Liebrecht, Johannes, Die junge Rechtsgeschichte. Kategorienwandel in der rechtshistorischen Germanistik der Zwischenkriegszeit (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 99). Mohr Siebeck, Tübingen 2018. XIV, 471 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Nach Leo Frobenius‘ Schicksalskunde im Sinne des Kulturwerdens von 1932 befand sich in der Nähe des Lagers von Mitschakila an dem Kuilufluss in dem Kongourwald ein etwa zwei Meter hoher, äußerlich ungemein glatter kegelförmiger Termitenhaufen mit wundervoll ebenmäßig geformter Kappe. Etwa alle vier Wochen erfuhr die sogar für den Beobachter unendlich wohltuende Ruhe eine explosionsartige Unterbrechung, nach der die ganze Oberfläche vollkommener Zerstörung anheimgefallen war. Nachdem dieses Trümmerfeld einen Tag lang liegen geblieben war, kehrten in der nächsten Nacht diejenigen, welche derart vandalisierend und mordend getobt hatten, wieder und ließen eine neue Ordnung entstehen, wobei die Wiedererbauer und wahrscheinlich auch die Zerstörer niemand anderes waren als irgendeine jüngere Generation von der gleichen Termitenart, die aus dem Inneren des Kegels zu der Kappe aufgestiegen und von dem inneren Wurzelbau her über die Bewohner der Oberflächenschicht hergefallen war und ihr Werk radikal ausgeführt hatte.

 

Mit diesem natürlichen Vorbild vergleicht der 1970 geborene, in Freiburg im Breisgau von 1993 an in Rechtswissenschaft und Philosophie ausgebildete, 1994 als wissenschaftliche Hilfskraft bei Karl Kroeschell und Alexander Hollerbach tätige, von der Studienstiftung des deutschen Volkes geförderte, 1996 zu Ernst-Wolfgang Böckenförde wechselnde, 2001 die erste und 2003 die zweite juristische Staatsprüfung ablegende, nach einem Stipendium der Gerda-Henkel-Stiftung 2007 in das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht eintretende, seit 2013 als wissenschaftlicher Referent tätige, bei  Reinhard Zimmermann in Regensburg mit einer Dissertation über Heinrich Brunners Rechtswissenschaft (1840-1915) promovierte, nach einer weiteren  Studie über Fritz Kern und das „gute alte Recht“. - Geistesgeschichte als neuer Zugang für die Mediävistik (2016) 2018 an der Bucerius Law School in Hamburg habilitierte und in Zürich zu dem 1. August 2019 zu einem außerordentlichen Professor für Rechtsgeschichte ernannte Verfasser die germanistische Rechtsgeschichte der Zwischenkriegszeit. Seine vorliegende Habilitationsschrift war als Projekt ursprünglich als Promotionsvorhaben bei Karl Kroeschell und Ernst-Wolfgang Böckenförde geplant gewesen, ohne die der Verfasser das Thema nicht gewählt hätte. Die Gerda-Henkel-Stiftung hatte zu einem kritischen Zeitpunkt den Beginn der Arbeit in unbürokratischer und großzügiger Weise ermöglicht und Reinhard Zimmermann hatte die Idee von einer neuen Seite her bereichert und in dem Rahmen des Habilitationsverfahrens betreut.

 

Gegliedert ist die eindrucksvolle rechtsgermanistische Wissenschaftsgeschichte der Zwischenkriegszeit nach einer Einleitung über Zugänge, leitende Fragestellung, Grundlage der Darstellung, Gang der Darstellung, zeitlichen Rahmen und nahenden Untergang in fünf Kapitel. Sie betreffen Franz Beyerles Erneuerung von Rechtsgeschichte und Recht, Heinrich Mitteis und seine Überwindung des antiquarischen Stoffhebens, Felder methodologischer Innovationen auf der Flucht vor der juristischen Form, die völkische Versuchung und die Geistesgeschichte als Überbietung. An dem Ende bietet er Verfasser eine Zusammenfassung in dem Sog der wissenschaftlichen Moderne, gegliedert in den Auszug aus dem Haus der Rechtsgeschichte, Wandel der methodischen Kategorien, Stürme gegen das klassische Gerüst von außen sowie Krise des Historismus und Krise des juristischen Formalismus.

 

Warum Termiten Hügel bauen und in den Hügeln Revolutionen durchführen, weiß bisher niemand, weil der Mensch noch keinen Zugang zu den Handlungsmotiven der Termiten gefunden hat. Demgegenüber werden einzelne der Wirklichkeit entsprechende Überlegungen von Menschen über ihr Verhalten doch immer wieder anderen Mitmenschen bekannt. Darüber hinaus hat die allgemeine Entwicklung des Menschen auf der Suche nach günstigeren Lebensbedingungen grundsätzlich in dem Rahmen der Arbeitsdifferenzierung zu der Abkehr von der individuellen Nahrungssuche in der Umwelt und zu der Hinwendung zu Stadt, Markt, Geld, Industrie und Dienstleistung geführt.

 

Dementsprechend wird der durchschnittliche Mensch der Gegenwart lange an Schulen in Wissen und Denken ausgebildet, durchläuft danach ein wissenschaftliches Studium und sucht nach einem auskömmlichen, ihn nach Möglichkeit befriedigenden Betätigungsfeld. Als besonders interessant erweist sich dabei die Universität mit der staatlichen oder sonstigen Existenzabsicherung und den Grundsätzen der Forschungsfreiheit und Lehrfreiheit. Sowohl Väter (Mitteis) wie auch Brüder (Beyerle) können dabei den Weg weisen und erleichtern.

 

Hilfreich ist in diesem Rahmen vor allem der Einfall. Wem es gelingt, Altes als problematisch zu erweisen und Neues als zukunftsträchtig zu schildern, hat viele Türen offen. Ob das Bisherige dann wirklich schlechter war und das Vorgetragene tatsächlich besser sein wird, ist demgegenüber nach der Berufung einigermaßen belanglos.

 

In diesem Rahmen erweist sich der Verfasser als ausgezeichneter Kenner seines Sachgegenstands. Ihm gelingt die Einordnung eines halben Jahrhunderts in zwei Biographien und einige Felder methodologischer Innovationen wie Textgeschichte, Rechtsarchäologie, rechtliche Volkskunde, völkische Versuchung und Geistesgeschichte. Zusätzlich bietet er über das Deutsche Reich hinaus eine ansprechende neuartige internationale Umschau.

 

Die jungen Termiten, die Brunners Kuppel in Frage stellten, sind ihrerseits längst tot. Ihre Ergebnisse sind, wie sich bei Beyerle wie Mitteis zeigt, trotz ihrer zeitgenössischen Strahlkraft keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Möge dem Verfasser die Errichtung überzeugenderer Kuppeln in dem Urwald der rechtsgeschichtlichen Forschung, deren vornehmste Aufgabe die Beschreibung und Erklärung des menschlichen Rechtes in dem Verlaufe der Zeit ist, bestmöglich gelingen.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler