Raichle, Christoph, Die Finanzverwaltung in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus. Kohlhammer, Stuttgart 2019. 949 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Das Wesen des Menschen ist von seinem Selbsterhaltungstrieb und damit von der Suche nach günstigeren Lebensbedingungen bestimmt, was für den Einzelnen ebenso gilt wie von denjenigen, welche den von den Menschen erfundenen Staat hierfür nutzen. In diesem Rahmen haben viele Menschen seit langer Zeit festgestellt, dass sich die Möglichkeiten von Mitmenschen für die Verwirklichung ihrer eigenen Ziele verwerten lassen. Die darauf gegründete staatliche Verwaltung hat sich diese Erkenntnis dadurch zunutze gemacht, dass sie Einkünfte und Vermögen anderer entsprechend ihren jeweiligen politischen Zielsetzungen durch Steuern für sich verwendete.

 

Mit einem Teilaspekt dieses Sachgegenstands beschäftigt sich die vorliegende umfangreiche Untersuchung des bereits 2014 durch eine Dissertation an der Universität Stuttgart über Hitler als Symbolpolitiker hervorgetretenen, bei Wolfram Pyta als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Ludwigsburg tätigen Verfassers, der sein Werk unter den von Steuerinspektor Max Dolmetsch in einem Verhör in dem Juni 1936 geäußerten biblischen Satz „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ stellt. Nach dem Geleitwort des Betreuers geht die Studie von der früheren Vorstellung aus, dass es angesichts der erschreckenden Verbrechensbilanz der nationalsozialistischen Diktatur zunächst als nicht vordringlich erschien, ausgerechnet die scheinbar kleine Welt der Steuern und Abgaben näher zu betrachten, in der sich die Finanzbeamten als Garanten einer vermeintlich sauberen Verwaltung verstanden. Auf dieser Grundlage gliedert sie sich nach einem Inhaltsverzeichnis und einem Abkürzungsverzeichnis sowie einer Einleitung über Forschungsstand, Fragestellungen, Quellenlage, den Aufbau der Reichsfinanzverwaltung ab 1919 und das Selbstbild der Finanzverwaltung nach 1945 in drei Kapitel über die Personalpolitik und politische Führung, die Entziehung jüdischer Vermögen durch die Finanzverwaltung und die Verwaltung und Verwertung der jüdischen Vermögen ab 1940.

 

In dem Ergebnis seiner sorgfältigen, durch 46 Abbildungen und den Abdruck siebzehner zwischen dem 15. Mai 1937 und dem 29. Dezember 1949 verfasster kurzer Dokumente bereicherten Untersuchung kann der Verfasser feststellen, dass die Finanzverwaltung auch in der Untersuchungszeit verwirklichte, was die von den Wählern gestützte nationalsozialistische Politik von ihr verlangte. Dabei kann er zeigen, dass die Finanzverwaltung bereits vor 1933 die fiskalischen Interessen des Reiches zu verwirklichen versuchte. Da Adolf Hitler sich mit Zustimmung seiner Wähler den Antisemitismus in dem Rahmen des Nationalismus und des Sozialismus zu seinem wichtigsten politischen Ziel gesetzt hatte, führte die Umsetzung folgerichtig zur grundsätzlichen Schädigung der Juden durch besondere Steuern und die Verstaatlichung ihrer Vermögen in dem Zuge der massenhaften Deportationen, so dass sich auch die Finanzpolitik zwischen 1933 und 1945 als bei sorgfältiger Betrachtung eigentlich erwartungsgemäß durchaus nationalsozialistisch bestimmt erweist.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler