Jenß, Johannes, Die „Volksgemeinschaft“ als Rechtsbegriff. Die Staatsrechtslehre Reinhard Höhns (1904-2000) im Nationalsozialismus (= Rechtshistorische Reihe 475). Lang, Frankfurt am Main 2017. 387 S. Zugl. Diss. jur. Kiel 2017. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Ideologie des Nationalsozialismus ist maßgeblich geprägt von dem Gedanken des Primats der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelwesen. Um dieser Prämisse in der Realität des Lebens Geltung zu verschaffen, unternahmen nationalsozialistisch orientierte Rechtsgelehrte erhebliche Anstrengungen, die ideologischen Vorgaben in unterschiedlich akzentuierte, untereinander um die Deutungshoheit ringende rechtliche Konzepte umzusetzen, die allesamt in ihrem Kern darauf hinausliefen, die Rechte des Individuums zugunsten eines behaupteten Allgemeinwohls zunehmend außer Kraft zu setzen. Einer, der diesen Prozess auf dem Gebiet des Staatsrechts tatkräftig vorantrieb und bislang zu Unrecht von der historischen Forschung nur wenig beachtet worden ist, war Reinhard Höhn (1904 – 2000). Johannes Jenß hat sich nun in seiner Kieler Dissertation erstmalig näher mit dem Leben und der Lehre dieses rührigen Wissenschaftlers und Aktivisten beschäftigt, dessen Karriere sich in enger Verflechtung mit dem Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS (SD) entfaltete.

 

Wie für viele andere war das Jahr 1945 auch für die Biographie Reinhard Höhns jene Wegmarke, die sein langes Leben in zwei Hemisphären teilte: In ein Davor, das geprägt war von einem Engagement zunächst in völkisch-bündischen Bewegungen, dann, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, in deren elitäres Bewusstsein und beruflichen Aufstieg verheißender Schutzstaffel (SS), und ein Danach im demokratischen Westdeutschland als erfolgreicher Unternehmer und Leiter eines angesehenen Schulungsinstituts. Der einer gutbürgerlichen thüringischen Familie mit akademischer Tradition entstammende Höhn folgte seinem Vater in der juristischen Laufbahn nach und wurde 1928 mit einer von Max Grünhut und Heinrich Gerland betreuten rechtshistorischen Studie über „Die Stellung des Strafrichters in den Gesetzen der französischen Revolutionszeit“ mit dem Prädikat „magna cum laude“ an der Universität Jena promoviert. Offensichtlich mehr an einer wissenschaftlichen Laufbahn als an der Praxis des Referendariats interessiert, verdiente er zunächst als Repetitor in Jena seinen Lebensunterhalt und diente dem Soziologen und Staatsrechtler Franz Wilhelm Jerusalem als unbezahlter Assistent. Seit 1920 in Verbänden des rechtsnationalen Spektrums politisch engagiert, sei Reinhard Höhn 1923 Artur Mahrauns gemäßigterem, zunehmend republikfreundlichem Jungdeutschen Orden beigetreten, wo er bis zu seinem Austritt im Streit 1930 als „Sachberater der Ordensleitung für staatswissenschaftliche Fragen“ (S. 38) eine rege Tätigkeit entfaltete und die Jungdeutsche Staatsidee eines Volksstaates theoretisch untermauerte und propagierte.

 

Wie sich in der Folge die geistige Annäherung des Familienvaters Höhn an den Nationalsozialismus vollzog, sei nicht eindeutig festzustellen, doch „bot die sich noch im Wachstum befindliche Bewegung ungeahnte Aufstiegsmöglichkeiten“ (S. 51) nicht zuletzt für das Heer arbeitsloser Juristen, sodass er als „Märzgefallener“ (so bezeichneten die „alten Parteigenossen“ der „Kampfzeit“ jene Opportunisten, die nach der Machtergreifung in großer Zahl in die Partei drängten) im Mai 1933 in die NSDAP und im September in die SS sowie in deren SD eintrat. Heydrich „bevorzugte bei der Anwerbung […] junge und gut ausgebildete Akademiker, die sich zudem durch ein hohes Maß an ideologischer Entschlossenheit auszeichneten. Der 29-jährige promovierte Jurist Höhn, welcher umfassend gebildet war sowie die Sprachen Griechisch, Französisch und Englisch beherrschte, kann somit als exemplarisch für den neuen Mitarbeitertypus des SD gelten“ (S. 54). Als Rechtsberater Himmlers, kulturpolitischer Referent im SD-Hauptamt und zuletzt als Leiter der Zentralabteilung II/2 (Lebensgebietsmäßige Auswertung) war er bis Mai 1935 hauptamtlich, danach – mit 1. April 1935 zum planmäßigen außerordentlichen Professor für Staats- und Verwaltungsrecht erst in Heidelberg, dann mit 1. November 1935 an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin berufen, darüber hinaus ab Juni 1936 Direktor des Instituts für Staatsforschung und somit insgesamt hinreichend versorgt – ehrenamtlich für den SD tätig. Der Verfasser legt dar, wie SD-Netzwerke die wissenschaftliche Karriere Höhns beförderten und dieser im Gegenzug die hochschulpolitischen Interessen des SD vertrat und dem Heydrich-Apparat überdies eine große Anzahl hochkarätiger Akademiker – darunter Franz Alfred Six – als Informanten oder fixe Mitarbeiter zuführte. Höhn war überdies an der Demontage Carl Schmitts beteiligt, unterlag aber 1937 im Zuge einer weiteren Intrige seinen Kontrahenten Walter Frank und Julius Streicher. Von Heinrich Himmler und besonders von Wilhelm Stuckart weiterhin gestützt, habe Höhn, der überdies zum 1. Oktober 1939 an der Universität Berlin zum Ordinarius berufen wurde, aber kaum nennenswerte Konsequenzen zu gewärtigen gehabt und sei in der SS weiter – 1939 zum Standartenführer (Oberst), wobei hier der Verfasser, wahrscheinlich die Abkürzung „Staf“ falsch interpretierend, unrichtig von einem (als SS-Dienstgrad gar nicht existierenden) „Staffelführer“ (S. 125) spricht, im November 1944 in den Rang eines SS-Oberführers (Oberst/Generalmajor) – befördert worden. Am 11. September 1939 habe Reinhard Höhn zusammen mit weiteren SD-Größen wie Six und Ohlendorf sogar noch an einer Amtsleiterbesprechung bei Heydrichs Stellvertreter Werner Best im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) teilgenommen, was „nahe (legt), dass er umfassend über die Ermordung von polnischen Offizieren und Zivilisten durch die Einsatzgruppen des SD im rückwärtigen Heeresgebiet Bescheid wusste“, sich „jedoch nicht […] zweifelsfrei belegen“ lasse (S. 125).

 

Nach 1945 habe Höhn wenig überraschend „die kompromittierenden Kapitel seiner NS-Vergangenheit fortwährend kaschiert und verschleiert“, wobei „zumindest nicht vollkommen unmöglich“ sei, dass er „spätestens seit Kriegsausbruch innere Vorbehalte gegen das Regime hatte“ (S. 124). Zunächst unter einem falschen Namen untergetaucht, erhielt er nach einer rechtlichen Amnestie für belastete NS-Funktionäre 1951 von der Stadt Hamburg eine Entnazifizierungsbestätigung als „Entlasteter“. Eine Spruchkammer in Berlin verhängte 1958 eine Sühnestrafe von 12.000 DM, und nachdem 1966 auf Grundlage der Teilnahme an der vorher genannten Amtsleiterbesprechung im RSHA ein Ermittlungsverfahren des Kammergerichts Berlin wegen Mordes eingeleitet worden war, ging Höhn mangels Beweisen straffrei aus und behielt auch weiterhin seine Pension aus seiner Tätigkeit als Professor. Da er keinen Lehrstuhl mehr erhalten hatte, betätigte sich der Jurist fortan in der Privatwirtschaft. Seit 1956 war er Geschäftsführer der sehr erfolgreichen „Harzburger Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft e. V.“ mit Sitz in Bad Harzburg und im Vorstand der Trägergesellschaft, der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft e. V.“ (DVG), vertreten. Neben Kunden aus der Unternehmerschaft bildete die politisch sehr gut vernetzte Akademie, unter deren Vortragenden sich einige Weggefährten Höhns aus dem SD – darunter auch der bereits mehrfach erwähnte Franz Alfred Six – befanden, auch Führungskräfte der Gewerkschaften, der Verwaltung und der Bundeswehr aus. Erst als 1971 der Journalist Bernt Engelmann Höhns SS-Vergangenheit öffentlich polemisch thematisierte und in der Folge Verteidigungsminister Helmut Schmidt im März 1972 verlauten ließ. „die Zusammenarbeit mit der Harzburger Akademie sei aufgekündigt worden“ (S. 199), begann der Stern dieses Unternehmens zu sinken. In den 1980er-Jahren galt das „Harzburger Modell“ als nicht mehr zeitgemäß, 1989 sollte Höhn vor dem Amtsgericht Goslar den Offenbarungseid leisten. Nichtsdestotrotz habe sein gesellschaftlicher Stellenwert bis an sein Lebensende keinen Einbruch erlitten, was Glückwunschadressen des Ministerpräsidenten von Sachsen, des Siemens-Chefs und des Präsidenten des Bundes deutscher Arbeitgeber zu seinem 95. Geburtstag im Jahr 1999 bezeugen.

 

Den größten Output für die Rechtsgeschichte bietet Johannes Jenß‘ Studie dort, wo sie sich näher mit dem Volksgemeinschaftsbegriff, wie er von Reinhard Höhn in die Staatsrechtslehre eingeführt wurde, auseinandersetzt und dieses Konzept am Kontext der Positionen, die von anderen nationalsozialistischen Rechtslehrern vertreten wurden, trennscharf herausarbeitet. Die Entwicklung von Höhns staatsrechtlicher Theorie vor und nach 1933 lasse insgesamt erkennen, dass sie sich „grundsätzlich durch die konsequente Fortführung etablierter Wesensmerkmale einer seit dem Ende des Ersten Weltkrieges aufkommenden antidemokratischen Geisteshaltung bei gleichzeitiger Aufnahme bestimmter Kernelemente der sich herausbildenden NS-Rechtsideologie auszeichnete. […] Höhn modifiziert sein Begriffsverständnis, indem er eine inklusive durch eine exklusive Volksgemeinschaft ersetzt. Die Einführung der Rasse als konstitutivem Identitätskriterium stellt sich hier als inhaltlicher Anpassungsakt an die nationalsozialistische Ideologie dar. […] Trotz der überwiegend widerspruchsfreien Anknüpfung an die Inhaltsbestimmungen vor der Machtergreifung synchronisiert Höhn […] seinen Führerbegriff durch die Verabsolutierung der Führergewalt und den Zuschnitt auf die Person Adolf Hitlers mit dem nationalsozialistischen Führerprinzip“, wobei die inhaltliche Kontinuität umgekehrt „auch durch die Rezeptionsfreudigkeit der NS-Ideologie ermöglicht“ worden sei (S. 287).

 

Reinhard Höhns Staatsrechtslehre als das „Produkt eines sukzessiven Anpassungs- und Radikalisierungsprozesses“ (S. 288) zeichne sich in ihrem Kern durch die Positivierung des ideologischen Leitbegriffs der Volksgemeinschaft zum Rechtsbegriff aus, der den auf seinen Organisationscharakter, auf ein bloßes „Mittel zum Zweck“ reduzierten Staat als juristische Person ersetzen soll. Der Verfasser spricht bei den Anhängern dieser Denkrichtung vom „Lager der ‚vitalistischen‘ Gemeinschaftstheoretiker“, dem neben Höhn „eine kleine Gruppe von jungen, ambitionierten Staatsrechtslehrern, die sich überwiegend aus der Dozenten- und Assistentenschaft rekrutierte“, ebenso angehörte wie „eine verhältnismäßig große Fraktion von Juristen aus SS und SD“ (S. 299). Außer mehreren Doktoranden Höhns werden diesem Lager zum einen die Universitätslehrer Günther Küchenhoff (Breslau) und Theodor Maunz (München) zugerechnet, von den „SS-Juristen“ Wilhelm Stuckart, Eberhard Mäding, Heinrich Malz, Karl Gengenbach und Herbert Lemmel. Diesen auf eine radikale Erneuerung abzielenden „Vitalisten“ sei die recht heterogene Gruppe der sogenannten „Etatisten“ gegenüberzustellen, die eine vollständige Abkehr vom Begriff des Staates als Rechtssubjekt ablehnte. Hierzu zählten „Traditionalisten“ wie Wilhelm Merk, Hans Helfritz und – mit Einschränkungen – auch Otto Koellreutter, aber auch Relativierer des Staatsbegriffs wie Ernst Rudolf Huber, Franz Wilhelm Jerusalem, Hans Gerber, Edgar Tatarin-Tarnheyden, Ernst Forsthoff und Gustav Adolf Walz. Die Skizzierung der unterschiedlichen Standpunkte der genannten Gelehrten und Praktiker vermittelt einen guten Einblick in die beachtliche Heterogenität der nationalsozialistischen Staatsrechtslehre. Als Ursache macht Johannes Jenß nicht zuletzt einen pragmatisch fundierten „Generationenkonflikt“ aus: „Während viele der moderaten ‚Etatisten‘ schon vor der Machtergreifung in der Wissenschaft verankert waren“, hatte „der Nationalsozialismus den meisten Vertretern eines völkischen ‚Vitalismus‘ den beruflichen Aufstieg erst ermöglicht, […] was die besonders engagierte Mitwirkung an einer originär nationalsozialistischen Staatsrechtslehre wiederum beförderte“ (S. 327). Die spezifische Verantwortung Reinhard Höhns bringt er folgendermaßen auf den Punkt: „Die fehlende Klarheit und die Ausfüllungsbedürftigkeit der von Höhn eingeführten Rechtsbegriffe sollten das Recht für die Nationalsozialisten verfügbar machen. Höhn schuf der nationalsozialistischen Führungselite eine Staatsrechtslehre, mit der sich schlechthin alles legitimieren ließ. Er war somit in besonderem Maße systemtragend“ und es sei „sicher“, dass er dem Regime nicht zuletzt „eine rechtliche Legitimationsgrundlage für […] verbrecherische( ) Taten geliefert hat“ (S. 349f.).

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic