Remy, Maurice Philipp, Der Fall Gurlitt – die wahre Geschichte über Deutschlands größten Kunstskandal, 2. Aufl. Europa Verlag. München 2017. 669 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
An dem Sonntag, dem 3. November des Jahres 2013 um acht morgens erschien in der Digitalausgabe des Magazins Focus der Artikel „Der Nazi-Schatz“ Er berichtete die Geschichte von rund 1500, angeblich eine Milliarde Euro, tatsächlich jedoch eher 100 bis 120 Millionen Euro werten Kunstwerken, die angeblich zur „Beute Hitlers“ gehört hatten und 2012 von der Staatsanwaltschaft in der in dem fünften Stock gelegenen Wohnung des achtzigjährigen Rolf Nikolaus Cornelius Gurlitt, dessen an dem 9. November 1956 an den Folgen eines Autounfalls bei Oberhausen um das Leben gekommener Vater Hildebrand Gurlitt nach den Ausführungen des Sohne in einem an den Spiegel gerichteten Schreiben von dem 4. November 2013 gemäß den Nürnberger Gesetzen ein Mischling zweiten Grades war, in Schwabing in München, in der die Rollläden seit dem Tod der Mutter 1968 heruntergelassen waren, beschlagnahmt worden waren. Mit Hilfe einer beigefügten Abbildung konnte das siebenstöckige Haus an dem Artur-Kutscher-Platz 1 von jedermann leicht ermittelt werden.
Mit diesem allgemein als Sensation empfundenen Vorgang beschäftigt sich der in München 1962 geborene, in Kommunikationswissenschaft ausgebildete, als freier Journalist tätige und mit Untersuchungen über den Holocaust, das Bernsteinzimmer, den Mythos Rommel, Offiziere gegen Hitler und Mogadischu hervorgetretene Verfasser, der Cornelius Gurlitt noch persönlich kennengelernt hatte. Seine auf dreijähriger Spurensuche beruhenden Ergebnisse fasst er in zwanzig durch viele Abbildungen bereicherte Kapitel zusammen. Sie tragen nacheinander die Titel Klingelterror, Sammlung, Kunst, Direktor, Fahnenstange, Handel, Verfallskunst, Raubmord, Rückerstattung, Geschäfte, Sonderauftrag, Verdacht, Schaukel, Vermächtnis, Halbdunkel, Unheil, Kunstraub, Treibjagd und Deutungshoheit.
Im Ergebnis der spannend und detailliert geschriebenen Darlegungen stellt er ein Versagen einer ganzen (gegenwärtigen) Generation im Umgang mit dem Unrecht des nationalsozialistischen Regimes vor dem Hintergrund der Geschichte einer an sich nur wenigen bekannten, vielleicht ursprünglich aus Niederschlesien kommenden Familie, die Land und Kultur lange geprägt haben, fest. Er sieht seine bereits 2014 vorgetragene Ansicht, dass sich in der umfangreichen, von Gurlitt noch vor seinem Tode letztwillig einer Stiftung in der Schweiz übertragenen Sammlung weniger als ein Promille (nämlich 5 Stücke Adolph von Menzels, Carl Spitzwegs, Max Liebermanns, Camille Pissarros und Henri Matisses) Raubkunstbilder befänden, durch Sonderermittler des Jahres 2016 bestätigt. Wegen der Einzelheiten der fast hundert Jahre umspannenden Vorgänge, die immerhin bis 2012 gegenüber der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt gehalten werden konnten, kann an dieser Stelle auf die bevorstehenden Rezensionen zweier besonderer Sachkenner zu dem binnen Jahresfrist in zwei Auflagen erschienenen Werk verwiesen werden, die vermutlich zeitnah vorgelegt werden können.
Nach den abschließenden Worten des Verfassers zeigt der Umstand, dass sich die Staatsministerin für Kultur (Monika Grütters) sich in dem Fall Gurlitt mehrfach auf die Opfer des Holocaust berufen hat, wie sehr das Gedenken an das nationalsozialistische Verbrechen in Deutschland mittlerweile zur inhaltsleeren Formel erstarrt ist. „Das Unrecht der Nazis kann keinem der Beteiligten, keinem Staatsanwalt und keinem Richter, keinem Journalisten und keinem Kunsthistoriker, keinem Beamten und keinem Politiker als Rechtfertigung für sein Verhalten dienen. Altes Unrecht lässt sich nicht durch neues heilen.“
Innsbruck Gerhard Köbler