Würfel, Martin, Das Reichsjustizprüfungsamt (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 104). Mohr Siebeck, Tübingen 2019. XIV, 228 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Das dem Menschen auf Grund seines Gedächtnisses mögliche Wissen eröffnet ihm unterschiedliche Verhaltensmöglichkeiten, die sich nach der Größe des damit erreichten Erfolgs ungefähr ordnen lassen. Da hierfür nicht allein die eigene Erfahrung, sondern auch die Übernahme der Erfahrungen anderer hilfreich sein kann, haben sich spätestens seit den Hochkulturen des Altertums eigene Ausbildungsstätten wie Schulen ausgebildet, denen seit dem Hochmittelalter vor allem die Universitäten und sonstigen Hochschulen gefolgt sind. Aus ihrem Betrieb haben sich die vielfältigen Prüfungsmöglichkeiten der Folgezeiten entwickelt, zu denen auf der Suche nach möglichst fähigen Juristen auch die sei Bologna üblichen Prüfungen der juristischen Professoren, der juristischen Fakultäten und danach auch des neuzeitlichen Staates gehören.
Mit dem auf diesem langen Wege erst vor weniger als hundert Jahren und auch nur für eine ziemlich kurze Zeit geschaffenen, an sich modernisierend gedachten Reichsjustizprüfungsamt beschäftigt sich die eine Lücke schließende, von Nicolas Becker und Uwe Wesel unterstützte, von Ralf Frassek betreute und in dem Wintersemester 2017/2018 von der Universität Halle-Wittenberg angenommene Dissertation des 1987 geborenen, in Berlin an der Humboldt-Universität in Rechtswissenschaft ausgebildeten und nach den beiden juristischen Staatsprüfungen seit 2015 als Rechtsanwalt in München tätigen Verfassers. Sie gliedert sich nach einer Einleitung über Aufriss, Forschungsstand, Forschungsziel und Forschungsweg in fünf Sachkapitel. Sie betreffen den Weg zu dem Reichsjustizprüfungsamt, die gesetzlichen Grundlagen, das Amt und seine Struktur, die Referendare und ihre Ausbildung sowie die Prüfungspraxis.
Ausgangspunkt ist dabei die moderne Suche nach idealen und zugleich rationalen menschlichen Zielen wie Gerechtigkeit und Gleichheit unter Wahrung von Freiheit und Menschlichkeit, die nicht nur den großen und möglichst erfolgreichen Staat, sondern für die Deutschen auch die teilweise Verreichlichung der Justiz trotz des hergekommenen Föderalismus versucht und teilweise auch verwirklicht hat. Überzeugend betrachtet der Verfasser dabei die partikulare Zersplitterung der Juristenausbildung, deren Mängel trotz mancher Reformversuche die praktische Ausbildung von Juristen durch außeruniversitäre, außerstaatliche, freiberufliche und damit erfolgsabhängige Repetitoren nicht verhindern konnte. Zwecks Abhilfe entstand deswegen in Preußen als dem bedeutendsten Land des Deutschen Reiches 1923 durch Umetikettierung eines Vorläufers ein besonderes preußisches juristisches Landesprüfungsamt mit einem Leiter einer Abteilung des Justizministeriums Preußens als Präsidenten, einem geschäftsführenden Vizepräsidenten und sieben hauptamtlichen Mitgliedern.
Nach der Bestellung Adolf Hitlers als Reichskanzler gewannen dabei die zentralistischen Überlegungen so starkes Gewicht, dass auf der Suche nach einem neuen nationalsozialistischen Juristen an dem 22. Juli 1934 eine Justizausbildungsordnung geschaffen werden konnte, die an dem 4. Januar 1939 revidiert werden konnte. Sie setzte ein Reichsjustizprüfungsamt als vorhanden voraus und legte dessen Zuständigkeiten für die erste juristische Staatsprüfung und die (zweite) große Staatsprüfung fest. Die Struktur dieses Amtes und dessen Zuständigkeiten regelte dabei die Verordnung über den Ausbau des Reichsjustizprüfungsamts von dem 27. Februar 1935.
Zu der Vorbereitung erging dabei an dem 16. Oktober 1934 ein Erlass des Reichsministers der Justiz, der mit Wirkung ab 22. Oktober 1934 die Justizministerien des Reiches und Preußens zu gemeinschaftlicher Arbeit als Reichs- und preußischer Justizminister vereinigte. Ein weiterer Erlass des Justizministers von dem folgenden 17. Oktober 1934 wies alle Beamten des juristischen Landesprüfungsamts dem Reichsjustizprüfungsamt zu. Dies waren neun Kammergerichtsräte, ein Landgerichtsdirektor, ein Landgerichtsrat, Vizepräsident Creutzfeldt und Otto Palandt als in erwartbarem Geschäftsgang bestellter Präsident.
Sitz der insgesamt nur elf Jahre bestehenden einheitlichen Reichsjustizprüfungamts waren nacheinander sechs Orte, darunter von Mitte Dezember 1943 an Leitmeritz in Nordböhmen und in dem April 1945 eine Übergangsunterkunft in Gera. Das Amt leitete das gesamte juristische Prüfungswesen. Unmittelbar nach außen trat es nur hinsichtlich der Abnahme der (zweiten) großen Staatsprüfung auf.
Otto Palandt, der nach deutlich überdurchschnittlichen Prüfungsergebnissen an dem 1. Mai 1933 in die NSDAP eintrat und zu dem 31. 12. 1944 aus ihr austrat und anscheinend infolge Abordnung aus einer Tätigkeit an dem Oberlandesgericht Kassel einer von sieben Mitarbeitern des juristischen Landesprüfungsamts Preußens geworden und wegen verschiedener Wechselfälle des Lebens erwartbar zu dem Präsidenten des Reichsprüfungsamts aufgerückt war, beschreibt der Verfasser als ältlichen, etwas uninspirierten, sicherlich nicht gänzlich unintelligenten pflichtbewussten Beamten Preußens ohne eigene zündende Ideen oder außergewöhnlichen politischen Impetus, der wusste, was wer wann von ihm hören wollte und dieses Wissen bei Bedarf nutzte, wie wohl die große Mehrheit seiner Zeitgenossen - oder auch aller Menschen -. Zu dem 1. Februar 1943 trat er auf Grund Alters in den Ruhestand, hatte aber bis zu seinem Tode in Hamburg an dem 3. Dezember 1951 noch verschiedene Wechselfälle des Lebens zu bestehen. In die Annalen der deutschen Rechtsliteratur fand er unerwartet 1938 durch den Unfalltod des eigentlich vorgesehenen Herausgebers Gustav Wilke des bald ungewöhnlich erfolgreichen Kurzkommentars des Verlags Beck zu dem Bürgerlichen Gesetzbuch Eingang, wodurch sein griffiger Name (wie sonst vielleicht nur noch die Namen Schönfelder und Sartorius) mehr deutschen Juristen bekannt wurde als die Namen der meisten anderen deutschen Juristen aller Zeiten.
Insgesamt stellt der Verfasser seinen eng begrenzten interessanten Untersuchungsgegenstand überzeugend dar. Insbesondere zeigt er auch viele nicht allgemein bekannte Einzelheiten über die Referendare und ihre Ausbildung sowie über die Prüfungspraxis. Zusammenfassend geht er zutreffend zwar von einer teilweise eindeutig nationalsozialistisch geprägten Juristenausbildung unter dem bewusst vereinheitlichenden Reichsjustizprüfungsamt aus, verabsolutiert diesen Umstand aber doch auch nicht.
Innsbruck Gerhard Köbler