Standards der allgemeinen Geschichtswissenschaft. Deutscher militärischer Widerstand im Zweiten Weltkrieg hat diese Dimensionen; er ist als Teil der deutschen Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs zu verstehen und zu beschreiben. Eine Militärgeschichte des Dritten Reiches muss dabei in den Blick nehmen, dass das Militär Teil des NS-Machtapparats und in dessen Verbrechen an zentraler Stelle verwickelt war. Während die Armee letztlich Hitlers Machtansprüche bis zum Ende mitgetragen hat, war sie zugleich an dem einzigen Akt des Widerstands beteiligt, der das System als Ganzes zu stürzen drohte“ (S. 4). Um die nötige definitorische Trennschärfe zu wahren, wird der Begriff des Widerstandes für die Studie auf „solche Bestrebungen […], die sich gegen den Fortbestand des gesamten nationalsozialistischen Unrechtsregimes und gegen die Fortführung des von ihm begonnenen Krieges richteten“, beschränkt (S. 9). Es sei endlich zu klären, „in welcher Weise militärisch-fachliche, politische, letztlich aber auch ethische und moralische Motive zusammengewirkt haben, einige wenige unter den Millionen Wehrmachtangehörigen dazu zu bewegen, das System stürzen und den Krieg beenden zu wollen [, …] ebenso die Frage […], welche Folgen der gescheiterte Staatsstreich für die Kriegführung des Reiches bis zur Kapitulation […] gehabt hat und welche Auswirkungen in den beiden deutschen Armeen der Nachkriegszeit sowie im österreichischen Bundesheer festzustellen sind“ (S. 25).
Militärpolitische Vorstellungen in der Weimarer Republik und in der NSDAP – die meisten Angehörigen der Militäropposition waren militärisch in der Reichswehr sozialisiert worden – bilden den Ausgangspunkt der Betrachtungen, dem eine Standortbestimmung des Militärs im polykratischen Gefüge der nationalsozialistischen Herrschaft folgt. Nach einem Blick auf die Einstellungen und die militärische Expertise des Generalstabs des Heeres stehen der Einfluss des Krieges und seines zunehmend von Verbrechen geprägten Verlaufs auf die Formierung des Widerstandes im Mittelpunkt des Interesses. Zentrale Themenkomplexe bilden ferner der Staatsstreich in seinen militärischen Dimensionen und die unmittelbaren Auswirkungen nach dem Scheitern. Ihnen folgen jeweils ein Kapitel zu den politischen, militärischen und ethischen Zielen des 20. Juli 1944 sowie zur späteren Rezeption des militärischen Widerstands in der Bundesrepublik, der Deutschen Demokratischen Republik und in Österreich, bevor vier Seiten Zusammenfassung den inhaltlichen Teil des Bandes abschließen.
In der Gesamtschau wird eingängig, wie sehr die militärischen Akteure und ihr Handeln von den Koordinaten der militärischen Welt bestimmt waren, die gegensätzliche Positionierungen erlaubten. So wird festgehalten, „dass die Reichswehr bereits in sich eine Tradition schuf, das formale Recht und insbesondere die Verfassung gering zu achten und sich stattdessen an einem übergeordneten, aber nicht klar definierten ‚Staatswohl‘ zu orientieren. Das erleichterte einerseits den NS-Machthabern die Instrumentalisierung der Wehrmacht für ihre Menschheitsverbrechen. Es führte andererseits bei einigen wenigen Offizieren zu dem Entschluss, im Angesicht einer Staat und Nation ins Verderben führenden Politik dem formalen Recht zuwider zu handeln und den Staatsstreich mit militärischen Mitteln zu versuchen“ (S. 41). Ferner „(resultierte) die ‚unpolitische‘ Haltung der Reichswehr […] bei manchen Offizieren in einer distanzierten Attitüde gegenüber dem NS-Staat – und diese wiederum bei einigen wenigen in der Beteiligung an der Umsturzplanung. Dabei darf der in der sozialen Isolierung der Reichswehr entstandene geschützte Kommunikationsraum der traditionellen Offizierskorps in seiner Bedeutung für die Schaffung konspirativer Strukturen nicht unterschätzt werden“ (S. 66) – ein großer Vorteil gegenüber den zivilen nationalkonservativen Widerstandskreisen, in denen etwa Goerdelers Geschwätzigkeit eine ständige latente Gefahr für die Konspiration darstellen sollte. Mit der Wiedereinführung einer eigenständigen Militärjustiz 1939 sei es überdies der Geheimen Staatspolizei offiziell untersagt gewesen, „in den Kasernen zu spitzeln“ (S. 76).
Hinsichtlich der Frage der Kriegsspitzengliederung gelte der Befund, „dass […] Soldaten […], nicht nur ein elitärer Zirkel von Generalstabsoffizieren, Hitlers Führung als dilettantisch wahrgenommen haben. Dies ist einer ihrer Antriebe gewesen: gegen den vorzugehen, den sie als den Verderber Deutschlands sahen. Es war offenkundig, dass mit Hitler und seiner Umgebung die Alliierten nie Frieden schließen würden. Weder eine Fortführung des Krieges noch seine Beendigung waren mit der vorhandenen Spitzengliederung und mit Hitler als Feldherrn möglich oder moralisch verantwortbar: Ihre Änderung – und das hieß: ihre gewaltsame Änderung – wurde damit für klarsehende Offiziere im Widerstand zum moralischen Imperativ“ (S. 93). Mit Blick auf die von Hitler initiierte, nationalsozialistisch forcierte „Elitenmanipulation“ im Offizierskorps des Heeres ließen sich „Widerstand, Staatsstreich und Attentat als der Versuch verstehen, diese Umwälzung im NS-Sinne zu einem Zeitpunkt zu verhindern, wo dies noch möglich schien“ (S. 99). Schon 1938 hatten sich „nationalkonservative( ) Verschwörer, darunter viele Offiziere, vorgenommen, Hitler vor der Auslösung des großen europäischen Krieges in den Arm zu fallen. […] Deutlich wird allerdings, dass zumindest einige Verschwörer schon 1938 einen Umsturz mit militärischen Mitteln gegen einen lebenden Hitler nicht mehr für durchführbar hielten“ (S. 116ff.). Zudem verfügte diese Gruppe „nicht über ein einziges Regiment, und da somit die Staatsstreichplanung nicht konkret werden konnte, blieb auch der an sich nicht schlecht vorbereitete Attentatsplan notwendigerweise bloße Absicht" (S. 120). Die Namen Hans Oster und Friedrich Olbricht zeigen hier eine zumindest partielle personelle Kontinuität zu den nachfolgenden Bestrebungen auf. In der Folge sei „bis zum Frühjahr 1943 das Zentrum der militärischen Staatsstreichplanung im Amt Ausland/Abwehr angesiedelt gewesen. […] Die weitgehende Ausschaltung der ‚Abwehr‘ durch den machthungrigen SD [= Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS; W. A.] im Frühjahr 1943 bis hin zu ihrer völligen Übernahme Anfang 1944 zwang die militärischen Verschwörer, eine völlig neue Struktur und Ablaufplanung ins Auge zu fassen: hier liegen die Anfänge der Abstützung auf den Befehlshaber des Ersatzheeres und der Planungen, die unter dem Stichwort ‚Walküre‘ zusammengefasst waren“ (S. 77). Die Verbrechen in der Sowjetunion, die zentrale Akteure des Widerstandes wie Henning von Tresckow im Zuge ihres Dienstes bei der Heeresgruppe Mitte wahrnehmen mussten und wohl auch mitgetragen haben, seien nicht ohne Eindruck geblieben. Den beteiligten Offizieren „erschien […] ein Krieg gegen den ‚Bolschewismus‘ und dessen Träger, als die sie eben vor allem Juden und Kommissare ansahen, moralisch durchaus gerechtfertigt. Dann allerdings wuchs die Einsicht, dass sie in Wirklichkeit einen ganz anderen Krieg führten, dass sie sich für ein Menschheitsverbrechen hatten instrumentalisieren lassen und dass dieser Krieg für Deutschland keinen Ausweg haben konnte. Aus dieser Einsicht führte bei einigen wenigen der Weg in den potenziell systemsprengenden Widerstand – ein Prozess, der sich durchaus über eine längere Zeit erstrecken konnte“ (S. 170f.).
Die Akteure des 20. Juli 1944, allen voran Graf Stauffenberg, standen bei ihrer Aktion durch vielerlei Umstände (häufiger Personalwechsel durch die Lage an den Fronten, drohende Übernahme des Ersatzheeres durch Himmler, Verfolgungsdruck der Gestapo) unter erheblichem Zeitdruck, weshalb manche Vorbereitungen nicht mehr bis in das letzte Detail hinein getroffen werden konnten. Winfried Heinemann spricht von dem „Beste(n), was unter den geschilderten Umständen an Planung zu leisten war“. Das Hauptproblem aber war Stauffenbergs zentrale Doppelfunktion: „Alles hing an zwei Voraussetzungen: Erst musste Hitler dem Attentat zum Opfer fallen, und dann musste Stauffenberg der Explosion lebend entkommen und nach Berlin gelangen, um sich an die Spitze des Staatsstreichs setzen zu können. Diese beiden Bedingungen aber standen in einem fast diametralen Gegensatz zueinander. Hätte der Attentäter sich selbst mit dem ‚Führer‘ in die Luft gesprengt, wäre Hitlers Tod wohl sicher gewesen. Dann aber wäre der Umsturz kopflos und damit aussichtslos gewesen, und damit wäre auch die moralische Rechtfertigung für das Attentat entfallen (S. 217). Tatsächlich hat das baldige Bekanntwerden von Hitlers Überleben manches Vorbereitete nicht zur Ausführung gelangen lassen. Letztlich bleibe der Schluss, „dass es nicht die Kräfte von SS, Gestapo oder anderen Organen waren, die den Staatsstreich niedergeschlagen haben, sondern systemloyale Kräfte des Heeres selbst. […] Das Heer selbst versagte sich dem Umsturz. Das schützte es nicht vor der Rache des Regimes, das zwar die beteiligten systemtreuen Offiziere beförderte, aber ansonsten das Heer als Träger der Verschwörung erscheinen ließ“ (S. 222). Zu dem Verhältnis von sachgeleitetem Handeln und Moral konstatiert der Verfasser für die militärischen Verschwörer: „Für die militärischen Beweggründe der Offiziere muss gelten: Wer sich auf den Umsturzversuch einließ und dies aus fachlicher Erwägung heraus getan hat, hat nicht nur seinem Sachverstand entsprechend, sondern auch moralisch richtig gehandelt. Militärische Expertise kann durchaus zum moralisch richtigen Tun führen“. Bekanntlich haben ja dann tragischer Weise die zehn Monate vom Juli 1944 bis Kriegsende „etwa genauso viele deutsche Verluste an Menschenleben wie […] die fünf Kriegsjahre zuvor“ gefordert (S. 301f.).
Nicht nur die abschließenden Überlegungen zur Wirkungsgeschichte des militärischen Widerstandes beinhalten Erörterungen zu juristischer Thematik (z. B. die Traditionserlässe diverser Streitkräfte, die spätere strafrechtliche Würdigung von Urteilen gegen Angehörige des Widerstandes, gesetzliche Regelung des Widerstandsrechts und die Rechtsprechung), sondern solche finden sich schon zuvor in anderen Zusammenhängen. Ausführlich wird so die Frage der rechtlichen Bindungswirkung des Fahneneids erörtert, der, anders als der Zeugeneid, „eigentlich keine Rechtswirkung entfaltete und sein Bruch daher als solcher nicht strafbar war“. Ersterer sei bloß „ein Versprechen in die Zukunft. Wer ihn bricht, wird möglicherweise nach einer Rechtsnorm verurteilt, also etwa wegen Ungehorsam, Fahnenflucht oder Landesverrat. Die Verurteilung stützt sich dann auf die rechtliche Norm, nicht auf den gebrochenen Eid“ (S. 175). Im Übrigen sei „die Eidfrage erst post festum durch Freisler hochgespielt worden; die Verschwörer haben schon lange vor dem 20. Juli keine Bindung an ihren Eid mehr verspürt“, dem im Übrigen bereits der Sachsenspiegel „keine unbegrenzte Geltung“ zugeschrieben habe (S. 178). An anderer Stelle geht es um die Funktion des wohl auf Betreiben Himmlers und Keitels eingesetzten Ehrenhofs des Heeres, von dem häufig behauptet wurde, sein Spruch sei die Voraussetzung dafür gewesen, den Verschwörern ihre Qualität als Soldaten zu nehmen, um sie der Militärstrafjustiz zu entziehen und als Zivilisten vor den Volksgerichtshof anklagen zu können. In Wahrheit, so der Verfasser, sei ein solcher Ehrenhof „weder irgendwo vorgesehen noch ein zwingendes juristisches Erfordernis“ gewesen, sondern habe „ein politisches Ziel“ verfolgt, wobei es dabei „speziell darum ging, das Heer in den inneren Machtkämpfen des NS-Regimes weiter zurückzusetzen“ (S. 237f.). Weitere Ausführungen widmen sich der Praxis der Sippenhaft (S. 248ff.), den Verfahren vor dem Volksgerichtshof im Überblick (S. 250ff.) und den Vorstellungen der Verschwörer von einer Wiederherstellung der „Majestät des Rechts“ (S. 286ff.).
So gelingt es dem Verfasser, der sich ausdrücklich gegen abstrakte moralisierende Deutungen des (militärischen) Widerstands ausspricht, zu zeigen, dass im Kern pragmatische Überlegungen die Handlungen seiner Akteure bestimmten. Wie die Geschichte zeigt, hat aber nur eine verschwindende Minderheit im Zweifel den Mut aufgebracht, aus zwingenden Erkenntnissen die entsprechenden Schlussfolgerungen abzuleiten und diese dann auch konsequent in die Tat umzusetzen. „Wenn Stauffenberg, Tresckow, Beck und die anderen dem Krieg ein Ende zu setzen versuchten, weil sie den sinnlosen Tod weiterer Millionen Menschen auf beiden Seiten der Front und im Hinterland verhindern wollten – dann ist das auch ein moralisch richtiges Handeln“ (S. 346). Dass ihre politischen Motive – historisch nachvollziehbar – weitgehend an nationalkonservativen und nationalstaatlichen und nicht an demokratisch-egalitären Vorstellungen orientiert waren, tue dem keinen Abbruch und sei als Tatsache kein Grund, das Andenken zu entwerten. Vieles, was hier zu lesen ist, ist bereits aus anderen Werken bekannt, aber in ihrer Fokussierung auf das System Militär sind Winfried Heinemanns Darlegungen stringent und in sich konsistent. Hervorzuheben ist insbesondere seine Betonung des prägenden Charakters der Reichswehrtradition, deren Einfluss auf den militärischen Widerstand jenen der kaiserlichen Streitkräfte übertroffen habe.
Kapfenberg Werner Augustinovic