Simms, Brendan, Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation, Deutsche Verlags-Anstalt (2019), 397 S. Besprochen von Waldemar Hummer.

 

Im Zuge der aktuellen „Brexit-Debatte“ erscheint gegenwärtig eine Fülle von Publikationen, die sich mit dem Verhältnis des Vereinigten Königreichs (UK) mit Europa im Allgemeinen bzw. mit der Europäischen Union (EU) im Besonderen befasst. Eines der interessantesten Bücher ist in diesem Zusammenhang die gegenständliche Studie von Brendan Simms, Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation, deren englische Originalausgabe bereits 2016 unter dem Titel „Britain’s Europe. A Thousand Years of Conflict and Cooperation“ bei Allan Lane, London erschienen ist. Der Autor stützte sich dabei laut eigener Aussage weitgehend auf das Material eines früheren Artikels von ihm, nämlich „Scotland, the British Question and the European Problem. A Churchillian Solution“ (JCGEP 12/2014, S. 456ff.). Wie aus diesem Bezug sehr anschaulich hervorgeht, hatte Simms seine Publikation nicht erst unter dem Eindruck eines drohenden „Brexit“ verfasst, sondern wollte an sich die bereits früher nicht immer ganz konfliktfreien Beziehungen zwischen dem UK und Europa darstellen.

 

In seiner deutschen Übersetzung von Klaus-Dieter Schmidt wurde das Buch drei Jahre später von der Deutschen Verlags-Anstalt Anfang 2019 herausgebracht. Da der Autor in dieser Veröffentlichung aber unbedingt auch auf die mit dem „Brexit“ – der sich gerade zwischenzeitlich ereignet hatte – verbundenen Fragestellungen eingehen wollte, ersetzte er das bisherige Schlusskapitel der englischen Fassung seines Buches durch das nunmehrige Kapitel 10 mit dem Titel „Die Europäische Union verlassen, aber nicht Europa. Großbritannien und der Kontinent im Zeitalter des Brexit“ (S. 311ff.). Das Besondere an dieser Veröffentlichung ist daher der Umstand, dass ein ursprünglich über die Geschichte Großbritanniens bzw. des UK verfasstes Buch, diese seine Erkenntnisse in einem angefügten Schlusskapitel auf die aktuelle Lage des UK im Zuge des „Brexit“ bewusst umlegt, ohne dabei aber „ex ante“, d. h. vom Aufbau und seiner Struktur her, bereits damit gerechnet zu haben.

 

Dadurch entsteht ein ganz anderes Bild, als dies in den vergleichbaren Studien der Fall ist, die von der Austrittsvariante des UK aus der EU gem. Art. 50 EUV ausgehen und - rückblickend - diese historisch „bereits angelegt“ erkennen, indem sie von einer isolierten „Insellage“ Großbritanniens und dessen grundlegend atlantischer und nicht europäischer Ausrichtung ausgehen. Im Gegensatz dazu vertritt Simms eine konträre Auffassung, indem er davon ausgeht, dass die Geschichte Englands und später Großbritanniens „vornehmlich eine kontinentale Geschichte ist. Ihr Verlauf wurde hauptsächlich durch die Beziehungen zum übrigen Europa geprägt und weniger durch diejenigen zur weiten Welt außerhalb Europas“ (S. 12). Seit dem Mittelalter waren die Herrschergeschlechter Englands sehr eng mit den Könighäusern in Spanien, den Niederlanden, Frankreichs und Deutschlands verbunden und haben sowohl über diese dynastischen Verbindungen, als auch des Öfteren über eine militärische Präsenz immer wieder versucht, Einfluss auf die europäischen Nachbarstaaten zu nehmen. Auf der anderen Seite wirkten sich die Vorgänge auf dem Kontinent gleichsam „reflexartig“ aber auch auf die Politik auf den britischen Inseln aus, sodass sich diese keinesfalls in einer „splendid isolation“ abspielte.

 

Das „Narrativ“ von Simms ist daher grundsätzlich anders und lässt auch die (innenpolitische) Situation, die zur Auslösung des „Brexit“ geführt hat, in einem anderen Licht erscheinen. Wie kaum ein anderer Autor verweist er in diesem Zusammenhang folgerichtig auf die Hauptverantwortung von Premierminister David Cameron für das „Brexit“-Desaster, der auf dem Europäischen Rat Ende 2011 sein Veto gegen die Übereinkunft zur Rettung des Euro einlegte, um die Interessen des Finanzplatzes der City of London zu schützen, damit aber heftigen Widerstand der anderen Staats- und Regierungschefs der EU erntete (S. 316). In seiner vieldiskutierten „Bloomberg-Rede“ vom Januar 2013 forderte er in der Folge nicht nur eine Rückdelegation einer Reihe von Kompetenzen der EU an die Mitgliedstaaten, sondern erklärte auch, dass das UK das Ziel der Schaffung „einer immer engeren Union der Völker Europas“, so wie es in der Präambel des EUV verankert ist, nicht (mehr) akzeptieren könne. Auch müsste es zu einer massiven Einschränkung der Freizügigkeit von Unionsbürgern kommen, die zu stark auf den britischen Arbeitsmarkt drängten.

 

Obwohl die EU dem UK Ende Juni 2014 eine Reihe von Zugeständnissen zur Abschwächung der Verpflichtung zur Erreichung einer „ever closer union“ machte, gab sich Cameron damit nicht zufrieden und ordnete für den 23. Juni 2016 ein Referendum über den Verbleib des UK in der EU an, das überraschender Weise mit 52 zu 48 Prozent für den Austritt des UK aus der EU ausging. England und Wales hatten sich dabei für den Austritt ausgesprochen, während in Schottland und Nordirland deutliche Mehrheiten für den Verbleib im UK votiert hatten.

 

Unmittelbar danach trat David Cameron als Premierminister zurück und wurde durch Theresa May ersetzt, die in der Folge diese verfahrene Situation zu bewältigen versuchte, daran aber letztlich scheiterte. Simms kommentiert die „Brexit“-Verhandlungen bis Ende 2018, um dann abschließend festzustellen: „Auch nach der Entscheidung für den „Brexit“ ist die Europäische Union noch kein Feind des Vereinigten Königreichs“ (S. 342). Allerdings stellt er in diesem Zusammenhang auch fest: „Tatsächlich weiß niemand wirklich, wie das Gleichgewicht der Stärke zwischen der geopolitischen Ordnung des Vereinigten Königreichs und dem geoökonomischen und georechtlichen System der EU gelagert ist (…) Großbritannien mag die EU verlassen, aber es wird, wie Theresa May festgestellt hat, nicht Europa verlassen. Es sei dahingestellt, ob es dies überhaupt könnte“ (S. 334f.).

 

Versucht man eine abschließende Würdigung der gegenständlichen Publikation von Brendan Simms, dann muss man feststellen, dass es sich dabei um eine ebenso fakten- wie thesenreiche Darstellung der Geschichte Englands bzw. Großbritanniens und des Vereinigten Königreichs vom Mittelalter bis zum Brexit handelt, die zwar nie ins Detail geht, dafür aber einen guten Überblick über die wichtigsten Zusammenhänge in der britisch-europäischen Geschichte gibt. Das Buch bietet keine systematische Zusammenstellung der Beziehungen Großbritanniens zum europäischen Kontinent, sondern konzentriert sich vielmehr auf die Außenpolitik und den Verfassungsrahmen – unter weitgehender Außerachtlassung von Innenpolitik und Wirtschaft. Gerade deswegen ist es aber gut lesbar und allgemein verständlich.

 

Innsbruck                                                       Waldemar Hummer