Munzel-Everling, Dietlinde, Das Kleine Kaiserrecht – Text und Analyse eines mittelalterlichen Rechtsbuches – Leithandschrift der Fürstlichen Bibliothek Corvey – Bestandsaufnahme aller anderen Handschriften – Benennung Verfasser Datierung Quellen Auswirkung. Hylaila-Verlag, Wiesbaden 2019, XI, 611 S., zahlreiche Abbildungen. Besprochen von Reinhard Schartl.
Die Verfasserin hat sich seit ihrer Dissertation aus dem Jahre 1974 über die Innsbrucker Handschrift des Kleinen Kaiserrechts eingehend mit allen Aspekten des Rechtsbuches befasst und gilt deshalb zu Recht als ausgewiesene Kennerin der Materie. Sie legt nun ein Buch vor, zu dem sie durch die lange unbeachtet gebliebene Handschrift in der Fürstlichen Bibliothek zu Corvey veranlasst wurde. Auf diese Handschrift stieß Ulrich-Dieter Oppitz bei vorbereitenden Arbeiten zum Verzeichnis der deutschen Rechtsbücher des Mittelalters (3 Bände 1990-1992). Die Handschrift ist von herausragender Bedeutung, weil sie mit 227 Kapiteln umfangreicher als die übrigen Handschriften des Kleinen Kaiserrechts ist und deshalb von Munzel-Everling als „Leithandschrift“ bezeichnet wird. Die Veröffentlichung der Handschrift nutzt sie dazu, den Stand der seit zweieinhalb Jahrhunderten andauernden Forschung mit einigen neuen Überlegungen zusammenzufassen. Munzel-Everling analysiert zunächst das Verhältnis zwischen Überschriften und Vorreden der vollständigen und fragmentarischen Handschriften. Bei den den Handschriften gegebenen Titeln findet sie „Kaiserrecht“ und „Kleines Kaiserrecht“ (dat lutteke keyser recht, Lüneburger Handschrift, um 1404). Die im 19. Jahrhundert aufgekommene Bezeichnung als „Frankenspiegel“ verwirft sie dagegen mit der überzeugenden Begründung, dass das Rechtsbuch nicht allein fränkisches, sondern eben Kaiserrecht wiedergeben will, mag auch seine Herkunft im fränkischen Rhein-Main-Gebiet zu suchen sein. Bei der Datierung folgt die Verfasserin nicht mehr der Ansicht Winfried Trusens, der die Entstehung des Rechtsbuches in einem Zusammenhang mit dem Hoftag von 1342 sah, sondern will auf die Entstehungszeit nach den möglichen Autoren, den feststellbaren Quellen und den Geschehnissen im Umfeld schließen. Zur Ermittlung eines Verfassers ist nach Ansicht Munzel-Everlings auf folgende Kriterien abzustellen: Kenntnisse – ohne wissenschaftliche Ausbildung – seines rechtlichen Umfeldes (wie des Weistums des Bornheimer Berges, 1303) und der politischen Geschehnisse sowie gutes Allgemeinwissen, ferner Verwendung des Frankfurter und im Großraum Frankfurts bekannten Rechts und die pointierte Darstellung ausschließlich des Reichsdienstmannenrechts im Lehnrechtsteil. Sie wiederholt ihre schon früher geäußerte Auffassung, dass dafür am ehesten der Frankfurter Reichsschultheiß und spätere Friedberger Burggraf Rudolf von Sachsenhausen in Frage kommt. Daran bestehen indes weiterhin Zweifel: Da Rudolf in seinen Ämtern im Frankfurter Gericht, im Friedberger Burggericht und im Friedberger Stadtgericht als Vertreter des Kaisers der Richter war, fragt sich, weshalb des Rechtsbuch in Kapitel I 7 derart nachdrücklich die Bindung des Richters an die Rechtsfindung der Schöffen ausspricht („was dy scheffen vrteln, das sal der Richter rechten vnd anders nit“). Diese Regel weist mehr auf einen Schöffen als Verfasser des Rechtsbuches hin. Auch die Behandlung eines vom Kaiser begangenen Unrechts (Kapitel II 135 „der keyser ist dem mynsten glich, duit he vnrechte“) passt nicht recht zu einem hohen kaiserlichen Ministerialen wie dem Frankfurter Reichsschultheiß und Friedberger Burggrafen. Trotz verbleibender, auch von Munzel-Everling eingeräumter Unsicherheit („Vieles deutet auf Rudolf von Sachsenhausen als Verfasser hin“) bezeichnet sie ihn im Folgenden als den Verfasser des Rechtsbuches. In der seit langem umstrittenen Frage, ob das Kleine Kaiserrecht den „Schwabenspiegel“ – die Autorin steht mit guten Gründen dieser Bezeichnung des „großen Kaiserrechts“ sehr kritisch gegenüber – als Quelle benutzte, stellt sie dar, dass für eine Ableitung oder freie Bearbeitung zu wenige Hinweise bestehen. Insbesondere die Ausführungen des Schwabenspiegels zum Judeneid und zur Hundebuße sieht sie nur in einigen Handschriften des Kleinen Kaiserrechts (ab 1418) als Zusätze und somit nicht als ursprüngliche Parallelstellen beider Rechtsbücher. Mit dem römischen und kanonischen Recht finden sich einige Übereinstimmungen, allerdings bleibt anzumerken, dass meist offen ist, ob das Rechtsbuch bewusst einen solchen römischen und kanonischen Satz übernommen hat oder eine unabhängige Parallelentwicklung anzunehmen ist. Dass das Kleine Kaiserrecht Übereinstimmungen mit dem Frankfurter und anderen Rechten des Rhein-Main-Gebietes aufweist – aber auch mit der fuldaschen Lehnsfolge –, bestätigt für Munzel-Everling die Autorenschaft Rudolfs von Sachsenhausen, der die Niederschrift nach Ende seines Amtes als Friedberger Burggraf (1348) um 1350 veranlasst haben könnte. Zu den Auswirkungen des Kleinen Kaiserrechts kann die Verfasserin einige wenige Anhaltspunkte in den Stadtrechten feststellen, ohne dass diese ausdrücklich auf das Rechtsbuch verweisen. Mit anderen Quellen zeigen sich Übereinstimmungen in sehr allgemeinen Rechtssätzen wie der unbeschränkten Erbenhaftung oder dem Selbstergänzungsrecht der Schöffen, nur vereinzelt wird auf das „Kaiserrecht“ Bezug genommen. Auch für die Verwendung des Kleinen Kaiserrechts in der Spruchpraxis des Ingelheimer Oberhofes gibt es kaum Anhaltspunkte, immerhin stellt die Verfasserin eine weitgehende Identität der Rechtssubstanz fest. Genauere Feststellungen bleiben problematisch, weil das Rechtsbuch nur bereits vorhandenes Recht darstellen will, so dass Parallelregeln in den Quellen auf einer allgemeinen älteren Praxis beruhen können. Anschließend gibt die Verfasserin einen Überblick über die bisherigen Editionen des Rechtsbuches, angefangen von Heinrich Christian Senckenbergs Veröffentlichung des Lehnrechts (1740) über Hermann Ernst Endemanns Herausgabe der Fuldaer Handschrift von 1372 (1846) bis zur eigenen Dissertation der Verfasserin über die Innsbrucker Handschrift in einer Synopse mit der Eschweger und der Kreuznacher Handschrift (alle 15. Jahrhundert). Dankenswerterweise fügt Munzel-Everling auf 50 Seiten eine kurze Zusammenfassung des Inhalts des Rechtsbuches an mit einer vereinzelt eigenwilligen Gliederung (die Freiheit von der Zustimmung der Seitenverwandten bei Verfügungen unter „Mündigkeit“, die kaufrechtliche Gewährschaft unter „Sachenrecht“). Die Darstellung füllt gerade im Bereich des Lehnrechts der Ritter und Reichsdienstmannen eine Lücke, macht andererseits Julius von Gosens ausführlichere Darstellung des bürgerlichen Rechts (1866) nicht entbehrlich. Bemerkenswert ist, dass das Rechtsbuch nichts aus dem Burgfrieden für die Reichsburg Friedberg übernimmt, der 1337 von Ludwig dem Bayern erlassen und von Karl IV. 1349 erneuert wurde. Dies hätte bei einer Verfasserschaft Rudolfs von Sachsenhausens als Friedberger Burggraf (1333-1342) nicht fern gelegen. Daran schließt sich eine ausführliche Beschreibung aller bislang bekannten 46 Handschriften einschließlich der Fragmente sowie einiger Exzerpte des Kleinen Kaiserrechts an, die sich über ganz Deutschland verteilen, sich aber auch im angrenzenden Ausland und in London befinden. Die ältesten werden auf die Mitte des 14. Jahrhunderts geschätzt, das älteste datierte Exemplar ist die bereits erwähnte Fuldaer Handschrift (1372). Berücksichtigt man, dass den frühen Handschriften noch mindestens die Urfassung vorausgegangen sein muss, erscheint die von Munzel-Everling angenommene Entstehungszeit (erst) „um 1350“ – das heißt nicht vor 1348 – problematisch und damit auch ihre Argumentation zu Rudolfs Autorenschaft. Zu allen Handschriften fügt die Verfasserin neben Abbildungen einer Seite Textproben, meist den Prolog bei, denen sie die entsprechenden Stellen der Corveyer Handschrift gegenüberstellt. Der letzte Teil des Buches gilt der Corveyer Handschrift selbst, die Munzel-Everling zunächst beschreibt. Das Kleine Kaiserrecht ist darin mit anderen mittelalterlichen Texten (Richtsteig Landrechts, Magdeburger-Breslauer Recht von 1261, Sachsenspiegel Landrecht, Texte zum Femerecht wie die Ruprechtschen Fragen, Beschreibung von John Mandervilles Reise ins Heilige Land, Kölner Statuten von 1437) zusammengebunden. In dem Kodex nimmt das Kleine Kaiserrecht einschließlich seines Registers 112 Seiten ein. Die von Munzel-Everling identifizierten Wasserzeichen des beschriebenen Papiers weisen auf die Entstehung der Handschrift zwischen 1431 und 1446 hin. Sie könnte somit noch vor 1450 geschrieben worden sein. Der Textedition auf 107 Seiten des besprochenen Buches gibt die Autorin einen Wortindex mit ca. 800 Begriffen bei, der die Benutzung wesentlich erleichtert. Insgesamt handelt es sich bei dem bibliophilen Band um einen äußerst wertvollen Beitrag, der für die weitere Befassung mit dem Kleinen Kaiserrecht und dem mittelalterlichen Recht eine unentbehrliche Grundlage bietet.
Bad Nauheim Reinhard Schartl