Sebestyen, Victor, Lenin. Ein Leben, aus dem Engl. v. Juraschitz, Norbert/Schuler, Karin/Thies, Henning. Rowohlt, Berlin 2017. 703 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

An Biographien Wladimir Iljitsch Uljanows (1870 – 1924), weltberühmt unter seinem Revolutionsnamen Lenin, herrscht kein Mangel. Zu den aufschlussreichsten gehören zwei Werke, die erst nach dem Fall der Sowjetunion veröffentlicht worden sind. Es handelt sich zum einen um Robert Services „Lenin. Eine Biographie“ (2000), die er seinen drei Bänden „Lenin. A Political Life“ (1985 - 1995) nachfolgen ließ und die den Auftakt für weitere Lebensbilder Stalins (2004) und Trotzkis (2012) bildet, zum anderen um Wolfgang Ruges „Lenin. Vorgänger Stalins. Eine politische Biographie“ (2010). Im Verein mit weiteren biographischen Werken zu Lenin stellen diese beiden Bücher zahlreiche gut fundierte, detaillierte und verlässliche Informationen zu Leben und Werk des Protagonisten bereit. Dass das hundertjährige Gedenken der russischen Oktoberrevolution 1917 nicht ohne neue Publikationen zur Person des Revolutionsführers verstreichen würde, stand dennoch zu erwarten. Tatsächlich hat der 1956 in Budapest geborene, noch im selben Jahr mit seiner Familie in den Westen emigrierte und in London lebende Historiker und Journalist Victor Sebestyen eine umfangreiche Lenin-Biographie vorgelegt, die laut dem Klappentext „einen neuen Blick“ auf den berühmten Revolutionär verspricht.

 

Stolze 54 Kapitel wendet der Verfasser für seine Darstellung auf, die er mittels des Einsatzes von Bildmaterial – vier separate, in gleichmäßigen Abständen den Text unterbrechende Tafelteile – grob in vier chronologische Einheiten zerlegt. Der erste Fotoblock korrespondiert in etwa mit dem Inhalt der Kapitel 1 bis 9 und bringt Aufnahmen aus Lenins Jugend, dazu Bilder seiner Eltern, seiner Geschwister, seiner Ehefrau Nadeschda (Nadja) Krupskaja und seiner Vertrauten und Geliebten Inessa Armand. Eine erste Zäsur ist Ende 1895 anzusetzen, als Wladimir Iljitsch Uljanow inhaftiert und 1897 „zu drei Jahren ,administrativer Verbannung‘ in Sibirien verurteilt“ wurde (S. 124), gewissermaßen der Auftakt zu zwei Jahrzehnten im Exil. Die zweite Fotoeinheit erfasst diese beiden, in den Kapiteln 10 bis 36 behandelten Dekaden und zeigt den Protagonisten, bisweilen im Kreis bekannter Wegbegleiter, sein Haus in Sibirien und das berühmte „exterritoriale“ Eisenbahnabteil, in dem er im April 1917 auf seiner von der deutschen Regierung wohlwollend geförderten Heimreise nach Russland das Gebiet des Deutschen Reiches durchquerte, nachdem er in der Schweiz von den revolutionären Februarereignissen, die in seiner Heimat das Zarenregime hinwegfegten, „genauso überrascht wie alle anderen“ worden war (S. 310). Mit der Oktoberrevolution und ihren Folgen dokumentiert die dritte Fotostrecke Lenins weltgeschichtlich bedeutendste Leistung, dargestellt im Prolog sowie in den Kapiteln 37 bis 46. Neben Lenin und seinen Weggefährten erscheinen auch Kontrahenten und Opfer, wie der aus dem Amt vertriebene Chef der Provisorischen Regierung, Alexander Kerenski, Sohn von Lenins einstigem Schuldirektor am Simbirsker Gymnasium, und die bekanntlich ohne jedes Verfahren brutal ermordete Zarenfamilie. Die Bilder des abschließenden vierten Fotoblocks thematisieren parallel zu den Textabschnitten 47 bis 54 vornehmlich die Privatperson Lenin zwischen 1920 und 1924 im Familienkreis und schließlich von Krankheit gezeichnet, sodann seinen auch heute immer noch zur Schau dargebotenen konservierten Leichnam und als letzte Aufnahme 1991 die Entfernung eines bildhauerisch gestalteten Lenin-Kopfes in Berlin-Friedrichshain nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks.

 

Victor Sebestyen schildert die Geschichte des Phänomens Lenin in einem angenehm flüssigen Erzählton, ohne die Narration mit chronologischen Daten zu überfrachten. Der Protagonist erscheint spätestens nach der Hinrichtung seines Bruders durch das Zarenregime als überzeugter Revolutionär, ausgestattet mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz (Lenin war Klassenprimus und schloss seine juristischen Prüfungen als Externist an der Universität St. Petersburg mit Bestnoten ab, wozu der Verfasser bemerkt: „Eine der vielen russischen Ironien, an denen Lenin sich immer wieder erfreute, bestand nun also darin, dass er das glänzendste juristische Examen an der besten Universität des Landes ablegte, während ihn die Geheimpolizei als potenziellen Gesetzesbrecher und subversives Element permanent überwachte“; S. 88), gepaart mit einem unerschütterlichen Sendungsbewusstsein, dem Instinkt für die richtige Taktik zur gegebenen Zeit, Sturheit und einem aggressiven Durchsetzungsvermögen, das ihn für Kompromisse unempfänglich machte und viele der kommunistischen Sache wohlgesinnte Weggefährten – so auch Georgi Plechanow, den „‘Vater‘ des russischen Marxismus“ (S. 671) – vergraulte. Nicht selten stand seine – durch den Gang der Ereignisse dann bestätigte – Meinung zunächst im Widerspruch zu der Ansicht der anderen. Während „viele seiner treuen Anhänger (in Lenins kompromissloser Antikriegshaltung) einen riskanten Fehler (sahen)“, sei gerade diese Linie langfristig „ausschlaggebend für den Machtgewinn – und für den Machterhalt“ gewesen: „Als sich die Stimmung in Russland änderte und die Kriegsmüdigkeit zunahm, wuchs auch die Unterstützung für die Bolschewiki. Und jetzt konnte Lenin plausibel argumentieren, dass er den Krieg nie gewollt habe und dass die Bolschewiki es seien, die ihn beenden könnten. Hauptsächlich dieses Versprechen brachte ihn an die Macht. Lenins Strategie war einfach. Er wollte, dass sein Land diesen Krieg verlor; die Niederlage wäre ein Zündfunke für die Revolution“ (S. 293f.).

 

Bei der Umsetzung seiner Strategie habe ohne jede Rücksichtnahme stets der Zweck die Mittel geheiligt. So hätten sich die Bolschewiken mit Billigung Lenins unter anderem durch Raubüberfälle finanziert, deren spektakulärster, von Stalin gesteuert, 1907 in Tiflis das Leben von fünfzig unbeteiligten Passanten kostete und fünfzig weitere schwer verletzte. Zu der bereitwilligen, doch geheim gehaltenen Entgegennahme finanzieller Zuwendungen der auf Chaos in Russland spekulierenden deutschen Regierung hielt der deutsche Außenminister Richard von Kühlmann treffend fest: „Erst die Mittel, die den Bolschewiki auf verschiedenen Kanälen von unserer Seite dauernd zuflossen, haben es ihnen ermöglicht, die Prawda, ihr Hauptorgan, auszugestalten, eine rege Agitation zu betreiben und die anfangs schmale Basis ihrer Partei stark zu verbreitern“ (S. 376). Lenins Politikstil in der Öffentlichkeit sei entschieden populistisch gewesen und in seiner Art bis heute ungebrochen aktuell: „Lenin bot einfache Lösungen für komplexe Probleme an. Und er log schamlos. […] Mit dreistem Zynismus versprach er den Leuten alles und jedes. […] Das Ziel – die sozialistische Revolution – rechtfertige alle Mittel, auch bewusstes Lügen“ (S. 361f.). Nach dem einfachen Motto „(W)as schlecht für sie, die bürgerliche Regierung ist, ist gut für uns“ habe er rücksichtslos Gewalt und „Klassenhass“ geschürt, denn „für ihn war der Sozialismus Klassenkampf und die damit verbundene Gewalt unvermeidlich“ (S. 368). Gefürchtet waren selbst im Kreis der Genossen seine bisweilen obszönen verbalen Entgleisungen, die seine Polemiken kennzeichneten, aber „niemals auf persönlichem Groll“ beruht hätten, sondern immer „kühl kalkuliert“ gewesen seien (S. 108).

 

Der ausgebildete Anwalt Lenin stellte bei der Schaffung des Einparteienstaates selbstverständlich auch das Recht in den Dienst seiner revolutionären Bestrebungen. Durch ein Dekret „beseitigte er das bestehende Rechtssystem, hielt aber an dem zaristischen Prinzip fest, dass es ein Justizsystem für gewöhnliche Verbrechen gegen das private Eigentum gab und ein davon getrenntes für Verbrechen gegen den Staat. Für gewöhnliche Kriminelle richtete er ‚Volksgerichte‘ ein – im Grunde fallweise stattfindende Verhandlungen vor der Volksmenge, in denen zwölf ‚gewählte‘ Richter, die meist kaum lesen konnten, weniger nach den Fakten eines Falles als unter Zuhilfenahme des ‚revolutionären Gewissens‘, wie Lenin es nannte, entschieden. Seine zweite Neuschöpfung hatte Lenin von der Französischen Revolution übernommen – das Revolutionstribunal. Diese Tribunale beschäftigten sich mit Verbrechen gegen den Staat und arbeiteten etwa ein Jahr lang, liefen dann aber allmählich aus. Öffentliche Prozesse wurden ersetzt durch zehnminütige Anhörungen vor einer ‚Troika‘ von Parteimitgliedern, die von der Tscheka gesteuert waren und hinter verschlossenen Türen stattfanden“ (S. 459). Die Geheimpolizei der Bolschewiken „ging skrupelloser vor als die Ochrana [= die zaristische Geheimpolizei, an deren Vorbild man sich orientierte; W. A.], allerdings war es nur ein gradueller und kein genereller Unterschied“, zumal „Marx und Engels dafür keinen Plan hinterlassen hatten, (wie man eine Spionagebehörde organisiert)“ (S. 441). Den Romanows gewährte der Jurist Lenin bekanntlich keinerlei Rechtschutz. Obwohl er mit Rücksicht auf das Ausland abgestritten habe, den Mord an der Zarenfamilie befohlen zu haben, sei das reine Taktik und auch hier seine Haltung in Wahrheit kompromisslos gewesen. Während andere überlegten, dem Zaren den Prozess zu machen und gegen den Rest der Familie juristisch nicht vorzugehen, „tat (Lenin) zunächst so, als goutiere er die Idee, doch in Wahrheit hatten er und Swerdlow dem Zaren ein anderes Schicksal zugedacht; es war nur die Frage, wie und wann seine Hinrichtung stattfinden und ob Nikolaus allein sterben würde. Lenin bereitete der Königsmord keine Gewissensbisse. […] Um die öffentliche Meinung in Russland machte er sich überhaupt keine Sorgen. Er war sich sicher, dass die meisten das Los der Zarenfamilie nicht kümmerte“ (S. 478). Mit dieser Prognose sollte er Recht behalten.

 

Trotz seines unbeirrten Festhaltens am Ziel der sozialistischen Revolution sei Wladimir Iljitsch Uljanow aber kein starrer Dogmatiker gewesen, sondern eher ein den Erfordernissen der Lage angepasst agierender Pragmatiker der Macht. So stellen seine berühmten „Aprilthesen“ von 1917 „eine seiner dramatischsten Abweichungen von der marxistischen Orthodoxie dar. […] In kaum mehr als zehntausend Wörtern stellte Lenin die Marx’sche Lehre, dass jede Gesellschaft zunächst ein bürgerlich-kapitalistisches Stadium durchlaufen müsse, bevor eine sozialistische Revolution möglich sei, komplett auf den Kopf. Er erklärte, das rückständige, weitgehend agrarisch-bäuerliche Russland könne die industriell-kapitalistische Entwicklungsphase überspringen und eine sozialistische Revolution entfachen, die bald in ganz Europa nachgeahmt werden würde“ (S. 326). Ähnliche Flexibilität sollte er 1921 im Zuge seines „letzte(n) große(n) Kampf(es)“ (S. 563), der Durchsetzung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) gegen massiven Widerstand in der Partei, unter Beweis stellen. Eine massive Hungersnot und das komplette Erliegen der Produktion als Folge der revolutionären Eingriffe machten ein Zurückrudern zu kapitalistischen Formen des Wirtschaftens unausweichlich, die neue Definition des Kommunismus habe fortan „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ gelautet. „Die NÖP kurbelte die Wirtschaft schnell an, aber sie verzerrte das sozialistische Experiment“. Um politische Auseinandersetzungen hintanzuhalten, habe Lenin damals eine lange geheim gehaltene Resolution über die „Einheit der Partei“ verfasst: „Sie verbot unabhängige Gruppen- und Grüppchenbildung in der Kommunistischen Partei unter Androhung des sofortigen Parteiausschlusses ohne jede Berufungsmöglichkeit. […] Dies sollte für Millionen treuer Kommunisten schwerste Konsequenzen haben. Es war die schlagkräftigste Waffe, die Stalin gegen ‚Abweichler‘ und alle, die er als solche wahrnahm, zum Einsatz brachte“ (S. 564ff.).

 

Trotz seines relativ unscheinbaren äußeren Erscheinungsbildes – „(e)ine untersetzte Gestalt mit großem, auf stämmigem Hals sitzendem Kopf, ziemlich kahl, kleinen beweglichen Augen, großem sympathischem Mund und kräftigem Kinn […] (i)n armseligen Kleidern, mit Hosen, viel zu lang für ihn“ (S. 38f.) – vermochte Lenin in kritischen Situationen durch seinen persönlichen Einsatz den Lauf der Dinge entscheidend zu beeinflussen. Dabei war er sich der zentralen Bedeutung und des Wertes seiner Person für die revolutionäre Sache stets bewusst und vermied es klug, sich fahrlässig in unübersichtliche Situationen verwickeln zu lassen, ein Verhalten, das ihm gelegentlich den Vorwurf der Feigheit eingetragen habe. Die starke Konzentration der Macht auf seine Person sollte sich aber als ungünstig erweisen, als Lenin durch mehrere Schlaganfälle zunehmend handlungsunfähig und die Frage seiner Nachfolge virulent wurde: „Wie so viele übermächtige Führungsgestalten hielt auch er niemanden für geeignet, den Stab von ihm zu übernehmen. […] Wahrscheinlich schwebte Lenin eine Art kollektive Leitung vor, doch er hatte keinerlei Prozedere festgelegt. […] Lenin wollte keinen der beiden möglichen Kandidaten an der Staatsspitze. Er hatte Trotzki und Stalin immer wieder gegeneinander ausgespielt“ (S. 573). Dennoch sei es „Lenins größtes Verbrechen“ gewesen, dass er Stalin, um dessen „skrupellose Unmoral er schon lange (wusste) [, …] mit guten Aussichten auf den Posten des sowjetischen Diktators zurückließ“ (S. 575). Die Exzesse des Stalinismus konnten so aus jenen Grundlagen erwachsen, die Lenin zu verantworten hat: „Dem von ihm errichteten System lag die Überzeugung zugrunde, dass politischer Terror zulässig sei, wenn er höheren Zielen diente. Perfektioniert wurde dieses System von Stalin, aber die Idee kam von Lenin“ (S. 14).

 

Obwohl Victor Sebestyen im Grunde nichts wirklich spektakulär Neues über Wladimir Iljitsch Uljanow zu berichten weiß, steht außer Zweifel, dass seine Arbeit den Kosmos der Lenin-Biographik bereichert. Eine Stärke des Werks – wohl der eingangs versprochene „neue Blick“ – besteht in der Darlegung der engen Wechselwirkungen zwischen dem Revolutionär und dem Privatmann Lenin, der die dringend benötigte Regeneration beim Schachspiel, auf der Jagd oder in den Bergen suchte. Aufgezeigt wird auch das große Verdienst, das weiblichen Genossen in der Umgebung Lenins beim Erreichen seiner Ziele zukam, zu allererst seiner Ehefrau Nadja, aber auch Inessa Armand, Alexandra Kollontai, der ersten Kommissarin für Soziale Fürsorge nach der Revolution, oder Angelica Balabanova, erste Sekretärin der Kommunistischen Internationale (Komintern) und frühe Biographin Lenins. Zweifellos war Lenin (übrigens nur einer von zahlreichen Decknamen Uljanows, derer er sich bedient hat und der 1901 erstmalig auftaucht, ohne dass seine nähere Bedeutung bisher überzeugend geklärt werden konnte; vgl. S. 138f.) eine Führungspersönlichkeit mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, doch seine Erfolge verdanken sich in letzter Konsequenz weder einer strikt durchgeplanten Strategie noch einer – nach marxistischer Auffassung – Zwangsläufigkeit der historischen Entwicklung, sondern seiner Fähigkeit, Chancen im richtigen Augenblick intuitiv und rasch zu erkennen, entschlossen zu handeln und Schwächen des Gegners gnadenlos auszunützen. Die Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 war somit ein Ergebnis der Überrumpelung sowohl der Provisorischen Regierung als auch jener Mehrheit der Delegierten im Sowjetkongress, die den Staatsstreich nicht mittragen wollten und durch ihren freiwilligen Auszug letztlich den Bolschewiken ein unerwartetes Machtmonopol bescherten.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic