Bonnett, Alastair, Die allerseltsamsten Orte der Welt - aufsteigende Inseln, bodenlose Städte, abseitige Paradiese, aus dem Englischen von Wirthenson, Andreas. Beck, München 2019. 268 S., 11 Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.
Der, „weil unsere Umwelt so flüchtig und unbeständig ist“, nach seinem eigenen Bekenntnis „an einer nostalgischen Sehnsucht nach verlorenen Orten“ leidende (S. 9), in Newcastle upon Tyne lehrende britische Sozialgeograph und Verfasser der gegenständlichen Schrift, Alastair Bonnett, hat seine Mitmenschen bereits 2015 mit einer Publikation zu den „seltsamsten Orten“ beschenkt, die ganz offenkundig den Nerv des Publikums getroffen und mittlerweile zahlreiche Auflagen erlebt hat. Da die Menge interessanter Lokalitäten auf dieser Welt an das Unerschöpfliche grenzen mag, dürfte es ihm nicht allzu schwer gefallen sein, das Korpus der 47 dort vorgestellten, „seltsamsten“ Orte nun um weitere 39, mit einem gesteigerten Superlativ nun als „allerseltsamst“ charakterisierte zu erweitern. Zu diesem Zweck habe er „eine nervöse Herde ungebärdiger Orte meiner Reisen und Forschungen hier in diesem Buch zusammengepfercht“, die erkennen lassen mögen, „dass die alte Vorstellung von Geografie als Kollationierung bekannter und eindeutiger Grenzen und etablierter, akzeptierter Fakten allmählich schwindet“ zugunsten der Wahrnehmung einer „Welt […] bruchstückhaft und in Auflösung begriffen“ (S. 264). Seine Topografie, die der Leser in fünf Abschnitten (ungebärdige Inseln, Enklaven und unsichere Nationen, utopische Orte, gespenstische Orte, versteckte Orte) erleben darf, ist wie mit einem roten Faden verbunden durch das Element der Spannung, die sich jeweils polar aufbaut. Spezifische Polaritäten bestehen etwa zwischen Natur und Kultur, zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft, zwischen arm und reich, zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen Erde und Wasser oder zwischen der Horizontalen und der Vertikalen – also jenen Koordinaten, an denen allgemein das menschliche Dasein seine Peilung ausrichtet. Dieser global-existentielle, philosophische Touch macht den eigentlichen Reiz der Darlegungen aus und wird – hier muss man kein großer Prophet sein – auch den vorliegenden Band, der 2017 erstmalig in englischer Sprache unter dem Titel „Beyond the Map. Unruly Enclaves, Ghostly Places, Emerging Lands and Our Search for New Utopias“ erschienen ist, mit Erfolg belohnen.
Der Insel-Abschnitt erzählt von der Schwierigkeit, die Charakteristika einer Insel definitorisch zu erfassen, von Streitigkeiten um Besitzrechte und (vor allem militärische) Nutzungsrechte, von durch Hebung natürlich neu entstehendem Land und mit Beton künstlich aufgebauten und erweiterten Militärstützpunkten, schließlich auch von der Verkehrsinsel, die im urbanen Raum im Wege des „Guerilla Gardening“ wieder bepflanzt und damit „humanisier(t)“ (S. 49) wird. Das Kapitel enthält einige rechtsgeschichtlich bemerkenswerte Kuriositäten, leider ohne Quellenangaben, da das Werk generell auf eine Dokumentation verzichtet und nur ein knappes Literaturverzeichnis (S. 267f.) bereitstellt. Im finnischen Kvarken-Archipel wird der Besitz des durch die postglaziale Hebung des Bottnischen Meerbusens entstehenden Neulandes jeweils durch dörfliche Grundbesitzerausschüsse zugesprochen. Der zwischen Frankreich und Großbritannien um die nahe Jersey gelegenen Inselgruppen Les Minquiers und Les Écréhous schwelende Streit soll „1953 […] vor den kurz zuvor gegründeten Internationalen Strafgerichtshof gebracht“ worden sein (S. 20) – was so auf keinen Fall stimmen kann; gemeint sein kann wohl nur der seit 1945 bestehende Internationale Gerichtshof in Den Haag. Das Gericht habe jedenfalls zugunsten des Vereinigten Königreichs entschieden, doch erst nachdem im Jahr 2000 „neue politische Karten ausgegeben werden (konnten), die […] die endgültige Seegrenze zwischen Frankreich und Großbritannien anzeigten“ (S. 21), wurden 2004 „Bojen verankert, um die verschiedenen Linien im Wasser, die nun rechtsgültig Großbritannien von Frankreich trennen, auch physisch zu markieren“ (S. 21f.). Interessant ist auch die Information über die „United States Minor Outlying Islands“, neun Inselterritorien, von denen acht „im Zuge des Guano Islands Act von 1856 in Besitz genommen“ worden waren, der besage, wann immer ein US-Bürger auf einer noch nicht von einer anderen Macht beanspruchten Insel ein Guano-Vorkommen entdecke und diese Insel friedlich in Besitz nehme und besetze, sie „nach Ermessen des Präsidenten als den Vereinigten Staaten zugehörig“ gelte (S. 23). Doch sei wiederum „der amerikanische Guano Islands Act nicht internationales Recht, seine Rechtsgültigkeit ist zweifelhaft“ (S. 26).
Im zweiten Kapitel um Enklaven und unsichere Nationen kommen mehrere bekannte brisante Krisenherde zur Sprache: das zwischen Kirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan umstrittene Ferghanatal, eine Konfliktregion, in der ökologische (Wassermangel) und politische (Nationalismus) Ursachen unheilvoll ineinandergriffen; die Westsahara, in der ein riesiger Sandwall die Interessen Marokkos zu Lasten der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (Polisario) wahre; schließlich der Krieg in der Ostukraine und der Stellenwert, der dabei dem einst multiethnischen, dort von 1764 bis 1918 bestehenden Neurussland zukomme. Im Kapitel über die ladinischen Täler erfährt man einiges über die vielen Dialekte des Ladinischen und die Sprachenvielfalt im Alpenraum, aber auch über die Konservierung von Sprachen in der Emigration, wie über das in Brasilien anzutreffende Riograndeser Hunsrückisch oder das ebendort überlebende Pommersche Platt. Weitere Skizzen sind den jüdischen Eruvim als religiösen Enklaven im öffentlichen Raum sowie dem Souveränen Malteserorden als „einem weltweit einmaligen völkerrechtlichen Kuriosum“ (S. 82) gewidmet. Die „Vorstellung, Souveränität könne auf einem Netzwerk von Menschen und nicht auf Grenzen beruhen“, sei „ein spannendes Forschungsfeld für Völkerrechtsexperten“, und 1991 habe ein italienisches Gericht geurteilt, „der ‚Inhaber eines eigenen Systems‘ besitze eine ‚besondere Völkerrechtssubjektivität‘“ (S. 85). In vergleichbarer Weise sei auch der Heilige Stuhl (also die Person des Papstes) völkerrechtlich vom Vatikanstaat (an dessen Spitze wiederum der Papst stehe) zu unterscheiden. Keine völkerrechtliche Souveränität hat hingegen mit Sicherheit die Republik Stratford erlangt, mit deren Deklaration der Verfasser und andere Anwohner der gleichnamigen Straße in Newcastle ihren Austritt aus dem Vereinigten Königreich erklärten, um auf humorvolle Weise den drohenden „Brexit“ Großbritanniens aus der Europäischen Union zu hinterfragen.
Auch das gedankliche Spektrum der utopischen Orte des dritten Abschnitts ist breit. An der Spitze steht der brutale sogenannte Islamische Staat (IS), der den gesamten Erdball radikal in „Dawlat al-Islam, den Staat des Islam, und Dawlat al-Kufr, den Staat der Ungläubigen“ unterteilen möchte (S. 101), „gegen den globalen Multikulturalismus […] auf eine Rückkehr zu den Gewissheiten des Monokulturalismus“ setze und wie andere „Glaubensextremisten auch eine extreme Beziehung zu Orten“ habe; sie mögen „gesäuberte und willfährige Orte, an denen nichts die Totalität ihrer territorialen Eroberung in Frage stellt“ (S. 103). Andere Utopien sind oder wirken weniger bedrohlich, manche befremdlich, manche durchaus sympathisch. Berichtet wird über Hongkong und geschichtete öffentliche Räume, die den Kontakt zum gewachsenen Boden obsolet machen sollen (eine Idee, die dem Verfasser wenig zusagt), über dreidimensionale Verkehrskonzepte am Beispiel der brasilianischen „Hubschrauberstadt“ São Paulo, und über Christiania, den seit 1972 als Teil Kopenhagens bestehenden „Ministaat für Aussteiger mit seinen gut tausend Bewohnern“ (S. 121). In der von Le Corbusier modernistisch geschaffenen indischen Regionalhauptstadt Chandigarh hat der einheimische Künstler Nek Chand aus Abfällen des Bauprojekts einen phantasievollen Kontrapunkt in Gestalt eines Felsengartens gesetzt. In Helsinki und anderen größeren Städten machen sich die Jünger des „Urban Foraging“ mit Hilfe digitaler Erntekarten als moderne Wildbeuter auf die Suche nach Essbarem auf Bäumen und Sträuchern. Vermögende Zeitgeistnomaden propagieren Ultramobilität als adäquate und hippe Lebensform und als der Weisheit letzten Schluss, während die vielen Multi-User-Plattformen von Cybertopia die Verwirklichung der „Träume des 21. Jahrhunderts“ verheißen (S. 104). Für den Verfasser hat die virtuelle Welt allerdings „schon vor Jahren stark an Faszination eingebüßt“ und wirke heute „fast schon wie nostalgische Sehnsucht nach der Zukunft“ (S. 109).
Alastair Bonnetts gespenstische Orte konstituieren sich stark durch das Element des drohenden oder realen Verlusts. Da sind das unterirdische Labyrinth im riesigen Tokioter Bahnhof Shinjuku mit Gerüchten über Menschen, die dort für immer verschwunden sein sollen, der angeblich von einem Leoparden bewachte britische Friedhof im indischen Shimla als Relikt längst vergangener kolonialer Größe und ein Boys‘ Village genanntes, verfallenes einstiges Feriencamp für Jungen aus den seinerzeit noch florierenden walisischen Kohlerevieren. Der russische Regisseur Ilya Khrzhanovsky ließ zwischen 2006 und 2011 für seinen bis heute nirgendwo gezeigten Film „Dau“ in Charkow ein Filmset errichten und wieder zerstören, das „die Unterschiede zwischen Schauspielerei und Nicht-Schauspielerei, zwischen einem inszenierten Ort und einem realen Ort einebnen (sollte)“ (S. 180). Am Beispiel der heute nutzlosen Fußgängerbrücken seiner Heimatstadt Newcastle – als Skywalks einst Teil eines umfassenden, nie realisierten stadtplanerischen Projekts – zeigt der Verfasser das Scheitern „optimistische(r) Zukunftspläne von gestern“ (S. 155), am Beispiel Londons das Wiederaufleben okkulter Geographie. Am eindrucksvollsten ist aber sein Hinweis auf die japanischen Tsunami-Steine, (leider häufig auch ignorierte) Warnzeichen für zukünftige Generationen, Gefahrenbereiche von Besiedelung freizuhalten, und analog auf die dilettantischen Versuche, ein effizientes System zur Warnung vor Atommülllagern zu entwickeln, das über 100.000 Jahre und länger verstanden wird und noch unseren fernen Nachfahren Sicherheit bietet. Hier sei nur ein einziger Schluss sinnvoll: „Wir sollten keine tödlichen Bedrohungen für noch nicht geborene Generationen schaffen“ (S. 194).
Auch verborgene Orte haben ihren guten Grund. Es kann darum gehen, Armut zu verbergen (die Müllstadt in Kairo und die von Google Street View nicht erfassten Slums von Wanathamulla auf Sri Lanka), Sicherheitsbedürfnisse der Wohlhabenden zu befriedigen (die gleichfalls nicht erfassten kalifornischen Hidden Hills) oder die Existenz militärischer Anlagen zu verschleiern (chinesischer Marinestützpunkt auf der Insel Hainan). Manches Berichtenswerte liegt unter der Oberfläche des Meeres: Doggerland ist einstiges, nach der letzten Eiszeit vom Atlantik verschlungenes Festland; der reiche Boden unter der tauenden Arktis, wo es „die ganz unschuldig klingende UN-Seerechtskonvention […] einem Land erlaubt, ein Stück Ozean jenseits der üblichen 200 Seemeilen für sich zu beanspruchen, wenn es belegen kann, dass dieses Stück Teil seines Festlandsockels ist“ (S. 254), und damit den Wettstreit der Arktisanrainer um die Bodenschätze befeuert; Jacques Cousteaus Unterwasserstation Conshelf II als einstiger Prototyp für zukünftige Unterwassersiedlungen. Jerusalems archäologische Horizonte dienen Israelis wie Palästinensern gleichermaßen zur Legitimation ihrer Gebietsansprüche. Der Kongo sei heute nicht mehr unerforscht und unkartiert, obwohl das – in Anknüpfung an den populären Mythos vom dunklen Herz Afrikas – immer noch gerne behauptet werde. Weitere Skizzen berichten von einer Edinburgher Adresse für 438 Briefkastenfirmen, wo einst „wie von Zauberhand rund ein Achtel des Volksvermögens von Moldawien, Europas ärmstem Land“, über Nacht verschwunden sei (S. 224), von den fiktiven Trap Streets, die neben anderen Markierungen den Zweck erfüllen, Copyrightverletzungen bei Kartenmaterial auf einfache Art nachzuweisen, sowie von „Dornenlandschaften“, hemmenden baulichen Maßnahmen, in denen „die zunehmende Regulierung des öffentlichen Raums und die immer stärkere Disziplinierung derjenigen, die sich im öffentlichen Raum bewegen“, materiell zum Ausdruck komme (S. 233).
Konfrontiert mit der Frage, ob es für den Leser empfehlenswert sei, manche der hier beschriebenen Orte aufzusuchen, hat Alastair Bonnett abschließend einen bemerkenswerten und klugen Ratschlag parat: Wer einzigartige Erfahrungen machen wolle, brauche keine Langstreckenflüge; er solle sich am besten zu Fuß von zuhause aufmachen, eine neue Richtung einschlagen, langsam gehen und sich viel Zeit nehmen.
Kapfenberg Werner Augustinovic