Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus?, hg. v. Frei, Norbert (= Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Vorträge und Kolloquien 22). Wallstein, Göttingen 2018. 439 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Der Nationalsozialismus als aus dem Nationalismus und dem Sozialismus des 19. Jahrhunderts von Adolf Hitler ab 1919 wesentlich geprägte politische, ab dem 30. Januar 1933 in dem Deutschen Reich an die Herrschaft gelangte politische Strömung folgt dem Sieg des Bürgertums in der französischen Revolution von 1789 zeitlich deutlich nach. Deswegen lässt sich gut die Frage stellen, wie bürgerlich war der Nationalsozialismus. Das bedeutet nach dem einleitenden Vorwort des Herausgebers des vorliegenden Sammelbandes nicht die Suche nach der individuellen Herkunft, die individuellen Vorlieben oder dem privaten Habitus Adolf Hitlers, Hermann Görings oder Joseph Goebbels‘ und auch nicht die Frage danach, wie bürgerlich die Nationalsozialisten waren, sondern nur die in dem Werktitel aufgeführte Formulierung.
Als Antworten hat der Herausgeber insgesamt 22 Beiträge Mitwirkender zu einer übergeordneten Einheit versammelt. Sie sind in insgesamt vier Abschnitte aufgeteilt. Diese betreffen Bürger in der Krise – Hoffnungen und Befürchtungen von 1930 bis 1934 -, Bürger in Braun – Selbstverwandlungen und Zumutungen zwischen 1934 und 1939 -, Bürger im Krieg – Verlusterfahrungen und Beharrungskräfte sowie Bürgertum danach – sowie Selbstdeutungen und Umdeutungen seit 1945, wobei jeder Abschnitt mit einem Kommentar und einer Diskussion endet.
Betrachtet werden dabei sachlich nacheinander Führererwartungen in dem Protestantismus, radikale Studenten und herausgeforderte Professoren, Jews on the Defensive, Liberalism between Retreat and Accomodation, Arbeit, Leistung, Bürgertum, bürgerliche Frauen und nationalsozialistische Geschlechterpolitik, das Eigentum der andern, Bürgertum, Rasse und Eugenik, schulische Erziehung und Entbürgerlichung, Bürgerlichkeit, Militär, Gewaltkultur, Hochkultur im Krieg, Widerstand sowie Klassenjustiz und Heimatfront. Persönlich werden Albert Vögler, Inge Aicher-Scholl, Carlo Schmid, Martin Niemöller und Giselher Wirsing einbezogen. Damit will das Sammelwerk dazu beitragen, die geschichtliche Bürgertumsforschung über das Jahr 1933 hinaus fortzusetzen. Möge dem die Ergebnisse eines in den Rosensälen Jenas von dem 20. bis zu dem 22. Oktober 2016 abgehaltenen Symposiums veröffentlichenden Band, dessen Beiträge durch ein Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis der insgesamt 31 Teilnehmer und ein Namenverzeichnis von Abegg über Hitler bis Zuckmayer benutzerfreundlich abgerundet sind, viel Aufmerksamkeit beschieden sein, auch wenn das vielfältige Mosaik kein einfaches und eindeutiges Gesamtbild ergibt.
Innsbruck Gerhard Köbler