Schmitt, Michael, Der Reichsfinanzhof und seine Rechtsprechung in steuerlichen Angelegenheiten jüdischer Mitbürger 1933-1945 (= Hagener juristische Beiträge 2). MV-Wissenschaft, Münster 2017. 180 S. Besprochen von Werner Schubert.
Die vorliegende Untersuchung hat der Fernuniversität Hagen im Studiengang „Master of Law“ im Sommersemester 2010 vorgelegen. Die Veröffentlichung dieser Arbeit – wenn auch erst sieben Jahre später - ist vollauf zu begrüßen, da bis jetzt eine systematische Aufarbeitung der Judikatur des Reichsfinanzhofs (RFH) fehlt. Ziel der Untersuchungen Schmitts ist es, anhand von Entscheidungen des Reichsfinanzhofs zu untersuchen, „inwieweit die oberste Steuergerichtsbarkeit diese Rolle des ‚Gehilfen des Reichsministeriums der Finanzen‘ übernommen hatte oder übernehmen musste; und inwieweit sie den Spielraum der Gesetzesauslegung dahingehend ausnutzte, die gesetzlich angelegten Unrechtselemente weiter zu verschärfen“ (S. 11). Dabei beschränkt sich Schmitt darauf, „die Restriktionen im Steuerrecht und die zugehörigen Entscheidungen des RFH gegenüber Angehörigen des jüdischen Glaubens zu untersuchen“ (S. 12). Im urteilsanalytischen Teil wird ein Abschnitt über die „Rahmenbedingungen im zeitlichen Kontext“ vorangestellt (S. 13-59). Der Reichsfinanzhof wurde noch kurz vor dem Ende des Kaiserreichs aufgrund eines Gesetzes vom Juni 1918 zum 1. 10. 1918 in München begründet. Er verfügte 1924 über sechs Senate mit insgesamt 39 Richtern. Der Reichsfinanzhof war eine reine Rechtsinstanz. 1939 wurden die Finanzgerichte abgeschafft. Statt dessen entschied das Landesfinanzamt in besonderen „Abteilungen“ in Anfechtungssachen; diese Abteilungen konnten Rechtsbeschwerden zum Reichsfinanzhof gegen ihre Entscheidungen nur noch in Sachen von „grundsätzlicher Bedeutung oder wegen besonderer Umstände des Einzelfalles zulassen“ (S. 22). S. 24ff. geht Schmitt ein auf die die jüdischen Bürger diskriminierende Gesetzgebung ab 1933. Zu nennen sind hier das Steueranpassungsgesetz vom Oktober 1934, nach dessen § 1 die Steuergesetze „nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen waren“, auf die Änderungen des Einkommenssteuerrechts (ab 1939 Einordnung der jüdischen Steuerzahler grundsätzlich in die höchste Steuergruppe I, S. 29) sowie die diskriminierenden Einzelgesetze (Judenvermögens-, Arisierungs- und Sozialausgleichsabgabe). Die „Reichsfluchtsteuer“ (seit 1931) stellt zwar keine nationalsozialistische Neuschöpfung dar (S. 31), diente jedoch seit 1933 fast ausschließlich als Instrument der „fiskalischen Ausplünderung“ der jüdischen Bevölkerung (S. 46 Übersicht über die Einnahmen des Reichsfiskus mit den höchsten Beträgen in den Rechnungsjahren 1938/1939 und 1939/1940). Im Abschnitt über das Beamtenrecht (1933-1945) weist Schmitt darauf hin, dass zwischen 1933 und 1938 rund 30 Mitglieder des Reichsfinanzhofs (darunter viele „zwangsweise aufgrund der diskriminierenden NS-Gesetze“) den Reichsfinanzhof verlassen mussten (darunter der Präsident des Reichsfinanzhofs Herbert Dorn wegen seiner jüdischen Abstammung).
Das Kapitel über die Spruchpraxis des Reichsfinanzhofs (S. 61-141) beginnt mit einem Überblick über die Stellung seiner Richter, die nach Art. 102 der Reichsverfassung unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen waren (S. 61). Allerdings war die Stellung des Reichsfinanzhofs gegenüber dem Reichsfinanzministerium (RFM), in dem der nationalsozialistische Staatssekretär Fritz Reinhardt im Rahmen der Aufgabenteilung durch den Reichsfinanzminister v. Krosigk in Steuer- und Personalfragen freie Hand hatte (S. 147f.), außerordentlich prekär. Bereits im Februar 1939 machte Reinhardt bei der Amtseinführung des neuen Präsidenten Mirre (S. 150ff.) der Richterschaft deutlich, „dass die eigenständige Rolle des Reichsfinanzhofes bei der Steuerrechtsentwicklung vorbei sei“ (S. 63). Als 1941 v. Krosigk den Reichsfinanzhof im Oktober 1941 besuchte, hatte der Reichsfinanzhof nach Schmitt „seine Rolle als eigenständiges, unabhängiges Organ der Steuerrechtspflege längst ausgespielt und sich dem Willen des Reichsfinanzministeriums untergeordnet“ (S. 68). Im Einzelnen untersucht Schmitt die Judikatur des Reichsfinanzhofs zur „Reichsfluchtsteuer“ (S. 72; S. 93ff. zu einem gegenüber dem Reichsfinanzminister willfährigen Gutachten des großen Senats des Reichsfinanzhofs), zur Gemeinnützigkeit jüdischer Organisationen, die diesen versagt wurde, zur Judensvermögensabgabe und zur sog. Arisierungsabgabe sowie zu steuerlichen Einzelgesetzen. Insgesamt haben die Richter ihren Handlungsspielraum nicht ausgenutzt und sind nach Schmitt damit „ihrer Rolle als Gehilfen des RFM gerecht geworden“ (S. 100). Fatal war die rückwirkende, gesetzlich nicht normierte Berücksichtigung der Rassenideologie (S. 103). Mit Recht verneint Schmitt die Frage, „ob es die gesetzespositivistische Einstellung der Richter gewesen sei, die sie der nationalsozialistischen Diktatur dienstgemacht habe“ (S. 138). Eine „strenge gesetzespositivistische Haltung“ hätte die Richter nach ihm „eher widerstandsfähig gegenüber der Diktatur machen müssen“ (S. 138). Insgesamt bleiben als Erklärung für das Verhalten des Reichsfinanzhofs „nur noch Anpassung oder Überzeugung“ übrig (S. 139).
Im abschließenden Teil: „Umgang mit dem Steuerrecht und Rechtsprechung aus der Zeit des Nationalsozialismus nach dem 8. Mai 1945“ (S. 143 f.) geht Schmitt ein auf die Konsequenzen für die führenden Akteure (Schwerin v. Krosigk, Reinhardt und Mirre). Es folgen Ausführungen zur institutionellen „Kontinuität RFH – OFG [Oberster Finanzgerichtshof für die Amerikanische Zone] – BFH“, der am 1. 9. 1950 seine Tätigkeit aufnahm. Eine nicht geringe personelle Kontinuität zwischen diesen drei Gerichten bestand zwar; jedoch haben nach Schmitt die „ideologisch kontaminierten Urteile des RFH keinen Einzug in die Rechtsprechungspraxis des BFH“ gehalten (S. 167). Anders als der Reichsfinanzhof hat sich der Bundesfinanzhof auch „als Regulativ des Steuergesetzgebers“ erwiesen (S. 167). Die bis nach 1990 vertretene These, dass der Reichsfinanzhof „in der NS-Zeit trotz politischer, positivistischer und persönlicher Pressionen im Ganzen integer geblieben“ sei, ist nach den detaillierten Aufsätzen von Felix (1993) nicht mehr haltbar. Zu der Frage, inwieweit der Reichsfinanzhof als „Institution diskreditiert ist“, fehlt noch immer eine fundierte Untersuchung. Mit dem Werk Michael Schmitts liegt eine gehaltvolle Überblicksdarstellung über den Reichsfinanzhof und dessen veröffentlichte diskriminierende Judikatur gegenüber jüdischen Bürgern vor. Angesichts der Vielzahl der weitgehend noch nicht ausgewerteten Prozessakten im Bundesarchiv (rund 65.000 Prozessakten) wären weitere Untersuchungen zur Judikatur des Reichsfinanzhofs in der Weimarer und in der nationalsozialistisch beherrschten Zeit erwünscht (vgl. auch die Überblicksdarstellung Christiane Kullers über Bürokratie und Verbrechen - Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland, 2013 und Jürgen Kilians Werk über Krieg auf Kosten anderer. Das Reichsfinanzministerium und die wirtschaftliche Mobilisierung Europas für Hitlers Krieg, Berlin 2017).
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Werner Schubert |