Schrimm, Kurt: Schuld, die nicht vergeht – Den letzten NS-Verbrechern auf der Spur. Heyne, München 2017. 400 S.
Einer Anregung nach einer Fernsehsendung folgend schrieb Kurt Schrimm, der von September 2000 bis September 2015 Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg war, in neun Kapiteln mit einem Prolog und einem Fazit über seine Arbeit in der Zentralen Stelle und über andere Aspekte seiner Tätigkeit als Staatsanwalt. Im Prolog beschreibt er bewegend die Vernehmung einer Zeugin in New York, die ihre Zufriedenheit über die Tatsache ausdrückte, dass erstmals nach vierzig Jahren ein offizieller Vertreter des deutschen Staates sie nach ihrem Schicksal fragt und dafür zuhören will. „… egal, ob Sie den Schwammberger einsperren oder nicht. Ich kann jetzt ruhig sterben“. Im Kapitel 1 (S. 13 – 25) beschreibt der Autor seinen Lebensweg seit 1949, der ihn 1982 zur Zentralen Stelle führte. Aus späteren Hinweisen ist zu ergänzen, dass ihn das Schicksal seines 1943 verstorbenen Großvaters, der zu Anfang der nationalsozialistischen Zeit als Kommunist in einem der frühen Konzentrationslager war, bewog, die Perspektive der nationalsozialistischen Opfer im Bewusstsein zu halten. Hieraus war ihm ‚die Schuld, die nicht vergeht‘ ein Antrieb für sein Handeln. Bei der Feier aus Anlass des 50-jährigen Bestehens konnte er in ‚seiner Behörde‘ den Bundespräsidenten begrüßen und durfte später mit dem Bundespräsidenten Gauck Strafverfolger in Argentinien in der Verfolgung lang zurück liegender Straftaten schulen. Seine eigenen Qualitäten sucht der Verfasser an zahlreichen Stellen des Buches ins richtige Licht zu setzen (wie etwa S. 289) ‚Dann fragen Sie den Kollegen S‘. Kapitel 2 (S. 26 – 48) schildert die Gründe für die Strafverfolgung von Tätern, deren Taten 70 Jahre zurück liegen. Das Für – und – Wider einer Verfolgung sei nach seinen Beobachtungen gleichmäßig in der deutschen Bevölkerung verteilt, auch wenn es hierfür keine belastbare Umfragen gebe. Gerade bei jungen Leuten fand er häufig die Frage nach dem Sinn einer Verfolgung nach so langer Zeit. Ihm stellt er die Sicht der Opfer entgegen, für die immer eine Verfolgung sinnvoll und notwendig sei. Im Kapitel 3 (S. 49 – 83) sucht er eine Gegenüberstellung der Ermittlungen früher und heute zu geben. Sein Überblick über die Tätigkeit in der Zeit seiner Amtsvorgänger Schüle, Rückerl, Streim und Dreßen wird deren Verdiensten nur in Ansätzen gerecht. Sie haben mit den geringen Möglichkeiten, die ihnen Zeit und Zeitumstände bereitstellten Großes geleistet. Auf ihren Arbeiten beruht der gute Ruf, dessen sich die Zentrale Stelle erfreuen darf. Besonders Rückerl und Streim haben ihre Aufgaben so wahrgenommen, dass sie schließlich darüber ihre Gesundheit verloren. Sie wenigstens in seiner Arbeit zu nennen und zu würdigen, wäre eine Frage des Anstandes gewesen. Sein Vorgänger Dreßen hat alle Vorbereitungen getroffen, damit die Zentrale Stelle für die Zukunft mit dem Bundesarchiv auf der Grundlage einer Verwaltungsvereinbarung zusammenarbeiten kann. In die Anfangszeit von Schrimms Tätigkeit fällt der Anfang der Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle der Universität Stuttgart. Hierüber und die dabei erzielten Ergebnisse hätte der Leser durchaus informiert werden sollen. Ein Zeitraum von 16 Jahren für diese neue Aufgabenstellung wäre wohl ausreichend gewesen Erfahrungen zu vermitteln. Stattdessen schildert der Verfasser die von ihm nach Amtsübernahme eingeleiteten Bemühungen um eine bessere technische Ausstattung der Zentralen Stelle und einen Neuanstrich der Diensträume. Erfreulich ist es, dass alle Justizminister, mit denen er zusammenarbeitete, die Arbeit der Zentralen Stelle überaus wohlwollend und effizient unterstützt haben. Ein kleiner Exkurs auf Sonderwünsche des Landesrechnungshofes ist zwar für diesen peinlich, jedoch war es im Ergebnis wenig störend. In Kapitel 4 (S. 84 – 196) beschreibt Schrimm der Öffentlichkeit zugewandt die ‚Größten Erfolge‘. Es ist eine detailverliebte Schilderung der Verfahren gegen Josef Schwammberger, Julius Veil, Alfons Götzfrid und John Demjanjuk. In diesem Kapitel ist nicht ersichtlich, nach welchen Kriterien der Verfasser die Familiennamen nennt oder sie mit dem ersten Buchstaben abkürzt. Das Urteil gegen John D. wurde ebensowenig rechtskräftig wie gegen Julius V. Veil gilt als ebenso unschuldig wie nach ihm Demjanjuk. In der Zeit seiner Amtsvorgänger gab es eine Vielzahl von Verurteilungen von Männern, die ähnliche Taten verübt hatten wie die vier Genannten. Die Ermittlung, Ergreifung und Verurteilung unterschied sich kaum von diesen Verfahren. Organisationsversagen kann vermutet werden, wenn es bei der Zentralen Stelle nur eine Person in Württemberg gibt, die ein anhängiges Verfahren gerichtlich begleiten kann (S. 136). In seiner Schilderung der Verhandlung bedauert Schrimm, dass ihm, als kärglich besoldeten Oberstaatsanwalt, nicht genehmigt wurde, zwischen Verhandlungstagen aus der Staatskasse eine Hotelübernachtung erstattet zu bekommen (S. 137). Unerfreulich ist es, wie er einen in der Sache tätigen Rechtsanwalt in Oberlehrermanier zensiert (S. 140). Der später tätige Verteidiger Ingo Pfliegner (1945-2015), der die Motive des Anzeigeerstatters und einzigen Tatzeugen Lallier während des Prozesses bezweifelt hatte, wird durch Schrimms Schilderung im Nachhinein bestätigt (S. 149): Lallier wurde wegen seiner ehemaligen SS-Zugehörigkeit der Zugang zur Universität in Montreal verweigert und er durfte eine Gastvorlesung nicht fortsetzen. Wohl nur Lallier weiß, welches Unheil sich schon 1998 über ihm zusammenbraute und erst 2002 zum Ausbruch kam. Die Schilderung Schrimms der eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit Veils weckt erhebliche Zweifel daran, ob es mit der ärztlich festgestellten sehr eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit pro Tag vereinbar war, ihn einem sehr eng bemessenen Verhandlungsmarathon zu unterziehen. Leider geht der Verfasser nicht auf die Kritik ein, die gerade Gisela Friedrichsen, eine erfahrene Gerichtsberichterstatterin, an dem Verfahren gegen Veil geübt hat, er nennt noch nicht einmal die Veröffentlichung im SPIEGEL Nr. 9 / 2002. Im Verfahren gegen John D. setzt sich der Verfasser mit Argumenten des Nebenklagevertreters Nestler auseinander und beendet seine Argumentation wenig souverän mit ‚Armselig !‘ Zwischenzeitlich erreichte dieser Nebenklagevertreter, dass ein Verfahren gegen einen 1921 geborenen Angeklagten am Landgericht Neubrandenburg wegen Befangenheit der dortigen Richter beendet und der Angeklagte außer Verfolgung gesetzt wurde. Erstaunlich ist, dass unter die Erfolge nicht die Verurteilung Oskar Grönings, geb. 1921, gerechnet wird, der noch während der Dienstzeit Schrimms mit einer Begründung, die an das Münchener Urteil gegen D. erinnert, zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt wurde. Der die Verurteilung bestätigende Beschluss vom 20. 9. 2016 (3 StR 49/2016) wird für die noch anstehenden Verfahren von maßgeblicher Bedeutung sein. Die ‚Größten Misserfolge‘ schildert Kapitel 5 (S. 197-240). Fraglich erscheint es, den 1983 rechtskräftig Freigesprochenen K. W. P. in dem gesamten Buch an zahlreichen Stellen mit seinem vollen Namen zu bezeichnen. Wenn sein Freispruch auch den Verfasser wohl noch jetzt kränkt, ist dies kein Grund den zwischenzeitlich sicher Verstorbenen mit seinem vollen Namen zu nennen. Es ist bedauerlich, dass der Verfasser das Persönlichkeitsrecht leichtfertig missachtet. Bei dem im Jahre 2003 verstorbenen Alois Gabrysch (S. 210) sucht zwar der Verfasser die Persönlichkeitsrechte zu wahren, jedoch veröffentlicht er so viele Details zur Person, dass bereits eine flüchtige Suche im Internet die gemachten Angaben nur einer Person zuordnen lässt. Bei der Schilderung des Lebenslaufes von G. ist seine Teilnahme an einem Lehrgang an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin-Charlottenburg erwähnt. Ein weiterer Lehrgangsteilnehmer, Paul D., war nach 1945 maßgeblich am Aufbau des Bundeskriminalamtes beteiligt. Schrimm schreibt nicht, ob gegen die Lehrgangsteilnehmer der Führerschule systematisch ermittelt worden ist, sicher wäre dies ein erfolgversprechender Ermittlungsansatz gewesen, wie dies die Verleihungslisten der Träger des Kriegsverdienstkreuzes waren. Das ihm als Kriminaldirektor a. D. verliehene Bundesverdienstkreuz (S. 214) gab G. 1998 zurück, 2003 verstarb er, der Verfasser hätte diese nicht unwichtigen Details durchaus erwähnen sollen, sie waren sicher ebenso wichtig wie die Suche nach der grünen Versicherungskarte an der Grenze nach Slowenien (S. 219). Bei Dr. Johannes Thümmler (S. 225) gilt wie vorher, dass die genannten Details im Internet sogleich zu seiner Person führten; es fragt sich, ob aus dem Verfahren nach so langer Zeit noch solche Details genannt werden dürfen, die geeignet sind, zu einer Bloßstellung eines Nicht-Verurteilten zu führen, der 2002 am Bodensee verstorben ist. Der Bericht über den ersten Besuch im Lager Auschwitz (S. 229), der 1997 stattfand, gibt in Verbindung mit anderen Angaben Schrimms Anlass zu Gedanken über die Vorbereitung von Nachwuchskräften bei der Bearbeitung von NSG-Verfahren. Wenn es auch schon 1982 nicht schwierig war, das Lager Auschwitz zu sehen, so ist es schwer verständlich, dass eine Person, die derartige Verfahren bearbeitet, erst so spät ein Lager besucht, das wie wenige andere Plätze für die Verfahren steht. Im Kapitel 6 ‚Gibt es den typischen NS-Verbrecher?‘ (S. 241-270) sucht der Verfasser die von ihm gestellte Frage zu beantworten. Anhand seiner wenigen Beispiele will er für diese überaus schwierige Frage eine Lösung finden, was ihm, wie auch vielen seiner Vorgänger, nicht gelungen ist. Zwischen den Polen des sadistischen Täters und dem aus ideologischer Verblendung Handelnden gab es eine weite Motivfülle. Ein Ansatz erscheint in der Diskussion zu selten: Ausgehend vom Alter der Täter zur Tatzeit, meist gehörten sie den Geburtsjahrgängen 1900-1915, später bis hin zu 1921, an erscheint der folgende Versuch einer Begründung bedenkenswert. Ohne Eingliederung in den Vernichtungsapparat hätten sie –soweit sie kampftauglich waren- einen Kriegseinsatz mit hohem Tötungsrisiko befürchten müssen. Als Angehörige des Unterdrückungsapparats und als Beteiligte bei den Massentötungen in Lagern oder Einsatzgruppen hatten sie ein sehr viel geringeres persönliches Risiko zu tragen. Dessen waren sie sich bewusst und diese Stellungen wollten sie möglichst bis zum Abschluss des Krieges behalten. Viele Täter waren verheiratet und hatten Kinder, wie fern liegt die persönliche Entscheidung: warum soll meine Frau Kriegerwitwe werden? Von wem ist in einem Strafverfahren zu erwarten, besonders wenn er sich einem ‚Orden‘ zugehörig fühlte, dass er als Tatmotiv sagte: ‚Ich war zu feige bei den Tötungen nicht mehr mitzumachen, weil ich dann gefahrvolle Kämpfe hätte mitmachen müssen‘. Stattdessen wird es doch sehr viel lieber geglaubt, wenn als Tatmotiv innere Überzeugung und ideologische Verblendung genannt wird. Der Druck durch drohende Strafverfahren seit Aufhebung der Verjährung für Mordtaten hat nicht geholfen, dass Tatbeteiligte ihre wahren Motive als Teilnehmer an den Taten dokumentiert haben. Diese Begründung überzeugt bei einer geringen Anzahl der Angeklagten nicht, zu ihnen gehören die ‚Trawniki‘. Sie taten sich bei ihrer Verteidigung schwer und machten dann Fehler, die zur Verurteilung führen konnten. Nicht umsonst schildert Schrimm die Fälle D. und Götzfrid. Gerade bei Götzfrid ist fraglich, ob seine Äußerung zu den sowjetischen Unterlagen so prozessentscheidend gewertet werden durfte. Das Kapitel 7 zeigt ‚Schwierigkeiten bei der Wahrheitsfindung‘ (S. 271-317) auf, die seit Kriegsende in verschiedenen Veröffentlichungen dargestellt wurden. Schrimms Erkenntnisse dazu bestätigen lange Bekanntes. Dr. Rosemarie Albrecht (1915-2008) ist wohl die letzte Angeklagte in einem Verfahren wegen der Anstaltsmassentötungen gewesen. Der Verfasser gibt in diesem Falle nicht an, ob und in welcher Form die Zentrale Stelle an diesem Verfahren beteiligt war. In Kenntnis der Versuche seit 1950, Angeklagte dieses Tatkomplexes zu verurteilen, muss es angesichts der vorliegenden Gutachten als ein untauglicher Versuch gewertet werden, das Verfahren zu betreiben. Ob es allein geschah, um dem untergegangenen System, in dem die Angeklagte bis 1989 wirken konnte, zu zeigen, wie man einen solchen Fall anfasst? Der Versuch misslang, wie es zu vermuten war; die Angeklagte erhielt im Ärzteblatt Thüringens 2008 einen Nachruf. Schrimm weist auf die seelische Belastung (S. 298) von Zeugen hin, die sich wegen einer emotionalen Belastung an Vorgänge nicht mehr erinnern oder erinnern wollen können. Es ist richtig und zu verstehen, dass diese Zeugen sich nicht mehr an die Ereignisse erinnern möchten. Die Erinnerung der Angeklagten und möglicherweise mit ihnen Tätigen ist sicher ähnlich belastend. Warum versteht man ihre Aussageweigerung nicht in gleicher Weise? Eine Äußerung Schrimms über die Vernehmungen bei israelischen Gerichten (S. 299) bestätigt eine Vermutung, die lange Jahrzehnte durch viele Verteidiger gehegt wurde, jedoch niemals so deutlich und sachkundig bestätigt wurde: Vor israelischen Gerichten hatten Zeugen auszusagen und Gerichte „scheuten sich in Einzelfällen auch nicht, Zwangsmaßnahmen anzuwenden oder zumindest anzudrohen“. Wann ihm oder seinen Vorgängern diese Erkenntnis offenbar wurde, wird nicht dargelegt. Ebensowenig wird gesagt, welche Maßnahmen die Zentrale Stelle getroffen hat, derartige Einwirkungen auf Zeugen, die mit dem deutschen Strafprozessrecht unvereinbar sind, prozessual zu unterbinden. Der Schritt von einem Quasi-Zwang zu einer Aussage zum Zwang zu einer „richtigen“ Aussage ist minimal. Jedem Verteidiger in einem heutigen Strafverfahren dieser Art mit Zeugen aus Israel sollte diese Aussage Schrimms, der sicher fern von Antisemitismus einzuordnen ist, Gold wert sein. Als Jurist ist es für den Rezensenten nicht nachvollziehbar, wieso Schrimm die Entscheidung des Gesetzgebers des Jahres 1979 für Totschlag die Verjährung nicht aufzuheben bezweifelt. Bei seinem Maßnahmegesetz war dem Gesetzgeber sicher bewusst, dass alle Totschlagsverbrechen der NS-Zeit spätestens 1969 verjährt waren. Für sie konnte eine Verlängerung der Verjährungsfrist keinen Einfluss mehr haben. Warum sollte der Gesetzgeber für verjährte Verbrechen die Verjährung aufheben? In Kapitel 8 (S. 318-356) behandelt Schrimm die Frage nach der Gerechtigkeit bei der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrecher. Das Kapitel beginnt mit der Schilderung eines Verfahrens, in dem der ehemalige Vorgesetzte der Angeklagten das Verfahren als Zeuge begleitete, denn er war von einem ‚SS- und Polizeigericht‘ im Jahre 1943 ‚verurteilt‘ worden. Die Frage, ob ein im Jahre 1943 tätiges ‚SS- und Polizeigericht‘ ein Gericht war, das dem Schutz des Grundgesetzartikels 103 unterfiel, stellt Schrimm überhaupt nicht. Nicht jede befehlsgebundene Einrichtung, die sich Gericht nannte, war ein solches. Gerade im Falle Huppenkothen hatte schon in früheren Jahren die Rechtsprechung Ansätze zu einer kritischen Hinterfragung erkennen lassen. Wenn eine Vertiefung dieser Überlegungen vor 1970 noch personellen Schwierigkeiten begegnet wäre, so sollte der Nachwuchs an Richtern und Staatsanwälten in den frühen 1980er Jahren problembewusster gewesen sein. Schrimms folgende Ausführungen zur Gerechtigkeit sind weitschweifend und beginnen erst wieder (S. 328) konkret zu werden, wenn sie die Änderung einer Rechtsprechung in den Blick nehmen. Die langjährige und schon früh fachkundig kritisierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Beihilfe zum Mord, die sich seit 1952 entwickelt hatte, führte zu einer zahlenmäßigen Beschränkung der Verfahren bei der Vielzahl der möglichen Täter. Wären in den Jahren vor 1985 sämtliche Personen verfolgt worden, die seit dem Beschluss im Falle Oskar Grönings verfolgt werden konnten, wäre die Justiz der Bundesrepublik in ungeahntem Maße auszubauen gewesen. Dieses Ergebnis wollte wohl niemand. Dadurch kam es Vielen entgegen, dass der Bundesgerichtshof eine Steuerung entwickelt hatte. Der weitere gesetzgeberische ‚Zufall‘ im Jahre 1968 schränkte nochmals die Zahl möglicher Verfahren ein und ließ besonders die Schreibtischtäter des ehemaligen Reichssicherheitshauptamts erleichtert aufatmen. Betrachtet man die Stellschrauben zur Beeinflussung der Verfahren, so ist Gerechtigkeit nur in Ansätzen zu erkennen. Als der Rezensent zu Beginn seiner Doktorarbeit Anfang der 1970er Jahre unbefangen den damaligen Leiter der Zentralen Stelle, Rückerl, fragte, wie lange wohl diese Verfahren geführt würden, erhielt er die ihn überraschende Antwort: ‚Sie werden so lange laufen bis in einem Verfahren der letzte aussagefähige Zeuge auf den letzten verhandlungsfähigen Angeklagten trifft‘. Gerade bei Besuchen der Verhandlungen gegen Veil und Demjanjuk hatte der Rezensent nicht mehr den Eindruck, als ob diese Angeklagten noch verhandlungsfähig seien. Seine Zweifel wurden durch das Verhalten eines in einer Verhandlung tätigen sehr beflissenen Arztes sicher nicht ausgeräumt. Bei derartigen Präsentationen der Angeklagten ist kein Strafzweck erkennbar, der ein solches Verfahren gerecht erscheinen lässt. Erheblichen Zweifeln begegnet es, wenn Schrimm (S. 334) das Ergebnis einer Abstimmung eines Kollegialgerichts über ein Urteil ausführlich bekannt gibt. Natürlich ist es verständlich, wenn sich der überstimmte Jungrichter noch lange über den erfahrenen Vorsitzenden ärgert, doch auch dann hat er zu schweigen, bislang schien das ein Grundsatz zu sein, der auch im Ruhestand gewahrt wurde. Dies ist für Schrimm nur die Einführung zu Überlegungen über die Frage der Behandlung von Juristen der nationalsozialistischen Zeit in späteren Jahren. Zu den schon lange bekannten Fakten fügt er keine neuen Gesichtspunkte aus der Ludwigsburger Zeit nach dem Jahre 2000 hinzu. Selbst bei der Frage wie sich ein Richter zu nationalsozialistischen Gesetzen hätte verhalten sollen, werden Allgemeinplätze widerholt. Wenn Schrimm bei Schilderung der Radbruchschen Formel nicht den Informationsstand eines Wikipedia-Artikels erreicht, zeigt er wiederum, dass Rechtsphilosophie nicht sein bevorzugtes Interessengebiet ist, Karl Mays Werke liegen ihm wohl näher. Der wenig aussagekräftige Hinweis in der Anmerkung zu Gustav Radbruch hätte wenigstens die Veröffentlichung nennen sollen, in der Radbruch seine Formel beschrieben hat. Im Schlusskapitel 9 ‚Kann unsere Arbeit dazu beitragen, künftig Verbrechen gleicher oder ähnlicher Art zu verhindern?‘ (S. 357-375) kommt Schrimm zu dem resignierenden, aber wirklichkeitsnahen Ergebnis, dass jemand, der eine Tat begeht, deren Motiv rational nicht nachvollziehbar ist, auch nicht abgeschreckt werden kann, schon gar nicht durch die Bestrafung anderer Täter. So verneint er weitgehend die Möglichkeit, die Arbeit der Gerichte und anderer Strafverfolger könnte direkten Einfluss auf künftige Täter haben. Leider übersieht er einen nicht unwichtigen Aspekt der Arbeit der Zentralen Stelle: Personen, die nicht unähnliche Straftaten begangen haben, sind durch die Tatsache, dass Schriftzeugnisse zur Überführung von Tatbeteiligten führen konnten, gewarnt, sie strengen sich an, bei ihrem Untergang Zeugnisse zu vernichten. Hatten dieses Unterfangen Personen in der nationalsozialistischen Zeit noch durch Verbrennen von Unterlagen im letzten Augenblick versucht, so hat es die Stasi wochenlang vor ihrem Ende systematisch betrieben, ihre besonders wichtigen Unterlagen durch Papierhäcksler zu vernichten. Schrimms Fazit (S. 376-383) endet resignierend mit Gedanken über die Schuld ‚ob gesühnt oder ungesühnt, vergangen ist die Schuld nicht‘. Leider enthält die Arbeit nichts zu der geänderten Aufgabe in der Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv, die seit dem Jahre 2000 Teil seiner Dienstaufgaben gewesen ist. Gerade hier hätte der Leser Informationen erwartet, die über die frühere Literatur hinausführten. Der erzählende Charakter des Buches wird durch das fehlende Personenregister noch unterstrichen.
Neu-Ulm Ulrich-Dieter Oppitz