Schlosser, Hans, Neuere Europäische Rechtsgeschichte (= Grundrisse des Rechts), 3. Aufl. Beck München 2017. XXVII, 461 S.
Bis zu dem zweiten Weltkrieg wurde Rechtsgeschichte vor allem aus nationaler Sicht dargestellt. Verstärkt widmeten sich seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts die Werke zur „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ (wozu auch die Darstellung des Autors in der Nachfolge Erich Molitors, Grundzüge der neueren Privatrechtsgeschichte, zuletzt 2005 gehört) dem europäischen Aspekt, der sich in erster Linie aus der gemeinsamen Grundlage vieler nationaler Rechte im römischen Recht ergab. Daneben stand die Rechtsvergleichung, die ohne den historischen Bezug nicht auskam. Beschränkte sich diese Erweiterung des Horizonts zunächst auf das Privatrecht, so rückten in der Folge auch andere Rechtsmaterien wie Strafrecht und Prozessrecht in den Mittelpunkt des Interesses. Lehrbücher zur europäischen Rechtsgeschichte entstanden jedoch erst in diesem Jahrhundert. Dass der erstmals 2012 erschienene Grundriss des Augsburger Rechtshistorikers nunmehr bereits seine dritte und deutlich erweiterte Auflage erlebt, belegt, dass sich er sich einer großen Nachfrage erfreut, und das mit Recht.
Der Verfasser beginnt sein 16 Kapitel umfassendes Lehrwerk mit der Benennung der tragenden Säulen der europäischen Rechtsarchitektur: dem Corpus iuris civilis, dem Corpus iuris canonici, dem daraus entwickelten Ius commune und schließlich der für die „historisch-ideologische Tiefenprägung des modernen Rechtsdenkens und Wertesystems“ entscheidend wirkenden Aufklärung. Die Ursache für die Rezeption des römischen Rechts sieht er im Versagen der auf Mündlichkeit, Gewohnheit und Gerichtsgebrauch gegründeten alten Ordnungswelt der überwiegend agrarisch geprägten Gesellschaften gegenüber der wachsenden Komplexität der sich differenzierenden Rechtsbeziehungen. In den folgenden Kapiteln beschreibt und analysiert er die Rechtsentwicklung vom spätantiken Vulgarrecht, dem im Hochmittelalter entstehenden Kirchenrecht über die Anfänge der wissenschaftlichen Bearbeitungen durch Glossatoren und Kommentatoren und den usus modernus in seinen regionalen Varianten. Daran schließt sich eine Darstellung der frühen Kriminalrechtswissenschaft und Kriminalgesetzgebung an, wobei Schlosser darauf hinweist, dass Johann von Schwarzenberg entgegen früherer Auffassung weder an der Bamberger Halsgerichtsordnung noch an der Carolina federführend beteiligt war. Besonderes eingehend befasst er sich mit der humanistischen Periode und der Naturrechtsphilosophie und der Vernunftrechtsphilosophie. Dabei widmet er sich ausführlicher Hugo Grotius und Christian Thomasius. Daneben erwähnt er die Beiträge einer Vielzahl bedeutender (so Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Christian Wolff, Charles de Montesquieu oder Cesare Beccaria) wie auch weniger bekannter Wissenschaftler (wie des Neapolitaners Giambattista Vico) und Praktiker (beispielsweise des Flamen Joos Damhouder). Im Kapitel über das Naturrecht geht er unter anderem auf die im Spanien des 16. Jahrhunderts geführten Kontroversen zur Rechtsstellung der amerikanischen und afrikanischen Urbevölkerung ein. Anschließend beschreibt und analysiert Schlosser die schon von Gottfried Wilhelm Leibnitz angeregte Entwicklung der Kodifikationen vom Codex Maximilianeus des Aloys Freiherrn von Kreittmayr – dessen Zivilkodex er anhand teilweise grotesker Beispiele als zeitentrückt und rückwärtsgewandt qualifiziert – über das Preußische Allgemeine Landrecht, den Französischen Code civil – der die Gesetzgebung vieler Staaten beeinflusste – , das österreichische ABGB bis zum durch den Kodifikationsstreit zwischen Friedrich Justus Thibaut und Friedrich Carl von Savigny sowie durch die Pandektenwissenschaft vorbereiteten Bürgerlichen Gesetzbuch. Das materielle Privatrecht behandelt der Verfasser nur am Rande (Eigentum und Vertrag, Eherecht und Kindschaftsrecht nach dem Zweiten Weltkrieg). Ausführlich stellt Schlosser daneben die Grundlagen des modernen Strafrechts in Deutschland von der Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts über das Reichsstrafgesetzbuch von 1871, den Missbrauch des Strafrechts im Nationalsozialismus bis zur Bewältigung des nationalsozialistischen Unrechts nach dem zweiten Weltkrieg dar. Neben dem wiederum als Vorbild wirkenden französischen Straf-recht und Strafprozessrecht aus den Jahren von 1791 bis 1810 hebt er Paul Johann Anselm von Feuerbachs Lehre von der Generalprävention durch die Strafandrohung und das von Feuerbach geprägte bayerische Strafgesetzbuch von 1813 hervor. Die Darstellung der Kodifikationsentwicklung in Frankreich, Österreich und Deutschland ergänzen Abrisse der Bestrebungen um entsprechende Gesetzbücher in der Schweiz, in Italien, den Niederlanden, Skandinavien, Russland bzw. der Sowjetunion und schließlich der Deutschen Demokratischen Republik. Ein eigenes Kapitel widmet der Autor dem englischen Recht, wobei er den Bogen von der normannischen Eroberung bis zur Arbeit der 1965 zur Kodifizierung des Common Law eingesetzten Law Reform Commission spannt und selbst den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union noch erwähnt. Zum mittelalterlichen Common Law weist er darauf hin, dass entgegen früherer Auffassung eine Beeinflussung durch das Ius commune vor allem über das kanonische Recht nachweisbar ist und Henry VIII. nach dem Bruch mit der katholischen Kirche das römische Recht (civil law) benutzte, um das Common Law zurückzudrängen. Unter den englischen Rechtswissenschaftlern (unter anderem Ranulf de Glanville, Henry de Bracton, William Blackstone) hebt er Jeremy Bentham und dessen Vorschläge zur Verbesserung des Gefängniswesens hervor und fügt eine kurze Geschichte der Freiheitsstrafe in Europa und Nordamerika ein. Dass Schlosser die Geschichte der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie besonders am Herzen liegt, zeigt sich im anschließenden Kapitel, wo er dem Leser eine Einführung in die Standpunkte des Gesetzespositivismus‘ und des Rechtspositivismus‘, der Freirechtsschule, der Interessenjurisprudenz (Rudolf von Jhering) oder der ökonomischen Analyse des Rechts bietet und ergänzend auf die Bestrebungen um ein Europäisches Privatrecht und den Forschungszweig der Juristischen Zeitgeschichte eingeht.
Der Autor setzt sich mit dem Forschungsstand kritisch auseinander. Er stellt nicht nur neuere Bewertungen älteren unkritischeren Befunden gegenüber (zum Beispiel des Code civil als repressiv, weniger demokratisch und bürgerlich mit patriarchalischen Zügen), sondern ergänzt dies wiederholt mit eigenen Stellungnahmen. So sieht er die Unterschiede der Kommentatoren zu den Glossatoren weniger gravierend, als dies die ältere Literatur tat. Benedict Carpzov erkennt er nicht als Protagonisten des Usus modernus an. Er verwehrt sich dagegen, Hugo Grotius als „Vater des Völkerrechts“ zu titulieren, da der Initiator der Aufklärung „Völkerrecht/ius gentium“ nicht als Recht zwischen den Staaten, sondern als einheitliches Recht der Staaten verstanden habe.
Dem Grundriss gelingt es in beeindruckender Weise, die große Stoffmenge auf einen vorgegebenen Umfang zu reduzieren und dabei trotz der notwendigen Kürze jeweils überzeugend zu erklären, welche Ideen und politischen, wirtschaftlichen wie sozialen Umstände die Rechtsentwicklung antrieben. Das Werk steht zum Teil in Konkurrenz zu dem im selben Verlag erschienenen Lehrbuch von Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, unterscheidet sich von diesem aber deutlich in Gedankenführung und Ausdruck und stellt insbesondere an den hauptsächlichen Adressatenkreis, den rechtshistorisch interessierten Studenten erhebliche Anforderungen. Jedem Kapitel ist eine Auflistung neuerer Literatur angefügt. Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis sowie ein Personenregister und ein Sachregister mit jeweils mehr als 500 Namen bzw. Begriffen helfen bei der gezielten Suche.
Bad Nauheim Reinhard Schartl