Vasold, Manfred, Hunger, Rauchen, Ungeziefer. Eine Sozialgeschichte des Alltags in der Neuzeit. Steiner, Stuttgart 2016. 424 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Erforschung der Urgeschichte und der Frühgeschichte des Menschen ist seit jeher eine Domäne der Alltagsgeschichte. Die wenigen materiellen Hinterlassenschaften, die aus jenen frühen Perioden des Menschen auf uns gekommen sind, geben im Wesentlichen Anlass zu mehr oder weniger plausiblen Rückschlüssen auf sein tägliches Leben. Mit dem stetig zunehmenden Grad an Organisation und der Entwicklung der Schrift wechselten auch die Inhalte der Überlieferung, berichtet wurde nun hauptsächlich von den Ideen und Großtaten berühmter Männer, von mächtigen Reichen und ihrer Administration. Die Geschichte der Antike bis zur Gegenwart war somit in den Augen der Geschichtsforschung überwiegend politische Geschichte oder Geistesgeschichte, und es bedurfte der kräftigen Impulse sozialistischer und marxistischer Lehren, dafür zu sensibilisieren, dass die Geschichte der Menschheit in quantitativer Hinsicht vornehmlich eine Geschichte jener vielen ist, die lange zumeist nur als Manipulationsmasse der Großen wahrgenommen wurden. In der sich mit dem frühen 20. Jahrhundert herausbildenden Sozialgeschichte können grob zwei fundamentale Richtungen unterschieden werden: eine stark theorielastige, deren Interesse der Wirkmacht struktureller Bedingungen gilt, und eine an der Praxis des täglichen Lebens orientierte Alltagsgeschichte, wie sie in Frankreich von den Vertretern der Schule der Annales im Sinne ihres Ideals einer allumfassenden histoire totale erstmalig im größeren Umfang betrieben worden ist. Diese zweite Richtung der Sozialgeschichte fragt also, kurz gesagt, danach, wie der Durchschnittsmensch in seiner jeweiligen gesellschaftlichen Schicht zu seiner Zeit lebte, welche Leiden ihn dabei plagten, welche Freuden ihn aufrecht hielten. Hunger, Krankheit und Tod sind dabei existenzielle Konstanten, die den Menschen stets aufs Neue bedrohen.

 

Diese Inhalte sind auch der Gegenstand des vorliegenden Bandes, der einige auch oder ausschließlich in der Neuzeit auftretende Phänomene aufgreift und in ihren Dimensionen auszuloten versucht. Der 1943 in Nürnberg geborene, 1978 in Erlangen promovierte Manfred Vasold hat schon verschiedene Publikationen mit historischer Thematik auf den Weg gebracht, einen besonderen Schwerpunkt bilden dabei Schriften zur Geschichte der Medizin. So hat Vasold in der von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß herausgegebenen „Enzyklopädie des Nationalsozialismus“ (1997) den Beitrag zum Stichwort „Medizin“ verfasst und in eigenständigen Veröffentlichungen dann vor allem die Geschichte von Krankheiten epidemischen Charakters wie der Pest, der Cholera oder der Grippe erforscht. Die vorliegenden Ausführungen sind durch entsprechende Literaturbelege gestützt, in einem leichtfasslichen Ton vorgetragen und folgen keiner allzu strengen wissenschaftlichen Systematik.

 

Eine Zusammenführung der einzelnen Themen des Bandes (die in ihrem Umfang umstrittenen Bevölkerungsverluste infolge des Dreißigjährigen Krieges, die Kausalität zwischen klimatisch bedingter allgemeiner Not und der Französischen Revolution, Größenwachstum und Lebenserwartung des Menschen als sich verändernde, ernährungsabhängige Parameter, Fragen der Hygiene wie Ungeziefer und Bekleidungsgewohnheiten, ein Vulkanausbruch 1815 auf der indonesischen Insel Sumbawa und dessen Auswirkungen hinsichtlich Klima und Ernährungslage in Europa, schwere bis lebensbedrohende Erkrankungen von Arbeitern im Zuge der Industrialisierung durch fehlende Schutzmaßnahmen, die Säuglingssterblichkeit, der Einfluss der Spanischen Grippe auf den Ausgang des Ersten Weltkriegs, das Rauchen sowie die Suizidrate) ist der Einführung vorbehalten; hier wird auch das Anliegen des Verfassers artikuliert: „Es geht um die Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt und zwar in unseren Breiten, in Mitteleuropa. […] In der Geschichte des Alltags, gerade dort, wo es um die Befriedigung der Grundbedürfnisse geht, hat es gewaltige Veränderungen gegeben. Das Buch erzählt von den Menschen und wie sie sich in ihrer Umwelt – und gegen ihre Umwelt – zu behaupten versuchen. Es erzählt über die Zeit vor und während der Industrialisierung, ein wenig auch von der Zeit danach“ (S. 8). Ein zentrales Element ist im Gesamtzusammenhang stets die Frage nach den Ernährungsgrundlagen, von deren Verfasstheit Gesundheit, Belastbarkeit und Lebenserwartung des Einzelnen ebenso abhängig waren wie die Stabilität des Gemeinwesens.

 

Selbst das verhängnisvolle Kulturphänomen des Tabakrauchens knüpft an diesem Punkt an; da es chronologisch die gesamte Neuzeit bis zur Gegenwart abdeckt, sei hier auf den Beitrag „Qualmen gegen alle Vernunft. Eine sehr kurze Geschichte des Rauchens“ (S. 347ff.) exemplarisch etwas näher eingegangen. Schon die Ureinwohner der Neuen Welt hätten gewusst, „dass Rauchen eine beruhigende Wirkung zeigt und auch den Hunger dämpft. Das war in Zeiten, als man oftmals nicht genug zu essen hatte, nicht unwichtig“ (S. 348). Diese Eigenschaften des Tabaks wurden später auch in europäischen Kriegen geschätzt, wenn etwa während des Ersten Weltkriegs Rauchwaren als „Liebesgaben“ aus der Heimat die Truppe erreichten: „Allgemein hieß es: Tabak beruhigt die Nerven, und das konnten die Soldaten brauchen. Tabakgenuss dämpft zudem den Hunger, und an der Front dämpfte der Tabakqualm außerdem die Verwesungsgerüche“ (S. 359f.). Aber auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg galt, dass Rauchen „den hungrigen Magen beschwichtigt, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland so verbreitet war“ (S. 371). Obwohl „seit den 1970er-Jahren das Rauchen in den westlichen Nationen ab(nahm) […,] nahm es in anderen Teilen der Welt dramatisch zu, vor allem in Afrika, Asien und Lateinamerika“ (S. 383). Neben dieser substituierenden Funktion des Rauchens berührt der Beitrag selbstverständlich auch weitere, mit dem Tabakkonsum untrennbar verbundene Aspekte, vor allem seine wirtschaftliche Bedeutung und die aggressive Werbung der Konzerne, das Rauchen als Modeerscheinung, den Suchtcharakter und die gravierenden medizinischen Folgen, schließlich auch Widerstände und rechtliche Implikationen. Man mag es dem Verfasser als kleinen Mangel ankreiden, dass er es unterlässt, diesen Fragenkomplexen in Form durchgehender thematischer Längsschnitte nachzugehen, und entsprechende Informationen stattdessen isoliert über den gesamten Beitrag streut. So erfährt man an einer Stelle von der Klage des US-Justizministeriums gegen „den Tabakhersteller ‚Duke‘ aufgrund des Sherman Antitrust Act von 1890 ob seiner monopolartigen Stellung“ und dass „(i)m Mai 1911 der Oberste Gerichtshof der USA (entschied), diesen Firmenkomplex aufzulösen“ (S. 356), an einer anderen, dass während der Weimarer Republik „immer wieder Streitfälle […] vor Arbeitsgerichte kamen“, wo es mitunter darum ging, „ob ein Arbeiter bei einer diffizilen Arbeit an einer Maschine nebenher rauchen durfte“ (S. 362), und wieder an einer anderen Stelle wird die Frage gestellt, ob man aus Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes folgern dürfe, „dass die Regierenden die Bürger über die Schädlichkeit des Passivrauchens zumindest aufklären müssen oder, noch besser, sie davor warnen“ (S. 379). Diese Hinweise bieten sich für eine systematische Verfolgung geradezu an und könnten durchaus weiterführende Spezialstudien anregen.

 

Insgesamt gesehen bietet Manfred Vasolds neues Buch viele anregende Informationen und Überlegungen, die zum kritischen Denken motivieren. So offenbart der letzte Beitrag des Bandes, der sich mit dem Phänomen des Suizids auseinandersetzt (S. 389ff.), wie gering hier noch das Wissen über die Kausalzusammenhänge und wie groß der Bedarf an überzeugenden Erklärungsmodellen ist. Laufend tun sich dort, wo Gewissheiten vermutet werden, Widersprüche auf: So wird an mehreren Stellen mit Thomas Nipperdey argumentiert, dass aus bestimmten Gründen unter Lutheranern „die Suizidanfälligkeit höher als unter Katholiken“ sei (S. 395), aber dann anhand der Statistik festgestellt, dass im überwiegend katholischen Ungarn „die Suizidrate schon zu Beginn der 1920-er Jahre bei 27,0 [je 100.000 Einwohner] lag und bereits 1926 die Marke von 30,0 überstieg, die Deutschland wohl nicht einmal unter Hitler erreichte“, im ebenso katholischen Österreich erklomm die Selbstmordrate 1932 gar „die Quote von 40,0“ (S. 399). Vermutete Parallelitäten der Häufigkeit von Suiziden mit der Wirtschaftsentwicklung erwiesen sich empirisch ebenso als problematisch, wohingegen für Kriegszeiten tatsächlich ein Rückgang der Selbsttötungen nachzuweisen sei. Einer schlüssigen Erklärung harre vor allem noch die erfreulich starke Abnahme der Suizide in Deutschland seit 1977; in diesem Jahr stand die Rate „in der alten Bundesrepublik bei 22,7, heute liegt sie im wiedervereinigten Deutschland bei 12,4 – das ist ein Rückgang um weit mehr als vierzig Prozent in dreißig Jahren“ (S. 409). Was allerdings in diesem Kontext mit der thematisch deplacierten Bemerkung, dass „(n)och viel erstaunlicher […] der Rückgang bei den Verkehrstoten“ sei (S. 389), ausgesagt werden soll, bleibt wohl ein zu hinterfragendes Geheimnis des Verfassers.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic