Schulte, Michael, Urnordisch. Eine Einführung (= Wiener Studien zur Skandinavistik 26). Praesens, Wien 2018. 154 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Wann die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidende Sprache durch wen, wo und wie entstanden ist, weiß niemand genau, weil es darüber jedenfalls bisher keine gesicherten Quellen, sondern nur Mutmaßungen gibt. Erst mit der Entwicklung der Schrift aus älteren Bildern werden die frühesten bekannten Quellen sichtbar, die aber Vorderasien und die dortigen Sprachen betreffen. Dessenungeachtet ist für die Skandinavistik und damit auch für die ältere Germanistik und die Indogermanistik das Urnordische besonders interessant, weil es die älteste erkennbare Stufe des Skandinavischen betrifft.

 

Nach dem kurzen Vorwort des an der 1994 als siebte Universität Norwegens gegründeten University of Agder tätigen, nach seinem eigenen Schriftenverzeichnis erstmals 2000 für das Urnordische und die Runen hervortretenden Verfassers ist eine deutschsprachige Einführung in das Urnordische, die Sprache der älteren Runeninschriften, und seine Überlieferung einschließlich einer modernen Studienbibliographie dieses Fachgebiets schon lange ein überfälliges Desiderat. Gegliedert ist seine durch 21 Abbildungen veranschaulichte Darstellung in acht Abschnitte. Sie betreffen eine Einführung in die urnordische Periode, in das zugehörige Corpus, in das Urnordische innerhalb der germanischen Sprachenfamilie, in die komparative Methode, in die Variation in dem Frühurnordischen und in das linguistische Profil der älteren Runensprache, die Philologie des Frühurnordischen, die Morphologie des Frühurnordischen, die syntaktische Variation und diachrone Entwicklung, den Wortschatz des klassischen Urnordischen, eine Auswahl fünfzehner älterer Runeninschriften, weiterführende Literatur und einen Anhang mit Abkürzungen und diakritischen Zeichen, einem Verzeichnis der zitierten Runeninschriften, Abbildungsnachweisen und einem Glossar linguistischer, runologischer und archäologischer Fachbegriffe von Ablativ bis Wurzel.

 

Urnordisch ist nach dem Verfasser die tatsächlich etwa durch den Kamm von Vimose mit der Inschrift harja von etwa 160 nach Christus belegte Sprache der Runeninschriften in dem älteren Fuþark, die bis in die Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts (um 150 n. Chr.) zurückführen, in der sprachgeschichtlich die urgermanische Periode bereits „ein gutes Stück“ zurückliegt und die verschiedenen Stufen der germanischen Lautverschiebung mit dem darin enthaltenen Voraussetzungen für das so genannte vernersche Gesetz bereits in den ältesten Runeninschriften durchgeführt und die Anfangsbetonung des Germanischen vollkommen erreicht ist. Gliedern lässt sich das Urnordische in das ziemlich stabile Frühurnordische ab der Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts und das sich in der Sprachform dem klassischen Altnordischen annähernde Späturnordische des 6. und 7. Jahrhunderts, das (meist) um 700 n. Chr. endet (weitgehend synkopierte späturnordische Inschrift auf einer Steinplatte von Eggja aus Sogn in Norwegen, um 600-700 n. Chr.). Die Zahl der urnordischen Runeninschriften benennt der Verfasser vorsichtig mit mindestens 350.

 

Hieraus sind bisher insgesamt etwa 250 Lexeme ermittelt, die sich auf alle Wortarten und Personenamen verteilen und mehr als 100 Eigennamen umfassen. Der belegte Wortschatz ist germanischen Ursprungs und enthält beispielsweise wichtige Verwandtschaftsbezeichnungen und einzelne aus dem Keltischen oder Lateinischen entlehnte Lexeme. Insgesamt greift der Verfasser alle Fragen des Urnordischen vorsichtig auf und bietet an Hand geschickt ausgewählter Beispiele jedem Interessierten verständliche und einleuchtende Antworten, so dass sein den gegenwärtigen Stand der Forschung bestmöglich widerspiegelndes Werk jedem Leser nachdrücklich empfohlen werden kann.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler