Prozessakten – Parteien – Partikularinteressen – Neue Forschungen zur Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, hg. v. Denzler, Alexander/Franke, Ellen/Schneider, Britta (= bibliothek altes reich 17). De Gruyter/Oldenbourg, Berlin 2015. VIII, 214 S. Besprochen von Roland Kleinhenz.

 

Das Forschungsinteresse an den Höchstgerichten des Alten Reichs, Reichskammergericht und Reichshofrat, ist erfreulicherweise hoch, wie der hier zu besprechende Band einmal mehr zeigt. Er enthält die in Aufsatzform gebrachten Beiträge der 12. Nachwuchstagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit, die im November 2013 in Wetzlar stattfand. Die meisten der sogleich vorzustellenden zehn Beiträge entspringen noch laufenden Promotionsvorhaben oder noch ungedruckten Dissertationen und geben einen Ausschnitt aus der neuesten Forschung rund um Reichskammergericht und Reichshofrat wieder. In einer umfangreichen Einleitung ziehen die Herausgeber des Bandes zunächst eine Bilanz der neueren und neuesten Forschung zu den Höchstgerichten des Alten Reiches, etwa ab den 1990er Jahren. Ausgeblendet ist die ältere Forschung. Hier wäre jedoch ein Abgleich zwischen älterer und neuerer Forschung durchaus von Interesse, um eine Gesamtforschungsbilanz zu ziehen und neue Forschungsvorhaben sicherer festzulegen. Die Herausgeber thematisieren vor allem den unterschiedlichen Stand der Akteninventarisierung. Diese ist für das Reichskammergericht bereits seit einigen Jahren abgeschlossen, während für den Reichshofrat mit der Serie Alte Prager Akten erst eine von zehn Judizialserien erschlossen ist; von den Beständen an Verwaltungsakten ganz zu schweigen, aufgrund der Doppelnatur des Reichshofrats als Höchstgericht und oberste Verwaltungsbehörde. In einem Forschungsausblick (S. 26) geht es um die weitere Vertiefung des Verhältnisses zwischen Reichskammergericht und Reichshofrat, wo besonders die Bedeutung des Lehnswesens für die Einheit des Reichs hervorgehoben wird.

 

Der erste Beitrag von Daniel Luger befasst sich mit der geplanten Edition einer Quelle zum königlichen Kammergericht Kaiser Friedrichs III., dem Vorläufer des Reichskammergerichts. Bei der Quelle handelt es sich um das in der Bibliothek des niederösterreichischen Benediktinerstiftes Göttweig befindliche königliche Gerichtsbuch (HS 367 (rot)), das auf 120 Folien protokollarische Aufzeichnungen des Gerichtsschreibers Michael von Pfullendorf zu Gerichtsprozessen im Zeitraum von 1442 bis 1451 enthält. Während für diesen Zeitraum bisher lediglich durchschnittlich sechs Sitzungen des Gerichts pro Jahr bekannt waren, erhöht sich der Informationsstand durch die Edition des Gerichtsbuches auf durchschnittlich 33 Sitzungen pro Jahr (S. 37). Der Schwerpunkt der Verfahrensgegenstände lag auf vermögensrechtlichen, grundherrlichen und lehnsrechtlichen Verfahren. Der zweite Beitrag von Robert Riemer befasst sich mit den Wechselwirkungen zwischen kriegerischen Konflikten und der Tätigkeit des Reichskammergerichts vom 16. bis 18. Jahrhundert am Beispiel der an den Gerichtsverfahren beteiligten Prozessparteien aus Frankfurt am Main. Der Verfasser kommt zu dem plausiblen Gesamtergebnis, dass das Reichskammergericht in Kriegszeiten weniger in Anspruch genommen wurde, sprich die Falleingangszahlen sanken. Im nächsten Beitrag stellt Ulrike Schillinger ihr Dissertationsvorhaben über die neue Rottweiler Hofgerichtsordnung von 1572 vor. Diese sei, anders als von der Forschung vielfach angenommen, keine Kopie der Reichskammergerichtsordnung von 1555 gewesen. Mittlerweile ist die Dissertation mit dem Titel „Die Neuordnung des Prozesses am Hofgericht Rottweil 1572“ als Band 67 der Reihe Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Böhlau. Wien 2016, erschienen. Deshalb wird von einer weiteren Darstellung der Ergebnisse des Aufsatzes abgesehen. Im vierten Beitrag von Ulrich Hausmann und Thomas Schreiber wird das seit April 2012 laufende Kooperationsprojekt über „Untertanensuppliken am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576-1612)“ ausführlich vorgestellt. Die Verfasser stellen fest, dass der Anteil an Suppliken, also Bittschriften, hoch ist, folglich diesen Suppliken eine bislang unterschätzte Bedeutung zugekommen sein muss. Gerichtet waren die Suppliken an den Kaiser als obersten Gerichtsherrn, der auch die Gnadengewalt ausübte. Auf die Untertanensuppliken aus der Zeit Kaiser Rudolfs II. kann nunmehr online zugegriffen werden, wobei ca. 20.000 Seiten eingesehen werden können (Internetadresse auf S. 84 Fußnote 47). Dies erleichtert die Forschung in der Sache selbst (Gegenstände der Suppliken, Formulierungstechniken) erheblich. Die Erkenntnisse des Forschungsprojekts sind mannigfaltig (S. 86-96). So wurde erstmalig herausgefunden, dass im untersuchten Zeitraum 7.800 dieser Petitionsverfahren beim Reichshofrat eingebracht wurden, davon 47 % durch nichtadelige Untertanen. Die Gegenstände der Suppliken waren vielfältig. Prozessual bedeutsam ist, dass Suppliken teilweise parallel zu anhängigen Gerichtsverfahren angebracht wurden. Hier ist ein weiteres Forschungsfeld zum Verhältnis von Supplik zum laufenden Rechtsstreit eröffnet. Zur Entscheidungspraxis des Reichshofrats wird berichtet, dass dieser häufig der Bittschrift stattgegeben habe und zwar mit einem breitgefächerten Repertoire von Formularschreiben (S. 95/96). Rechtssystematisch nicht beleuchtet wird, ob der Reichshofrat als Empfänger von und Entscheider über Suppliken im Namen des Kaisers in seiner Funktion als oberste Verwaltungsbehörde oder als Gerichtshof tätig wurde. Grundsätzlich dürfte ersteres zutreffen, jedoch ist auch letzteres in bestimmten Fallkonstellationen denkbar. Deutlich wird, dass wir nicht von unserem modernen Verständnis einer unabhängigen Justiz in einem System der Gewaltenteilung ausgehen dürfen. Der fünfte Beitrag von Fabian Schulze über die Rolle der oberdeutschen Reichskreise und der Reichsgerichte bei der Bekämpfung der Kipper- und Wipperkrise 1618-1626 hat moderne Züge, handelt er doch von einer der größten grenzüberschreitenden Münz- und Währungskrisen im frühneuzeitlichen Europa. Der beginnende Dreißigjährige Krieg begünstigte wegen des großen Geldbedarfs die sogenannte Münzverschlechterung, die gleichzeitig einen Verstoß gegen die Reichsmünzordnung von 1559 darstellte. Leider erfährt man über genauere Ursachen der Kipper- und Wipperkrise nichts in dem Aufsatz. Über Prozesse am Reichskammergericht oder am Reichshofrat zu dieser Materie liest man ebenfalls kaum etwas. Entsprechend unsicher urteilt der Verfasser, dass die Reichsgerichtsbarkeit in der Münzkrise keinen nennenswerten Beitrag erbracht zu haben „scheint“ (S. 115/116). Dies bedeutet nichts anderes, als dass hier noch erheblicher Forschungsbedarf zur Rolle der Reichsgerichtsbarkeit im Umgang mit dieser Münz-/Währungskrise besteht. Deshalb steht auch das Fazit des Verfassers unter einem entsprechenden Forschungsvorbehalt, wenn er urteilt, dass hauptsächlich die Reichskreise aktiv gegen Falschmünzerei in der Krise gewesen seien, nicht aber die Reichsgerichte. Der sechste Beitrag von Christel Annemieke Romein über „Vaterland, patria und Patriot in den Rechtsangelegenheiten Hessen-Kassels (1647-1655)“ untersucht einen jahrelangen Rechtsstreit am Reichskammergericht zwischen Adeligen und Landgraf Wilhelm VI. von Hessen-Kassel, für den bis zu seiner Volljährigkeit im Oktober 1650 die Regentin Amelie Elisabeth auftrat. In diesem Rechtsstreit, der mit einem außergerichtlichen Vergleich vom 2. X. 1655 beendet wurde, ging es um zentrale Abgrenzungen der gegenseitigen Machtpositionen, wie beispielsweise das vom Adel beanspruchte Recht, dass ohne seine Zustimmung keine Steuererhebungen stattfinden sollten. Der Rechtsstreit ähnelte also einer verfassungsrechtlichen Organstreitigkeit im modernen Sinn und das Reichskammergericht fungierte ähnlich einem Staatsgerichtshof. Die Verfasserin weist in ihrer Untersuchung nach, dass die Begriffe „Patriot“, „patria“, „Vaterland“ von beiden Parteien des Rechtsstreits besonders häufig und beiderseits in annähernd gleicher Zahl in den gerichtlichen Schriftsätzen der Replik und Duplik gebraucht wurden. Leider wird der tiefere Sinn und Zweck einer derartigen Begriffsverwendung im Rahmen einer gerichtlichen Auseinandersetzung nicht weiter aufgeklärt. Eine rechtliche Notwendigkeit zu einer derartigen Begriffsverwendung wird nicht bestanden haben, somit wäre die beidseitige Prozesstaktik zu hinterfragen gewesen. Im siebten Beitrag von Thomas Dorfner über Empfehlungsschreiben und Patronage am Reichshofrat im Zeitraum von 1658 bis 1740 betont der Verfasser die übliche Praxis derartiger Empfehlungsschreiben durch die Richter am Reichshofrat, auch wenn sie durch die Reichshofratsordnung von 1654 zur Unparteilichkeit und Unabhängigkeit verpflichtet waren. Leider bleibt die spezifische Motivation der Reichshofräte für solche Empfehlungen zur Besetzung von freien Stellen als Prozessagent am Reichshofrat im Dunkeln. Der Verfasser spricht nur die Sozialadäquanz/-pflicht an. Dies erscheint vielfach zu kurz gegriffen und es wäre zu untersuchen, ob nicht auch, besonders oder ausschließlich materielle Interessen der Reichshofräte im Spiel waren. Im achten Beitrag untersucht Carlo Steiner die Rechtsprechungstätigkeit des Schweizer Höchstgerichts der Stadt und Republik Bern („Großer Rat“) während des gesamten 18. Jahrhunderts. Hierfür wertet der Verfasser 1.387 Urteile zu allen behandelten Rechtsgebieten, außer Strafrecht, aus und teilt die Rechtsstreitigkeiten in 20 Konfliktkategorien ein. Untersucht wird auch die Prozesshäufigkeit, bezogen auf die einzelnen Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Ferner werden Rückschlüsse bzw. Vergleiche mit gesamtgesellschaftlichen Phänomenen gezogen. Aufgrund der vom Verfasser beschriebenen dürftigen Quellenlage zum Thema Prozesskosten und Streitwerte bleibt dieses für die Prozessführung essentielle Thema, mit möglichen Untersuchungsgegenständen wie Prozesskostenaufbringung/-finanzierung, Gerichtskosten, Anwaltskosten, leider völlig ausgeblendet. In einem ertragreichen prozessrechtlichen Beitrag untersucht Stefan Andreas Stodolkowitz den „Zivilprozess des Oberappellationsgerichts Celle am Ende des Alten Reiches“. Die Forschungsergebnisse sind vielfältig und interessant. Ausgangspunkt des 1711 gegründeten Gerichts ist seine Gerichtsordnung von 1713, die sich am Prozessverfahren des Reichskammergerichts orientiert, aber das schriftliche Verfahren noch stärker betont. Der Verfasser stellt kursorisch den Gang des Berufungsverfahrens (Appellation) dar und stellt fest, dass das reguläre Verfahren durchschnittlich 9,5 Jahre dauerte, man also bei einer derart langen Dauer kaum mehr von gutem Recht sprechen kann. Bei offensichtlich begründeter Berufung, was die Ausnahme war, erfolgte die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Gericht erster Instanz mit Anleitungen des Obergerichts. Dadurch trat eine wesentliche Verkürzung der Verfahrensdauer auf meist weniger als ein Jahr ein. Zum zweiten stellt der Verfasser die Praxis des Appellationsgerichts als Beschwerdegericht wegen verweigerter oder verzögerter Justiz dar. Für zukünftige Forschungsvorhaben zeigt der Verfasser Betätigungsfelder auf, so etwa zur Entstehung und Praxis des Zurückverweisungsverfahrens in vergleichender Perspektive mit anderen territorialen Obergerichten und mit der Ordinationspraxis des Reichskammergerichts und der Reskriptpraxis des Reichshofrats. Zu Recht spannt der Verfasser den Bogen zur Neuzeit und zur ZPO-Reform in Deutschland von 2002 mit der wesentlichen Beschränkung neuen Tatsachenvortrags in der Berufungsinstanz. Die neu eingeführte Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen die Berufung durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, sieht der Verfasser richtig als moderne Form des früheren Rechtsinstituts des decretum reiectorium. Der Verfasser äußert sich kurz zur Fortentwicklung des Zivilprozesses im frühen 19. Jahrhundert und betont zu Recht die Bedeutung der Territorialgerichte für die Rechtspflege, da Reichskammergericht und Reichshofrat mit dem Untergang des Alten Reiches 1806 ihre Tätigkeit einstellten. Zur Rechtsverweigerungs- und Rechtsverzögerungsbeschwerde wäre ein Hinweis auf den modernen Rechtsbehelf nach den §§ 198-201 GVG angebracht gewesen. Zweitens wäre die Erfolgsquote von Berufungsverfahren von Interesse, die an den Vorderrichter zurückverwiesen wurden. Hier hätte das Schicksal der zurückverwiesenen Verfahren in erster Instanz weiterverfolgt werden müssen. Im zehnten und letzten Beitrag untersucht Stefan Xenakis Untertanenprozesse von Dorfgemeinden gegen ihre Grundherren und umgekehrt im Appellationsverfahren vor dem Reichskammergericht oder dem Reichshofrat. Dabei soll ein neues Forschungsmodell auf seine Tauglichkeit überprüft werden, welches Schlüsselmomente des rechtlichen Konflikts in den Blick nimmt. Es wird die Frage gestellt, ob diese Schlüsselmomente zur Beilegung oder Lösung des Konflikts beitrugen. Dies versucht der Verfasser anhand von zwei Beispielsfällen aus der Prozesspraxis eines erstinstanzlichen Gerichts sowie des Reichskammergerichts -hier der Fall der „Gondelsheimer Rebellion“ mit einer Prozessdauer von 52 Jahren!- zu erklären. Allerdings wird nicht klar, was diese neue Forschungsmethode der Untersuchung von Schlüsselmomenten für die Lösung von rechtlichen Konflikten effektiv bringen soll im Vergleich zu herkömmlichen Forschungsmethoden. Der Beitrag bleibt leider viel zu sehr im Abstrakten hängen und auch die beiden Beispielsfälle tragen kaum zur Erklärung bei, wie das neue Forschungsmodell richtig funktionieren soll.

 

Erfurt                                                 Roland Kleinhenz