Weber, Max, Max Weber-Gesamtausgabe, Abteilung II Briefe, Band 2 Briefe 1887-1894, hg. v. Aldenhoff-Hübinger, Rita in Zusammenarbeit mit Gerhards, Thomas/Oßwald-Bargende, Sybille. Mohr Siebeck, Tübingen 2017. XX, 683 S., 1 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Jahre von 1887 bis 1894 waren für den so vielseitigen Juristen, Ökonomen und Soziologen Max Weber (1864 – 1920) sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht bedeutungsvoll. Diese Lebensphase erschließt sich vor allem aus der umfangreichen wissenschaftlich-politischen und privaten Korrespondenz des Gelehrten, die an zwei Arbeitsstellen (Historisches Seminar der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Max-Weber-Institut für Soziologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) editorisch aufbereitet worden ist. Der aktuelle Band versammelt 206 Briefe, allesamt aus der Feder Max Webers, wovon ein gutes Drittel an seine Braut und spätere Ehefrau Marianne (geb. Schnitger) gerichtet ist. Die „Briefe“ bilden die Abteilung II der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG), neben der Abteilung I „Schriften und Reden“ und der Abteilung III „Vorlesungen“. Von den ab 1990 publizierten, insgesamt 11 Bänden der Abteilung II „Briefe“ stehen mittlerweile nur mehr Band 1 (Briefe 1875-1886) und der abschließende Band 11 (Nachträge und Gesamtregister) aus.

 

Eine an den Inhalten der Briefe orientierte Auswertung nimmt die sich über 36 Druckseiten erstreckende Einleitung vor. Hier berichten die Herausgeber anhand der Korrespondenzen zunächst über Max Webers juristische Ausbildung und die Formierung seines wissenschaftlichen Werdegangs von der Dissertation („Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter“, 1889) über die Habilitation („Römische Agrargeschichte“, 1891) bis hin zu seinen Verwendungen erst als Privatdozent, dann als etatmäßiger außerordentlicher Professor an der Juristischen Fakultät in Berlin (hier lehrte er Römisches Sachenrecht, Römische Rechtsgeschichte und darüber hinaus in Vertretung Levin Goldschmidts Handels-, Wechsel-, See- und Versicherungsrecht) und schließlich als Ordinarius für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft in Freiburg im Breisgau. „Bis 1890 hatte Max Weber die Entscheidung für eine bestimmte berufliche Laufbahn – praktische Karriere als Rechtsanwalt oder Syndikus oder akademische Karriere – offengelassen. Mit der Habilitation stellte er die Weichen für eine akademische Laufbahn, in der Schwebe blieb indes bis zum endgültigen Ruf an die Universität Freiburg, für welches Fach er sich entscheiden würde. Warum er sich für die Nationalökonomie entschied, lag nicht nur an der Gelegenheit und dem Angebot der Freiburger Philosophischen Fakultät, sondern war maßgeblich begründet in der Entwicklung seiner wissenschaftlichen Interessen und politischen Orientierungen“ (S. 11). Hierüber geben die häufigen, an seinen Onkel, den Historiker und Altliberalen Hermann Baumgarten, gerichteten Schreiben Aufschluss, dem er „aus dem Zentrum, der Reichshauptstadt Berlin, an die Peripherie, nach Straßburg, über wichtige Gesetzesvorhaben, politische Tendenzen und Ereignisse (berichtete)“ (S. 13), so über den Abbau der Kulturkampfgesetze, die Finanzpolitik des Reichs und die Verhältnisse im Dreikaiserjahr 1888 im Zeichen der Thronwechsel von Wilhelm I. auf Friedrich III. und dann auf Wilhelm II. Engagiert in der evangelisch-sozialen Bewegung als Gegengewicht zu Adolf Stoecker, beschäftigte er sich mit primär sozialpolitischen Problemstellungen. Seine „intensive Auseinandersetzung mit der Landarbeiterfrage in den vom Großgrundbesitz dominierten östlichen Provinzen Preußens“ habe ihn dazu veranlasst, „die liberale Wirtschafts- und Handelspolitik für diesen Teil des Deutschen Reiches in Frage zu stellen“ und „einen unauflösbaren Gegensatz zwischen dem agrarischen Kapitalismus und einerseits und der nationalen Frage andererseits“ zu diagnostizieren. „Vehement“ habe er aber im selben Kontext „in Zusammenarbeit mit dem Alldeutschen Verband und dem Deutschen Ostmarkenverein den Ausschluß der polnischen Wanderarbeiter“ gefordert und komplementär „eine forcierte preußische Ansiedlungspolitik deutscher Landarbeiter in Westpreußen und Posen“ (wo er vor Ort zwischen 1888 und 1894 mehrfach militärische Übungen als Reserveoffizier beim Zweiten Niederschlesischen Infanterieregiment Nr. 47 absolvierte) favorisiert. Diese – so konstatieren die Herausgeber – „Hinwendung zu einer neuen Form des Nationalismus, der sich zum Teil in sozialdarwinistischen Tönen äußerte, trennte ihn vom Liberalismus älteren Zuschnitts, sie machte ihn aber nicht zum Anti-Liberalen“, sondern „zu einem der schärfsten bürgerlich-liberalen Kritiker der östlichen Großgrundbesitzer, gerade weil diese in Bezug auf die nationale Frage versagt hätten“ (S. 16f.). Intellektuelle Inspiration habe Max Weber auch aus den „Donnerstag Abende(n)“ im informellen Kreis der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft bezogen, wo die Mitglieder – mehrheitlich Juristen und Nationalökonomen, fallweise ergänzt durch Historiker, Kunsthistoriker oder Statistiker – „wie in einem britischen Club kooptiert oder auch ausgeschlossen“ wurden (S. 23).

 

Unter den Themen, welche die private Sphäre betreffen, geben die versammelten Briefe vor allem Auskunft über Max Webers Beziehung zu seiner späteren Ehefrau. Seiner Cousine und ursprünglich als Partnerin geplanten Jugendfreundin Emmy Baumgarten, der Tochter Hermann Baumgartens, durch räumliche und zeitliche Distanz entfremdet, erklärte er sich schriftlich im Januar 1893 der ihm ebenfalls verwandtschaftlich eng verbundenen Marianne Schnitger (der Vater Max Webers und Mariannes Großvater mütterlicherseits waren Brüder). Die Briefe „aus der Verlobungszeit und dem ersten Jahr ihrer Ehe dokumentieren eindrucksvoll den Beginn der Beziehung dieses Paares. Darüber hinaus geben sie Einblicke in die Praktiken bürgerlicher Lebensführung und die vielfältigen Erwartungen an die Ehe und die jeweiligen Geschlechterrollen“. In diesem Zusammenhang diskutieren die Herausgeber auch den zwei Tage vor der Hochzeit zwischen den Eheleuten abgeschlossenen Ehe- und Erbvertrag, in dem sich Max Weber „das absolute Maximum ehemännlicher Verfügungsgewalt“ sicherte, „obwohl er sich später engagiert für die bürgerliche Frauenbewegung einsetzte, in der Marianne Weber an führender Stelle aktiv wurde“, und Marianne im zweiten Teil, dem Erbvertrag, „als Witwe gegenüber ihren Kindern eine unanfechtbar starke Stellung“ einräumen ließ (S. 30f.). Materielle Vorsorgeinteressen der Familie für den Fall des späteren, nicht ganz unwahrscheinlichen Ausbruchs einer psychischen Erkrankung bei Marianne seien vermutlich im Hintergrund dieser Regelungen gestanden.

 

Die aktuelle Edition lässt Voreditionen, namentlich die von Marianne Weber 1936 herausgegebenen, bislang gemeinhin benutzten „Jugendbriefe“, unter Hinweis auf dort vorhandene Fehllesungen, falsche Datierungen, nicht ausgewiesene Kürzungen und Verschreibungen von Namen unberücksichtigt, stellt aber im Anhang dennoch eine Seitenkonkordanz der beiden Ausgaben zur Verfügung. Erstmals publiziert werden Max Webers Korrespondenzen mit der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und dem leitenden Hochschuldezernenten im preußischen Kultusministerium Friedrich Althoff, die wichtige Quellen zu seiner wissenschaftlichen Laufbahn darstellen, sowie seine bedeutsamen Briefe an Wilhelm Liebknecht und Georg von Vollmar sowie an Heinrich Sohnrey und Otto Ammon. Insgesamt dürfe „davon ausgegangen werden, daß die erhaltenen Briefe nahezu vollständig in die Edition eingegangen sind“ (S. 34). Ein ausführlicher Hilfsapparat bemüht sich die Bedürfnisse des Nutzers bestmöglich zu befriedigen. Der Einleitung vorangestellt sind ein chronologisches Verzeichnis der Briefe (mit genauem Datum, Ort, Empfänger und Seitenverweis) – Informationen, die im hinteren Teil des Bandes durch ein alphabetisches Register der Briefempfänger (Name des Empfängers, Daten und Seitenverweise) noch einmal in anderer Form aufgeschlossen werden –, ein Index der Siglen, Zeichen und Abkürzungen sowie eine ganzseitige Fotografie der Eheleute Weber aus dem Jahr 1893. Grundlegende Hinweise zur mit Hilfe jeweils gesondert gezählter Fußnoten kommentierten Edition finden sich in der Einleitung, ergänzt im Anhang um eine Darstellung des Aufbaus und der Editionsregeln der MWG Abteilung II „Briefe“. Das mit internen Querverweisen ausgestattete Personenverzeichnis gibt stichwortartig Informationen zu allen in den Briefen erwähnten Personen, vier Verwandtschaftstafeln gewährleisten den Überblick über die genealogischen Beziehungen der Familie Weber und ihrer Nachkommen seit Georg Friedrich Fallenstein (der Großvater mütterlicherseits von Max Weber) und Carl David Weber (der Großvater mütterlicherseits von Marianne Weber). Auf die Seitenkonkordanzen MWG II/2 – Weber, Jugendbriefe wurde bereits hingewiesen; zu erwähnen sind ferner ein Personenregister, ein Ortsregister und eine abschließende Gesamtzusammenstellung der Bandfolgen der drei Abteilungen der MWG.

 

Zweifellos stellt die so vorbildlich aufbereitete, nur eines Sachregisters entbehrende Briefedition jedermann, der sich mit Max Weber als Mensch und Wissenschaftler auseinandersetzt, wertvolles, nun leicht greifbares Material zur Verfügung. Publikationen wie Hinnerk Bruhns‘ Studie zu „Max Weber und der Erste Weltkrieg“ (2017), die zwar noch nicht auf den aktuellen Briefband, wohl aber auf bereits zuvor erschienenes Briefmaterial der MWG zurückgreift, belegen schon jetzt diesen Sachverhalt. Ob damit tatsächlich ältere Ausgaben wie die „Jugendbriefe“ gänzlich obsolet geworden sind, wird sich erst erweisen, denn Fehler sind auch in sorgfältig erarbeiteten Neueditionen nie völlig auszuschließen. So musste Bruhns in seiner erwähnten Schrift mit Bezug auf einen in MWG I/15 „Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918“ (1984) enthaltenen Zeitungsbericht feststellen, dass die Herausgeber des betreffenden Bandes der MWG „den fehlerhaften Text […] weder signalisiert noch korrigiert haben“ (Bruhns, Max Weber S. 39).

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic