Wegener, Ulrich, GSG 9 – Stärker als der Terror, hg. v. Zander, Ulrike/Biermann, Harald. LIT, Berlin 2017. XII, 305 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Am 5. September 1972 traf der internationale Terror die Bundesrepublik Deutschland mit voller Wucht: Ein Palästinenserkommando der Gruppe „Schwarzer September“ drang in München in das Olympische Dorf ein, tötete zwei israelische Sportler und nahm weitere neun als Geiseln. Ein von für solche Aufgaben nicht geschulten Polizeikräften auf dem Bundeswehrflughafen Fürstenfeldbruck unternommener Befreiungsversuch misslang, im Zuge des Feuergefechts wurden alle neun Geiseln von den Terroristen ermordet, ein Polizist und fünf der acht Geiselnehmer erschossen. Dieses Trauma war ausschlaggebend für einen raschen Beschluss der Innenministerkonferenz vom 13. September 1972, dem am 26. September der Aufstellungserlass für die Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9) des Bundesgrenzschutzes (seit 2005: der Bundespolizei) folgte, die dem Bundesministerium des Innern direkt unterstellt und in Sankt Augustin stationiert wurde. Aufgaben der GSG 9 sind die Terrorbekämpfung und Spezialeinsätze in schwierigen Lagen, zum Kommandeur wurde der damals 43-jährige Oberstleutnant im Bundesgrenzschutz Ulrich Wegener (1929 – 2017) berufen. Seine große Stunde sollte fünf Jahre später, im Oktober 1977, schlagen, als während des „Deutschen Herbstes“ die Lufthansa-Maschine „Landshut“ ins somalische Mogadischu entführt wurde. Durch den Einsatz der GSG 9 vor Ort gelang es dort, alle 86 Geiseln unbeschädigt zu befreien; drei der vier palästinensischen Terroristen wurden im Zuge des Erstürmens der Maschine erschossen, eine vierte Geiselnehmerin überlebte schwer verletzt. Für diese außerordentlich erfolgreiche „Operation Feuerzauber“ setzte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an alle 60 an dem Einsatz beteiligten Angehörigen der GSG 9 (Großes Bundesverdienstkreuz für Wegener, 1. Klasse für Einheitsführer und Spezialtruppenführer, 2. Klasse für alle anderen) durch, ein wohl einmaliger Vorgang in der Geschichte dieser begehrten Auszeichnung. National wie international begründeten Wegener und die GSG 9 mit dem Erfolg von Mogadischu ihren legendären Ruf.
Die für die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn tätigen Historiker Ulrike Zander und Harald Biermann haben den vorliegenden Band herausgegeben. Er setzt sich aus mehreren Elementen zusammen. Etwa die Hälfte des Umfanges nimmt die Autobiographie Ulrich Wegeners ein. In 20 kurzen Kapiteln berichtet der „Vater“ der GSG 9 im lockeren Gesprächston über sein Leben und vor allem über die Etablierung und die Einsätze dieser Truppe auch unter seinen Nachfolgern in der Kommandeursfunktion, die er mit Erreichen des 50. Lebensjahres 1979 zwar zurücklegen musste, ohne jedoch deshalb in seinen weiteren Verwendungen seinen Einfluss auf die GSG 9 aufzugeben. In die laufende Erzählung Wegeners flechten die Herausgeber immer wieder kursiv gedruckte und namentlich gekennzeichnete Passagen wichtiger Wegbegleiter ein, die seine Ausführungen bestätigen und erweitern und damit für eine breitere Perspektive sorgen. Darüber hinaus haben sie jeden Abschnitt mit einer Einleitung versehen, die jeweils die für das Verständnis des historischen Kontextes erforderlichen Informationen beibringt, und in einem Nachwort, das als 21. Kapitel figuriert, noch einmal Ulrich Wegeners Werdegang und Leistung prägnant auf den Punkt gebracht.
Das Scharnier zwischen diesem autobiographischen Teil und den nachfolgenden Zeitzeugeninterviews bildet der zentrale Bildteil, der auf 38 Schwarzweiß-Aufnahmen das private und berufliche Leben des Gründers der GSG 9 dokumentiert. Das erste Foto zeigt ihn im Alter von etwa vier Jahren auf einem Dreirad, das letzte als General im Ruhestand in Zivilkleidung 2015 beim Handschlag mit dem aktuellen Kommandeur der GSG 9, Jerome Fuchs, in Sankt Augustin. Auf mehreren Bildern erscheint er in Gesellschaft von ehemaligen, mittlerweile verstorbenen Größen der deutschen Politik wie den Kanzlern Helmut Schmidt und Helmut Kohl, Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski oder Hans-Dietrich Genscher, der 1970 als Innenminister Wegeners Fähigkeiten erkannt und ihn in der Funktion eines Verbindungsoffiziers zum Bundesgrenzschutz in sein Ministerbüro aufgenommen hat. Die Politiker Schmidt und Genscher äußern sich neben Otto Schily auch als Zeitzeugen. Weitere Interviews konnten die Herausgeber mit Wegeners Tochter Simone (verheiratete Stewens), mit Angehörigen der GSG 9 (Hubertus Grützner, Dieter Fox, Olaf Lindner, Jerome Fuchs), mit Flugpersonal der „Landshut“ (Jürgen Vietor, Gabriele von Lutzau), mit Wegeners israelisch-jüdischen Kontakten (Ehud Barak, Ran Bagg, Eli Levy, Reuven Caspy, David Schiller) sowie mit den Journalisten Stefan Aust und Mainhardt Graf von Nayhauß führen. Diese Drittstimmen vervollständigen das Bild der Autobiographie und heben Aspekte hervor, die dort nur angedeutet werden. So offenbart das Gespräch mit Simone Stewens sehr wohl den großen Druck, unter dem die gesamte Familie durch die exponierte Stellung des Familienoberhaupts im staatlichen Sicherheitsapparat zu leiden hatte.
Die kurzen biographischen Skizzen der Interviewpartner verschweigen leider manch essentielle Information; so findet sich dort weder ein Hinweis darauf, dass es sich bei Simone Stewens um Ulrich Wegeners Tochter handelt, noch wird in irgendeiner Weise auf das Ableben bereits verstorbener Persönlichkeiten hingewiesen. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass Ulrich Wegener selbst am 28. Dezember 2017 – also kurz nach Erscheinen des Bandes – im 88. Lebensjahr verstorben ist, eine Information, die im Fall einer weiteren Auflage unbedingt einzuarbeiten ist. Nützlich sind in jedem Fall die chronologische Zusammenstellung der Terrorakte, mit denen die Bundesrepublik Deutschland unter den Kanzlern Willy Brandt (1969 – 1974) und Helmut Schmidt (1974 – 1982) konfrontiert war, und die Kurzcharakteristiken der Terrorgruppen, mit denen es die GSG 9 in jenen Jahren zu tun hatte (Action directe – AD, Arbeiterpartei Kurdistans – PKK, Armenische Geheimarmee zur Befreiung Armeniens – ASALA, Baskische Separatisten – ETA, Bewegung 2. Juni, Irisch-Republikanische Armee – IRA, Kämpfende kommunistische Zellen – CCC, Palästinensische Befreiungsorganisation – PLO, Revolutionäre Zellen – RZ, Rote Armee Fraktion – RAF, Rote Brigaden, Schwarzer September, Volksfront zur Befreiung Palästinas – PFLP, Volkskräfte des 25. April – FP 25).
In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass Ulrich Wegeners Sozialisation sein Wirken als Schöpfer und Kommandeur der GSG 9 wesentlich beeinflusst hat. Aus einer preußischen Offiziersfamilie stammend, die, glaubt man den Ausführungen, Distanz zum Nationalsozialismus und zum Kommunismus gehalten hat, floh er 1952 aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nach Westdeutschland, nachdem er von seinem regimetreuen Bruder an die Staatssicherheit verraten, in weiterer Folge verurteilt und für eineinhalb Jahre inhaftiert worden war. „Seit diesem frühen Zeitpunkt verkörperte Wegener nahezu den antitotalitären Grundkonsens der frühen Bundesrepublik Deutschland. Der Schutz des Grundgesetzes avancierte zur Lebensaufgabe“, so die Herausgeber (S. 132). Sein Weg führte ihn von der Bereitschaftspolizei zum Bundesgrenzschutz bis in das Zentrum der Macht, in das Bundesministerium des Innern. Wegeners natürliche Autorität, sein persönliches Vorbild und seine Zielstrebigkeit haben viel zu seinem Erfolg beigetragen, dazu wohl auch das Glück des Tüchtigen, denn, wie David Schiller in seinem Interview betont, „Mogadischu hätte auch schiefgehen können, es gibt keine Garantie“ (S. 273). Besonders hervorzuheben sind Wegeners Erfolge als Netzwerker, indem es ihm gelungen ist, beim Aufbau der GSG 9 das Vertrauen der Deutschland gegenüber außerordentlich skeptischen, aber in der Terrorabwehr damals führenden Israelis zu gewinnen und zu einem langjährigen, fruchtbaren Austausch auszubauen. Internationale Kooperationen mit Spezialeinsatzkräften in Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Frankreich, der Schweiz und Österreich sollten folgen. Obwohl im Innenressort angesiedelt, hat Ulrich Wegener seine Aufgaben mit der GSG 9 nicht polizeilich, sondern immer nach den Grundsätzen militärischer Taktik und Einsatzführung interpretiert. Dazu gehört neben dem ständigen Trainieren und Optimieren möglicher Einsatzszenarien vor allem, dass der Kommandeur am Ort des Geschehens persönlich von vorne führt und nachgeordneten Führern aufgrund von Auftragstaktik die Möglichkeit eröffnet, auf Lageänderungen kraft eigenen Entschlusses unverzüglich angemessen im Sinne des Auftrags zu reagieren. In diesem auf enge soziale Verbundenheit, ständige Perfektionierung und größtmögliche Flexibilisierung setzenden, militärisch angelehnten Gesamtkonzept liegt wohl ein grundlegendes Geheimnis des Erfolges der GSG 9. Damit war es für Wegener auch nicht allzu schwer, bisweilen auftauchende Ambitionen der Polizeien der Länder, mit eigenen Einheiten zur GSG 9 in Konkurrenz zu treten, unter Verweis auf die überlegene Kompetenz in die Schranken zu weisen.
Für seine Nachfolger in der Kommandeursfunktion scheinen Ulrich Wegeners übermächtiger Schatten, vor allem aber seine anhaltende Einflussnahme auf die GSG 9 allerdings ein Problem gewesen zu sein, denn er konnte wohl nicht von der Aufgabe lassen: „Meine Ernennung zum Kommandeur des Grenzschutzkommandos West, also zum Brigadegeneral, erfolgte 1981 […]. Damit unterstand mir die GSG 9 weiterhin. Das war ein großer Vorteil, weil ich mich in dieser Position sehr intensiv um die GSG 9 kümmern konnte: Ich bin mindestens einmal am Tag dort gewesen. Es war nicht immer zur Freude der Kommandeure, aber so lief das“. Gnade unter seinen Nachfolgern finden im Grunde nur die bei der Bundeswehr auch militärisch zum Offizier ausgebildeten Olaf Lindner – er „verfolgte mit aller Macht meine Linie“ – und Jerome Fuchs, denn „(m)it ihm hat die GSG 9 eine großartige Fortführung der Grundsätze, die ich vorgegeben habe“ (S. 113). Das könnte wohl auch als Ausdruck eines überzogenen Egos verstanden werden; bei allem, was der Band über die Prinzipien Wegeners verrät, ist allerdings viel wahrscheinlicher, dass es ihm ein wesentliches Anliegen war, dass das von ihm so vorzüglich geformte Instrument optimal fortgebildet werden und nicht – durch nur mittelmäßiges Führungspersonal verwässert – an Effizienz verlieren sollte.
Kapfenberg Werner Augustinovic