Schirmer, Jakob, Die Göttinger Hegel-Schule. Julius Binder, Karl Larenz, Martin Busse, Gerhard Dulckeit und der juristische Neuhegelianismus in den 1930er Jahren (= Europäische Hochschulschriften 2, 5867). Lang, Frankfurt am Main 2016. 283 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der in Stuttgart 1770 als Sohn eines Beamtem geborene Georg Friedrich Wilhelm Hegel wurde nach dem Studium von Philosophie und Theologie in Tübingen Hauslehrer in Bern und Frankfurt am Main sowie nach der in Jena erfolgten Habilitation des Jahres 1801 außerordentlicher Professor in Jena, Heidelberg und Berlin. Für ihn war Weltgeschichte der notwendig fortschreitende Prozess, in dem sich der absolute Geist seiner Freiheit in dem dialektischen Dreischritt von These, Antithese und Synthese bewusst wird und in der tatsächlichen Umwelt der Staat Preußen die Verwirklichung der Freiheit. Seine Überlegungen griff der in Würzburg 1870 als Sohn eines Stadtrechtsrats geborene, in seiner Heimatstadt mit einer Dissertation über die subjektiven Grenzen der Rechtskraft promovierte und 1898 mit einer Schrift über Korrealobligationen im römischen und im heutigen Recht für römisches Recht, bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht habilitierte, von 1900 bis 1903 in Rostock, von 1903 bis 1913 in Erlangen, von 1913 bis 1919 in Würzburg und von 1919 bis 1937/1938 in Göttingen wirkende, schließlich aber enttäuscht in München-Gauting am 28. August 1939 verstorbene Julius Binder, der sich in den Werken Rechtsbegriff und Rechtsgestalt (1915), Philosophie des Rechts (1925), Grundlegung zur Rechtsphilosophie (1935) und System der Rechtsphilosophie (1937) unter allmählicher Abkehr von einem zunehmend als positivistisch abgelehnten Neukantianismus (Kantianismus und Hegelianismus in der Rechtsphilosophie 1927) in einer längeren Entwicklung auf.

 

Sein bekanntester Schüler wurde der in Wesel 1903 in einer Juristenfamilie geborene, von (dem in Würzburg geborenen Gerhard) Hellmuth Mayer während des Studiums in München auf Binder in Göttingen hingewiesene, in Göttingen bereits 1926 über Hegels Zurechnungslehre und den Begriff der objektiven Zurechnung promovierte, unter Verzicht auf die zweite juristische Staatsprüfung an dem Ende des Wintersemesters 1928/1929 mit einer Schrift über die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts für bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie habilitierte, zum 30. April 1933 auf den Lehrstuhl des tags zuvor beurlaubten Gerhart Husserl in Kiel berufene, sich dort in dem Rahmen der Kieler Schule mehr und mehr von Hegel lösende und nationalsozialistischen Gedanken zuwendende, 1960 nach München wechselnde und dort 1993 als einer der führenden Privatrechtslehrer Deutschlands seiner Zeit verstorbene Karl Larenz. Weiter schloss sich Binder der in Riga 1904 als Sohn eines baltendeutschen Kaufmanns geborene, 1922 das Studium der Philosophie an der deutschen Hochschule seiner Geburtsstadt aufnehmende, 1924 zu der Rechtswissenschaft übergehende Gerhard Dulckeit an, der bei Binder 1931 mit der Dissertation Naturrecht und positives Recht bei Kant promovierte, 1934 mit einer Schrift über Erblasserwille und Erwerbswille bei Antretung der Erbschaft (in dem römischen Recht) habilitierte, 1935 in dem Deutschen Reich eingebürgerte Gerhard Dulckeit an, der 1936/1937 eine Vertretung in Kiel und 1937/1938 eine Vertretung in Heidelberg wahrnahm, 1938 außerordentlicher Professor mit persönlichem Ordinariat und 1940 ordentlicher Professor in Heidelberg wurde, 1942 nach Straßburg wechselte, wegen des Krieges dort aber keine Vorlesungen hielt und nach Krieg und Kriegsgefangenschaft nach Kiel zurückkehrte, wo er nach längerer Krankheit an dem 16. Januar 1954 starb. Der in Bleicherode 1906 als Sohn eines Amtsgerichtsrats geborene, nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Köln, München und Göttingen bei Binder 1931 mit der Dissertation Hegels Phänomenologie des Geistes und der Staat promovierte, als Abteilungsleiter in dem Stabsamt des Reichsbauernführer (!) tätige, sich aber ab der Mitte der 1930er Jahre von Hegel abkehrende und engagiert der nationalsozialistischen Rechtserneuerung verschreibende, 1936 mit einer Schrift über den Erbhof im Aufbau der Volksordnung habilitierte, in Kiel 1937 zu einem planmäßigen außerordentlichen Professor und 1940 zu einem ordentlichen Professor ernannte Martin Busse fiel bei Goch an dem 16. Februar 1945.

 

Die vorliegende, vor allem zwischen Wintersemester 2008/2009 und Wintersemester 2011/2012 während einer Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Rechtsgeschichte der Universität Göttingen entstandene, von Eva Schumann betreute, mit dem Rigorosum an dem 27. 1. 2015 abgeschlossene Dissertation des danach als Rechtsanwalt tätigen Verfassers gliedert sich nach einer Einleitung über die „Göttinger Schule“, Forschungsstand und Forschungsdesiderat sowie den rechtsphilosophischen und historischen Kontext der Göttinger Schule in acht Kapitel. Sie betreffen Umrisse der Göttinger Schule, zu der am Rande in einem erweiterten Rahmen neben Binder, Larenz, Dulckeit und Busse noch Walther Schönfeld, Karl Michaelis und Adam von Trott zu Solz gerechnet werden, die rechtsphilosophische Entwicklung der Göttinger Schule, das neuhegelianische Staats- und Gesellschaftsverständnis der Göttinger Schule, den „objektiven Idealismus“ und den „absoluten Idealismus“, rechtsdogmatische Ansätze der Göttinger Schule (bei Karl Larenz), philosophische Auseinandersetzungen innerhalb der Göttinger Schule (Kritik Larenz‘ an Binder, Kritik Dulckeits an Binder und Larenz, Busses Anlehnung an Larenz, Schönfelds Angriffe auf Binder), das Verhältnis der Göttinger Schule zu dem Nationalsozialismus (Machtergreifung als Erfüllung Binders staatsphilosophischer Vorstellungen?, Binders Vorbehalte gegen den Nationalsozialismus, Larenz‘ Konzept der „Gliedstellung“, Larenz‘ „neues deutsches Rechtsdenken“, Larenz‘ Abkehr von dem Nationalsozialismus, Dulckeit und der nationalsozialistische Staat, Busses nationalsozialistisches Bauernrecht) und Dulckeits und Larenz‘ Beschäftigung mit Hegel in den 1940er Jahren nach dem „Ende des Neuhegelianismus“. Vor allem unter Auswertung vieler Briefe gelingen dem Verfasser zahlreiche weiterführende Einsichten in einzelne Gegebenheiten und Entwicklungen.

 

Insgesamt erweist sich die Göttinger Hegel-Schule, deren von Binder, Busse und Larenz verantwortetes Gemeinschaftswerk Einführung in Hegels Rechtsphilosophie (1931) nach dem Verfasser spätestens den Anfang der neuhegelianischen Rechtsphilosophie der Göttinger Schule markiert, trotz einer rund 90 Titel umfassenden Bibliographie der Göttinger Schule zwischen 1927 und 1954 nicht als besonders erfolgreich. Ihre Schriften stießen in dem damaligen rechtsphilosophischen Diskurs nur auf sehr verhaltenen Anklang und auch ihre Versuche der auch opportunistischen neuhegelianischen Beeinflussung des nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler des Deutschen Reiches an dem 30. Januar 1933 nationalsozialistisch bestimmten Staates blieben nahezu ungehört. Nach dem bereits 1933 beginnenden Weggang der drei Schüler Binders von Göttingen löste sich die damit nur ganz wenige Jahre bestehende rechtsphilosophische Einigkeit der vier Angehörigen der Göttinger Schule rasch wieder auf und verwandelte sich in teilweise erbittert geführte Auseinandersetzungen unter deutschen rechtswissenschaftlichen Gelehrten, so dass aus der interessanten Fragestellung und ihrer ansprechenden Bearbeitung im Grunde nur der an sich bereits öfter erörterte vielfältige Wandel Karl Larenz‘ im Laufe seines langen und vor allem zivilrechtlich erfolgreichen Lebens längerfristig Bedeutung behalten könnte.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler