Reuter, Marc, Ghettorenten. Eine rechtsmethodische und –historische Untersuchung zum Umgang mit nationalsozialistischem Unrecht in der Sozialversicherung (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 105). Mohr Siebeck, Tübingen 2019. XVIII, 296 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Das Deutsche Reich unter der Herrschaft Adolf Hitlers hat in Verfolgung seiner für richtig gehaltenen Politik vielfältige Ergebnisse erzielt, die nach Ende dieser Herrschaft als eindeutig rechtswidrig eingestuft wurden und deshalb einen Ausgleich zur Folge haben sollten, selbst wenn sich diese Erkenntnis weder während der nationalsozialistischen Zeit noch unmittelbar danach durchsetzen konnte. Eine der dabei allmählich aufgeworfenen und anerkannten Fragen war es, ob von der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgten Menschen, die während des zweiten Weltkriegs zu Arbeit in einem Ghetto verpflichtet wurden, wenigstens nachträglich ein Anspruch auf eine Rente zusteht. Unter starkem internationalem politischem Druck musste die wirtschaftlich wohlhabende Bundesrepublik nach langen Jahren des Ablehnens und Verweigerns letztlich einlenken.
Mit dieser sehr interessanten und auch sozial wie methodisch wichtigen Problematik beschäftigt sich die vorliegende von Ulrich Preis besonders geförderte, von der juristischen Fakultät der Universität Köln in dem Wintersemester 2017/2018 angenommene Dissertation des 1987 geborenen, in Köln an der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft e. V. und an der Universität Köln in Rechtswissenschaft ausgebildeten, 2014 die erste juristische Staatsprüfung ablegenden, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Institut für deutsches und europäisches Arbeitsrecht und Sozialrecht der Universität Köln tätigen Verfassers. Sie gliedert sich nach einer Einleitung über Widersprüche, öffentliches Interesse, Ziel, Gang der Untersuchung sowie Sprache und Terminologie in fünf Sachkapitel. Sie betreffen Geschichte, Methodik und ihre Grenzen, Grundlagen des Entschädigungsrechts und Wiedergutmachungsrechts, rentenrechtliche Anrechnung von Arbeit in nationalsozialistischen Ghettos sowie Systemkontinuität und Fortwirkung nationalsozialistischen Rechtes in der Sozialversicherung.
An dem Ende seiner eindringlichen, selbständigen und weiterführenden Überlegungen sollte es nach dem Verfasser nicht ausführlicher Überlegungen für den Schluss bedürfen, dass die Fortwirkung auch einer vorkonstitutionellen, an die „Rasse“ anknüpfenden Vorschrift unter dem Grundgesetz nicht zulässig sein kann, was gerichtlich 1995 anerkannt wurde. 2009 beseitigte das Bundessozialgericht die meisten bis dahin angenommenen Hindernisse für (bisher schätzungsweise rund 50000) Rentenansprüche für Arbeit in nationalsozialistischen Ghettos nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto von dem 20. Juni 2002. In dem Anhang veranschaulicht eine ziemlich klein gesetzte Karte die Lage der zahlreichen Ghettos in dem von dem Deutschen Reich besetzten Mitteleuropa und Westeuropa und ermöglicht der Abdruck der wichtigsten Rechtsnormen die eigenständige Einordnung der vielfältigen Problematik.
Innsbruck Gerhard Köbler