Rohe, Mathias, Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. Beck, München 2016. 416 S., 16 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit der Flucht großer Massen von Menschen islamischen Glaubens aus den Krisenherden des Nahen Ostens und Nordafrikas in das Herz Mitteleuropas wurde diese Religion zum Kristallisationspunkt öffentlicher Erörterungen zwischen den Polen einer offenen, selbst ordentliche Verfahren hintanstellenden Willkommenskultur und einer strikten, vorwiegend aus der Besorgnis um den Verlust der Identität der eigenen Heimat gespeisten Ablehnung. Ein Kennzeichen des stark emotionsgesteuerten kulturkämpferischen Diskurses ist auf allen Seiten die Tendenz zu simplifizierenden Verkürzungen dieser Staat und Gesellschaft herausfordernden Problematik. Es darf wohl vorausgesetzt werden, dass der überwiegende Teil der autochthonen deutschen Bevölkerung bisher wenig Veranlassung gesehen hat, sich mit dem Islam näher zu beschäftigen; dementsprechend ist zu vermuten, dass das Wissen zu diesem Thema im Schnitt kaum über das hinausgehen dürfte, was der eigene Religions- und Geschichtsunterricht vermitteln konnte, nun angereichert durch die tagesaktuelle Berichterstattung unterschiedlicher Medien. Ein solcher Informationsstand ist nicht ausreichend, um den komplexen Sachverhalt angemessen zu erfassen und zu korrekten Einschätzungen der Sach- und Rechtslage zu gelangen. Umso mehr sind nun Experten gefragt, nicht, damit sie den Bürger mit dem erhobenen Zeigefinger belehren, sondern um dafür zu sorgen, dass wissenschaftliche Erkenntnis nicht im Elfenbeinturm verharrt, sondern vielmehr zum gesellschaftlich wirksamen Ferment wird. Die vorliegende Bestandsaufnahme zum Islam in Deutschland könnte diesem Anspruch gerecht werden. Sie stammt aus der Feder Mathias Rohes, eines Juristen und Islamwissenschaftlers, der als Professor Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Erlangen-Nürnberg lehrt und als Gründungsdirektor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa eng mit der Materie vertraut ist. Sein Standardwerk „Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart“ ist 2011 in der dritten Auflage erschienen.

 

Seine grundsätzliche Position bringt der Verfasser, der die Zukunft der Islamwissenschaften in einer Kombination von philologisch-historischer Orientierung einerseits und einer Öffnung zu gegenwartsbezogenen, auch sozialwissenschaftlichen Feldern andererseits verortet, in folgendem Statement zum Ausdruck: „In unserer gemeinsamen Zivilgesellschaft gibt der Rechtsstaat für alle einen unerlässlichen Rahmen vor. Er garantiert jedoch auch Vielfalt und Wandel innerhalb seiner gesetzten Grenzen. Nicht nur Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen, sondern auch die Menschen unterschiedlichster Individualitäten und Herkunft im Land. Statt pauschaler Urteile und Stereotype von Verteufelung und Idealisierung benötigen wir als Leitmotiv für Begegnungen und Beurteilungen im gesellschaftlichen Zusammenleben […] bei allen Beteiligten […] Fairness“ (S. 320f.). Die Informationen, die diesen fairen Umgang miteinander gewährleisten sollen, verteilt Mathias Rohe auf sechs Themenblöcke.

 

Die ersten beiden Abschnitte sind historisch orientiert und widmen sich chronologisch zunächst allgemein den Begegnungen mit dem Islam von der Zeit Karls des Großen über die Kreuzzüge und das Osmanische Reich bis zum populären Orientalismus des 18. und 19. Jahrhunderts, wobei die Art und Weise der wechselseitigen Beziehungen prägend war für die Bilder, die man vom jeweils anderen kultivierte. Konkret seien sodann erste Muslime im ausgehenden 17. Jahrhundert als kriegsgefangene „Beutetürken“ nach Deutschland gelangt, später auch als Söldner und Gesandte, ein Prozess, der mit dem Ersten Weltkrieg und dem Dritten Reich an Fahrt aufnahm und mit Arbeitsmigration (Anwerbeabkommen ab 1961) und Asyl quantitativ und qualitativ in andere Dimensionen vorstieß. Die Volkszählung von 1987 habe in Deutschland „eine Zahl von 1,3 Millionen muslimischer Türken und rund 280.000 anderer Muslime genannt, insgesamt 1,65 Millionen“ (S. 67). Viele blieben: „2012 waren unter den rund 2,8 Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland ungefähr 1,55 Millionen türkische Staatsangehörige. Etwa 74 % lebten seit mindestens zwanzig Jahren in Deutschland; 52 % wurden in Deutschland geboren“ (S. 69). Zur aktuellen „Zuwanderung einer außergewöhnlich hohen Zahl von Flüchtlingen […] aus muslimisch geprägten Staaten wie Syrien, Irak und Afghanistan“ (S. 73) seit 2015 nennt der Band leider keine konkreten Zahlen. Tatsächlich scheinen auch zur Gesamtzahl der Muslime in Deutschland keine empirisch erhobenen offiziellen Daten vorzuliegen, was in einem administrativ so hoch entwickelten Gemeinwesen doch einigermaßen verwundert, auch wenn „(a)us juristischer Sicht […] ein Selbstdefinitionsrecht gegeben (ist): Muslim ist, wer es sein will“ (S. 75), was die Sache nicht einfacher macht. Der Verfasser bemüht eine sich auf etwa 6000 Telefoninterviews stützende Hochrechnung aus 2009, aus der sich eine muslimische Gesamtbevölkerung in Deutschland zwischen 3,8 und 4,3 Millionen ergeben soll, und zeiht zugleich Thilo Sarrazin, der 5,7 Millionen und mehr errechnet hat, der Nutzung „unzuverlässige(r) Daten und wissenschaftlich unseriöse(r) Ableitungen offenbar auch zur Panikmache“ (S. 79). Man mag vermuten dürfen, dass für jene, die sich subjektiv von einer gefühlten Islamisierung Deutschlands bedroht fühlen, diese Zahlendifferenz keine allzu große Rolle spielt.

 

Nachdem im dritten Teil die religiösen Orientierungen und Aspekte der Migrationsgeschichte von Muslimen in Deutschland unter die Lupe genommen werden, stellt der vierte Abschnitt unter anderem 13 deutschlandweit agierende islamische Organisationen und Einrichtungen vor und unterzieht sie anschließend einer differenzierten Einschätzung. Ein besonderer Stellenwert kommt den Ausführungen zum muslimischen Extremismus zu, da sie mit der Identifizierung, Benennung und Beschreibung der extremistischen Gruppierungen oder einzelner Gewalttäter zugleich eine Abgrenzung zur breiten Masse der gemäßigten Mehrheit der Muslime vornehmen. In der Diskussion um den Begriff des „Islamismus“ spricht sich der Verfasser für eine Beibehaltung des Terminus aus, „weil und soweit er in einem Umfeld verbreiteten Misstrauens die friedliche Ausübung der Religion deutlich von ihrem nicht zu duldenden politischen Missbrauch unterscheidet“ (S. 160), eine Interpretation, der sich auch der Verfassungsschutz anschließt. Im „Umgang mit der Extremismusgefahr“ sei der Rechtsstaat „aufgefordert, einerseits seine Grundlagen unbeirrt zu verteidigen, andererseits aber auch rechtsstaatliche Maßstäbe zu wahren“. So könne „(n)icht alles, was anstößig oder verdächtig erscheint, verboten werden“, was beispielsweise „für manche Salafistenprediger ebenso wie für mehrfach kriminell in Erscheinung getretene Organisatoren islamfeindlicher Kundgebungen“ gelte. Zugleich sei aber „erforderlich, keine rechtsfreien Räume entstehen zu lassen, in denen sich gegen Staat und Gesellschaft gerichtete Gegenwelten etablieren können“, und für eine „maßvolle, aber auch wachsame Beobachtung des Vorfelds“ zu sorgen, ein Vorgehen, das bei Wahrung der Verhältnismäßigkeit „auch unter Muslimen viel Zustimmung und Unterstützung erfahren“ würde (S. 173). Diese in der Theorie klare, in der Praxis jedoch ungemein komplexe Konstellation beschreibt exakt die Herausforderung, mit der der seine Grundwerte wahrende demokratisch-liberale Rechtsstaat im Angesicht der Terrorgefahr konfrontiert ist.

 

Für den Durchschnittsleser ohne juristische Vorbildung, aber ebenso für Insider des Rechtswesens dürfte der fünfte Teil des Bandes, „Islamisches Leben und deutsches Recht“, von besonderem Nutzen sein. Hier skizziert der Verfasser zunächst das in Deutschland geltende, im Grundgesetz niedergelegte Verhältnis zwischen Staat und Religion im Sinne der Entscheidung „gegen eine streng laizistische und für eine religionsoffen-neutrale Säkularität“ (S. 176) und die daraus abzuleitenden Folgerungen für die Ausgestaltung der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit. Die praktischen Beispiele zu Recht und Alltag, die unter Zugrundelegung der aktuellen Gesetzeslage und Rechtsprechung vorgestellt werden, berühren und erläutern genau jene sensiblen und symbolträchtigen Bereiche, die in der Öffentlichkeit so häufig, aber meist wenig reflektiert „aus dem Bauch heraus“ diskutiert werden: Moscheebau, Minarette und Gebetsruf, Ritualvorschriften wie das Schächten, Speisevorschriften und die Beschneidung, Bekleidungsvorschriften (Kopftuch, Verschleierung) sowie den Islam im Schulbetrieb. Mit Entscheidung vom 27. Januar 2015 habe das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass nur konkrete Gefährdungen Verbote rechtfertigen würden und bei Verboten alle Religionen und Weltanschauungen unterschiedslos behandelt werden müssten – „eine deutliche Kritik an diskriminierenden Ländergesetzen“. So sei das Tragen des Kopftuchs im Gerichtssaal durchaus erlaubt, „auch wenn einzelne Richter versucht haben, dies rechtswidrig und mit teils geradezu kurioser Begründung […] zu untersagen“ (S. 199). Anders verhalte es sich jedoch mit der Verschleierung, denn es sei „ein Gebot rechtsstaatlicher Gerichtsverfahren, dass alle Verfahrensbeteiligten stets ihr Gesicht zeigen, um die oft aussagekräftige Mimik allen anderen Beteiligten offenzulegen“ (S. 202). Anhand solcher Exempel werden auch Nichtjuristen gut nachvollziehen können, dass jedes oft leichtfertig geforderte Verbot einen Eingriff in unterschiedliche Rechtsgüter darstellt, die in jedem Fall sorgfältig abgewogen werden müssen. Die weiteren dargestellten, in der öffentlichen Diskussion weniger stark präsenten Materien betreffen Organisation und Teilhaberechte, die islamische Seelsorge, das Sozialrecht, den strafrechtlichen Schutz, die mittelbaren Wirkungen religiöser Normen im Privatrecht sowie die Anwendung islamischer Rechtsnormen. Der Verfasser wisse etwa „von einer Vielzahl von Fällen, in denen muslimische Frauen die Scheidung einer in ihrem sozialen Umfeld verbindlichen, aber rechtlich unwirksamen ‚religiösen‘ Ehe (mit oder ohne parallele Zivilehe) erstreben. Solange das deutsche staatliche Recht hierfür keine Hilfsmechanismen entwickelt, sind außerstaatliche Schlichtungsverfahren, die den Ehemann zur Akzeptanz z. B. durch eine vertragliche Eheauflösung nach islamischen Rechtsvorstellungen bewegen, unvermeidlich“, wobei „selbstverständlich die Grenzen des zwingenden staatlichen Rechts ein(zu)halten“ seien (S. 234f.). Bringe man die verschiedenen Studien zur muslimischen Grundhaltung zum deutschen Rechtsstaat auf den Punkt, ergebe sich, „dass die wohl bei weitem größte Gruppe von Muslimen diejenige der ‚Alltagspragmatiker‘ ist, welche sich wie vermutlich der größte Teil der Bevölkerung überhaupt ohne tiefere Reflexion in das bestehende System einfindet und es in seinen Grundentscheidungen – einschließlich der Menschenrechte – auch bejaht. Unter Muslimen, die explizit religionsbezogene Positionen beziehen, finden sich Traditionalisten ebenso wie solche, die sich auch mental-intellektuell ‚einheimisch‘ fühlen“ (S. 240). Der sechste und abschließende Teil des Bandes nimmt einige Perspektiven das Zusammenlebens näher in den Blick, das in der muslimischen Alltagskultur, den Geschlechterrollen und Geschlechterbildern, in der Islamdebatte, dem interreligiösen Dialog und in den islambezogenen Wissenschaften in Deutschland seine je eigene Ausformung gefunden hat.

 

Mathias Rohes Bestandsaufnahme ist folglich jedermann zu empfehlen, der rasch und kostengünstig (der Band ist als preiswertes Paperback erschienen) an solide, rechtlich fundierte Informationen zum Thema Islam in Deutschland gelangen will. Die Orientierung des kraft seines Engagements besonders kundigen Verfassers an einer dem Rechtsstaat verpflichteten Neutralität, die Missstände auf allen Seiten sachlich aufzeigt und dabei Klartext spricht, verleiht den Ausführungen ihre besondere Glaubwürdigkeit. Das bereitgestellte Wissen wird die vielfältigen Konfliktfelder im öffentlichen und politischen Leben sicherlich nicht beseitigen können, wohl aber dahingehend wirken, dass sich die permanenten Aushandlungsprozesse realitätskonformer gestalten und nicht in so plakative wie inhaltsleere Formeln münden wie in die wenig hilfreiche Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic