Visionen eines zukünftigen Deutschlands - Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49. Mit einer Einführung und Annotationen hg. v. Dippel, Horst. Band 1 Einführung, Band 2 Textedition, Teilband 1 März-Juni 1848, Teilband 2 Juli 1848-Mai 1849. Duncker & Humblot, Berlin 2017. XVI, 278, VII, 1-753, VI, 755-1472 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Das „größte Defizit“ der Verfassungsdiskussion ist nach Horst Dippel (bis 2009 Professor für British and American Studies an der Universität Kassel) die „bislang völlige Ausblendung des innerdeutschen Diskurses über die Verfassungsvorstellungen der Paulskirchenmehrheit und die zu diesen deutschlandweit vorgebrachten alternativen Vorstellungen“ (S. VII). In seinem Werk untersucht Dippel in Band 1 100 Flugschriften und Petitionen, die sich mit der „zukünftigen verfassungsmäßigen Gestaltung Deutschlands“ 1848/1849 beschäftigen und die in den Bänden II 1 und 2 veröffentlicht werden (insgesamt 1472 S.). Nicht berücksichtigt wurden die Zeitungen dieser Jahre. Die Auswahl aus fast 17.000 Schriften (S. 26, Fn. 72, 73) erfolgte nach drei Kriterien (S. 28): Sie mussten entweder einen eigenständigen Verfassungsentwurf enthalten (oder in der Form eines Forderungskatalogs abgefasst sein) oder in einem Fließtext verfasst sein, der, ohne auszuufern, immer noch die Grundlinien einer Verfassungsstruktur erkennen ließ, oder Texte enthalten, die sich mit den drei Grunddokumenten (Siebzehnerentwurf, Gesetz über die Grundrechte und Frankfurter Rechtsverfassung) auseinandersetzten. Bei 21 der editierten Texte handelt es sich um Handschriften, die als Eingaben an den Verfassungsausschuss der Nationalversammlung adressiert waren bzw. an diesen weitergeleitet wurden (S. 29). Nach Meinung Dippels dürften die 100 Texte „einen repräsentativen Querschnitt der deutschen Verfassungsdiskussion der Revolutionszeit“ darstellen (S. 29). In Teil 2 des Einführungsbandes untersucht Dippel zunächst das biografische Profil der 65 namentlich bekannten Autoren, und zwar zunächst deren örtliche Herkunft. Das Gros der Texte stammt aus dem mittleren Deutschland (einschließlich Berlin), die meisten Autoren kamen aus Städten, nur 12 aus einem ländlichen Umfeld. Es folgen Ausführungen über die Ausbildung der Autoren, wobei eine Dominanz von Juristen (75% der Autoren) festzustellen war.

 

Das Sozialprofil des durchschnittlichen Autors der Schriften ist darin zu sehen, dass dieser „aus einem deutschen Mittel- oder Kleinstaat stammte, über 40 Jahre alt und protestantisch war, Rechtswissenschaft studiert hatte und vom Staat besoldet wurde“ (S. 39). Die Eingaben an die Frankfurter Nationalversammlung und die Entwürfe werden chronologisch nach ihrem Erscheinungsdatum wiedergegeben und zwar für folgende Zeitabschnitte: März-April 1848 (frühe Entwürfe), Mai-Juni 1848 (Zeit des Siebzehnerentwurfs), Juli-Dezember 1848 (Reaktionen auf die Verfassungsberatungen der Paulskirche), Juni 1848-März 1849 (die Diskussion um die Grundrechte) und Februar bis Mai 1849 (Debatte um die Paulskirchenverfassung). Aus den wiedergegebenen Texten kristallisierten sich nach Dippel vier Verfassungstypen heraus (anders als die bisherige Anordnung, die zu stark auf die Reichsverfassung von 1871 ausgerichtet war): Die konstitutionelle Monarchie als nur wenig modifizierte Variante des Bestehenden, die parlamentarische Monarchie der vielfach oppositionellen Liberalen, die Verfassung des modernen Konstitutionalismus einer „breiten liberaldemokratischen Schicht“ und die Verfassung des „souveränen Volkes der linken Demokraten“ (S. 40ff. und die Verlagsinformationen). Welche der 87 Eingaben und Entwürfe (unter Nichtberücksichtigung der Stellungnahmen zu den Grundrechten) zu den vier Verfassungsentwürfen gehören, listet Dippel in dem Anhang II auf (S. 249f.). Hiernach sind der „konstitutionellen Monarchie“ 40 Entwürfe und vier Eingaben, der „parlamentarischen Monarchie“, 13 Entwürfe und zwei Eingaben, dem „modernen Konstitutionalismus“ sechs Eingaben und zehn Entwürfe sowie der „Verfassung des souveränen Volkes“ 5 Eingaben und vier Entwürfe zuzuordnen. Drei Stellungnahmen ließen sich nicht einer der vier Gruppen zuordnen. Einige der Stellungnahmen waren nur unter Einschränkungen in eine der vier Kategorien einzugruppieren.

 

In dem umfangreichen Teil III des Einleitungsbandes (S. 40-178) geht Dippel zunächst auf die vier Verfassungsmodelle entsprechend der vorgenommenen Zuordnung näher ein. Für die konstitutionelle Monarchie sprachen sich 31 namentlich bekannte Autoren aus, für die parlamentarische Monarchie traten 15 Eingaben ein, u. a. Friedrich Karl Diedermann und Michael Wilhelm Joseph Behr. Bei diesem Modell spielte die Frage der Bestellung, des Amtes und der Funktion des Staatsoberhauptes eine zentrale Rolle (S. 87ff.). Mehrheitlich traten die Autoren für eine zweigleisige Legislatur ein: ein Oberhaus (Senat) sollte die Einzelstaaten vertreten, für die „Volkskammer“ sollte grundsätzlich ein demokratisches Wahlrecht gelten (S. 93). Für einen modernen Konstitutionalismus traten eindeutig 12 Eingaben ein; bei vier weiteren waren die Autoren nicht hinreichend präzise (S. 104ff.). Nach Dippel unterschieden sich die Befürworter der modernen Demokratie von den beiden ersten Modellen deutlich, „indem sie sich offen für eine republikanische Staatsform zeigte(n) und Fürsten bestenfalls zu akzeptieren bereit war(en), wenn diese sich strikt unter die Verfassung einordneten“ (S. 136). Für eine Verfassung des souveränen Volkes (S. 136ff., u. a. Wahl des Staatspräsidenten durch das Volk; Einkammersystem; noch keine konkreten Forderungen nach einem Frauenwahlrecht) traten neun Eingaben und Entwürfe ein, darunter Julius Fröbel, der als Mitglied der Nationalversammlung zu den Linken (Donnersberg) gehörte, und Gustav Struve, der von Baden aus für die radikale Republik auf der Basis der Volkssouveränität eintrat. Beide flohen in die Schweiz und hielten sich jeweils mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten von Amerika auf. Der Abschnitt über die Diskussion der Grundrechte umfasst 13 Stellungnahmen, die z. T. sehr umfangreich sind, wie die Stellungnahme Theodor Mommsens (Bd. II 2, S. 952-1007; vgl. Bd. I, S. 165). Dippel stellt heraus, dass die Kritik im Wesentlichen rezeptiv sei und dass weniger von Menschenrechten als von Bürgerrechten gesprochen worden sei, und sieht hierin eine „einschneidende konzeptionelle Schwäche“ der „Zukunftsvorstellung für Deutschland“ bei der dritten und vierten Verfassungskonzeption (S. 178).

 

Der Einleitungsband wird abgeschlossen mit einer Schlussbetrachtung (S. 179-191). Im Einzelnen rügt Dippel das Fehlen einer „wirklich tragfähigen Definition des Bundesstaates und seiner politisch-rechtlichen Ausgestaltung gemeinsam mit einer ausgewogenen Bestimmung und Stellung der Rolle der Einzelstaaten“ (S. 184). Kaum berührt worden sei die Frage, „in welcher Weise die künftige definitive deutsche Reichsregierung eigentlich wirksam werden, namentlich durch welche Organe sie ihre Beschlüsse und Anordnungen realisieren“ sollte (S. 187, entsprechend einer Eingabe Friedrich Krafts von 1849). Es sei darauf hingewiesen, dass von einigen Autoren zwei Stellungnahmen vorliegen (Fischer, Fick und David Hansemann, der bis Anfang September 1848 dem preußischen Märzministerium angehörte). Der in Bd. II 1 abgedruckte „Entwurf Bayern“ (S. 292ff.) war als Gegenentwurf zum Siebzehnerentwurf von der bayerischen Regierung am 28. 4. 1848 beschlossen worden. Der als „Entwurf für das bayr. Volk“ wiedergegebene Text von Mitte April 1849 (S. 1422) ist dagegen nicht der bayerischen Regierung zuzuordnen. Dass für den Textteil kein Sachregister angefertigt wurde, ist einsichtig, da es grundsätzlich ausreicht, dass Dippel die einzelnen Stellungnahmen einer der vier Verfassungsmodelle zugeordnet hat. Dagegen wäre ein Personen- und Sachregister für den Einführungsband sehr hilfreich gewesen. Insgesamt liegt zusammen mit der breiten Einführung und den beiden Quellenteilen ein bedeutendes Grundlagenwerk vor, das auch für den Rechtshistoriker von großer Wichtigkeit ist. Es ist zu wünschen, dass die vier von Dippel herausgearbeiteten Verfassungsmodelle auch in der Verfassungsrechtsgeschichte beachtet werden. Insgesamt finden sich in dem edierten Quellenkorpus „wesentliche Elemente unseres heutigen Verfassungslebens gebündelt“, wie „es dies bis zu diesem Zeitpunkt in der deutschen Geschichte nicht gegeben hat“ (S. 27).

 

Kiel

Werner Schubert