Orth, Karin, Vertreibung aus dem Wissenschaftssystem – Gedenkbuch für die im Nationalsozialismus vertriebenen Gremienmitglieder der DFG (= Beiträge zur Geschichte der deutschen Forschungsgemeinschaft 7). Steiner, Stuttgart 2018. 449 S., 29 Abb., 4 Tab. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Aus nicht wirklich genau bekanntem Grund erhob Adolf Hitler während seiner allmählichen Hinwendung von einem einfachen Angehörigen der Streitkräfte des Deutschen Reiches zu einem aufstrebenden Politiker den Antisemitismus zu einer seiner wichtigsten Zielsetzungen, die ihm die Zustimmung von Wählern verschaffte. War sie zunächst bloßes politisches Programm auf der Jagd nach Wählerstimmen, so änderte sich dies mit Hitlers Ernennung zu dem Reichskanzler des Deutschen Reiches, weil er damit seit dem 30. Januar 1933 über tatsächliche Gestaltungsmöglichkeiten verfügte. Sie verwirklichte er in kurzer Zeit in vielfacher Weise ohne Rücksicht auf Menschlichkeit und Menschenwürde.
Mit einem besonderen Einzelaspekt dieses Vorgangs beschäftigt sich das vorliegende Werk der in Frankfurt am Main 1963 geborenen, ab 1984 in dort und in Berlin (FU) in mittlerer Geschichte, neuerer Geschichte, Politologie und Soziologie ausgebildeten, ab 1990 als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Konzentrationslagergedenkstätte Neuengamme in einem Befragungsprojekt zu den Lebensgeschichten von das Konzentrationslager Überlebenden und ab 1994 an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und an dem Institut für Sozialforschung tätigen, mit einer Dissertation über das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager promovierten und ab 1998 an dem Historischen Seminar der Universität Freiburg im Breisgau und weitgehend zeitgleich als wissenschaftliche Koordinatorin der Forschungsgruppe zu der Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1920-1970) wirkenden, 2015 mit einer Schrift über die nationalsozialistische Vertreibung der jüdischen Gelehrten – die Politik der Deutschen Forschungsgemeinschaft und die Reaktionen der Betroffenen habilitierten Verfasserin. Die informative Studie gliedert sich nach einer kurzen Einleitung in einen Überblick über die Gremienmitglieder der Deutschen Forschungsgemeinschaft und biographische Porträts der vertriebenen Gremienmitglieder: Erfasst werden dabei das Präsidium, der Hauptausschuss und der Fachausschuss Jurisprudenz, Staatswissenschaften, Medizin, Philosophie, alte und orientalische Philologie, Kunstwissenschaften, Geologie und Mineralogie, Chemie, Physik, Mathematik, Bauingenieurwesen, Hochbau und Architektur sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft zugeordnete Abgeordnete des Reichsinnenministeriums.
Auf Grund ihrer detaillierten, mit vier Tabellen und einem Quellen- und Literaturverzeichnis abgerundeten Untersuchung kann die Verfasserin feststellen, dass von den rund 300 Gelehrten, die zwischen 1920 und 1933 in einem der wissenschaftlichen Gremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft tätig waren, 29 der nationalsozialistischen „Säuberung" der Hochschulen unterfielen. Es waren dies aus dem Hauptausschuss Gustav Radbruch (politischer Grund) und aus dem Fachausschuss Jurisprudenz Erwin Jacobi, Erich Kaufmann, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Arthur Nußbaum, Ernst Rabel und Heinrich Triepel (rassistische Gründe). Diesen sieben Juristen und den 22 nichtjuristischen Gelehrten widmet die Verfasserin jeweils ein mit einer Abbildung versehenes wissenschaftliches Porträt. Dieses kann zwar die Vertreibung nicht rückgängig machen, aber auf sie angemessen hinweisen und sachkundig den damit verbundenen Verlust benennen.
Innsbruck Gerhard Köbler