Problemfelder der Kriminalwissenschaft. Interdisziplinäre Einsichten, hg. v. Bachhiesl, Christian/Bachhiesl, Sonja-Maria, Köchel, Stefan. LIT, Wien 2017. 324 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.
Die profunden Ergebnisse der Tagung des Hans Gross Kriminalmuseums an der Universität Graz vom 9. und 10. Dezember 2015 liegen mit einem sehr reichhaltigen Band vor. Zu Beginn der Tagung wurde ein weiterer umfänglicher Sammelband vorgestellt, der dem „Vater“ der Kriminalwissenschaft Hans Gross zur 100. Wiederkehr seines Todestages gewidmet war (Hans Gross – ein „Vater“ der Kriminalwissenschaft, hg. v. . Christian Bachhiesl, Christian u. a., Wien 2015). Da der Rezensent an diesem Band mitgewirkt hat, soll es bei diesem Hinweis verbleiben.
Der hier anzuzeigende Sammelband fasst die kriminologischen/kriminalistischen Themen zusammen. Es lassen sich die drei Felder Werk und Wirken von Hans Gross und seiner Umwelt, kriminalistische Forschungswege und aktuelle Probleme des kriminalwissenschaftlichen Diskurses unterscheiden. Die Editoren umreißen die Problemfelder in einer konzisen Einführung. Hier werden einige der Beiträge des Bandes beispielhaft ohne Anspruch auf komplette detaillierte Würdigung, die sich auch deswegen verbietet, weil der Unterzeichner an der Tagung mit der Leichtfertigkeit des Dilettanten auf vielen der vorgetragenen Themen teilnehmend sich rechtshistorisch oder kriminologisch nur in Teilgebieten eine begrenzte Kompetenz zusprechen kann, herausgegriffen.
Determinismus und kriminalpolitische Aufklärung bei Karl Ferdinand Hommel führt in eine historische Dimension klärend und differenziert ins 18. Jahrhundert zurück, weist aber auch nach, dass Hommel schon als einer der ersten die sozialen Verhältnisse als Ursache von Delinquenz erkannte. (Dieter Thüning). Strafzwecke und Handlungsbegriff (Benjamin Koller, Stefan Köchel), Gutachtenerstattung unter narrativen Perspektiven (Kathrin Ogris) und das aktuelle und historische Phänomen der Kunstfälschung (Andrea C. Berger) vervollständigen das inhaltsreiche Kapitel „Schuld und Strafe“ mit weiterführenden Beiträgen.
Ganz neue Sicht und Ergebnisse zeitigt der zweite Komplex: Hans Gross und sein Umfeld. Ingrid Pfeiffer, Wien, konnte durch Nutzung eigener familiärer Quellen und mit den Archivbeständen des Grazer Landesarchivs die Beziehungen des Kurators von Otto Gross, Sohn von Hans Gross, in dem Zwischenfeld sorgsam und neuartig nachzeichnen. Hermann Pfeiffer wird – spät eingesetzt – als Vermittler tätig. So spärlich sind die Quellen, wie die Verfasserin andeutet, jedoch nicht. Allein die umfänglichen Bestände des Landesarchivs Graz und eine Forschung interdisziplinärer Art seit den 1970er Jahren noch spärlich, aber seit 1999 reichhaltig, sind eine unentbehrliche und sprechende Quelle. Inzwischen liegen auch weitere vor, etwa die aus dem Militärarchiv Wien, die der Rezensent gefunden und großenteils ediert hat. Mit Herrmann Pfeiffer wird hier ein Charakter vorgestellt, dessen Unterschiede zwischen Kurator und Kurand deutlich hervortreten und die Wahl von Hans Gross verständlich machen. Pfeiffer, der Arzt, steht so zwischen dem unbändigen, schwer zu bändigenden Otto Gross, Dissident von Freud, in lebenslanger Ablehnung des Vaters und des Vaterrechts gerichtsnotorisch, auch forensisch ein wissenschaftlich und psychopathologisch ein Phänomen eigener Art. Pfeiffer wird Anfang 1919 die Unterbringung in einer Heilanstalt für geboten halten, um Dr. Otto Gross, den revolutionären Psychoanalytiker, vor sich selbst zu schützen. Diesem Votum wird nicht entsprochen. Es erscheint diagnostisch als zweifelhaft, wenn auch vertretbar. Das Ergebnis wäre, diese Hypothese sei gewagt, wohl kein anderes gewesen. Keine Anstalt konnte Otto Gross lange halten. Ein anderer Kurator tritt sein Amt an. Otto Gross sucht schnell 1919 den Anschluss an die deutsche Revolution in Berlin, über seinen Freund, den Schriftsteller Franz Jung. Er stirbt 1920 drogensüchtig und von fast allen Gefährten und ‚Gefährtinnen, die ihn ohnmächtig als hoffnungslosen Fall krimineller Drogensucht sich selbst überlassen, in Berlin. Wilhelm Stekel, sein Analytiker 1914, gehört zu den wenigen, die einen eindrucksvollen Nachruf schreiben. Ingrid Pfeiffer liefert damit für drei Jahre im ersten Weltkrieg eine wertvolle Ergänzung der Vita beider Persönlichkeiten.
Von ebensolchem Interesse sind die Arbeiten von Karsten Wolff und Werner Felber über die Zusammenhänge des Psychiaters Paul Näcke zu Hans Gross. Dieses Forschungsfeld, ein Desiderat, wird auf sehr eindrucksvolle Art und Weise bereichert. Näcke (1851-1913) etabliert die Sexualpsychologie, dient der gesellschaftlichen Aufklärung in diesem Bereich und setzt sich für die Entkriminalisierung der Homosexualität ein. Bei aller Würdigung Freuds bleibt er zu ihm in gewisser Distanz. Hans Gross und Paul Näcke ergänzten sich kongenial.
Die Vorträge der beiden profilierten Dresdener Psychiater über diese epochale Kooperation im wissenschaftlichen Kontakt und in dem „Archiv“ (der Zeitschrift Hans Gross‘), das heute als wichtigste Zeitschrift für Rechtsmedizin von Stefan Pollack herausgegeben wird, zeigen ein frühes Modell interdisziplinäre Zusammenarbeit auf. Der gemeinsame Verbrechensbekämpfungsversuch und der zeitgenössische Diskurs zur Homosexualität finden hier in zwei Darstellungen glänzende komplementäre Forschungsarbeiten. Weiteres steht zu erwarten.
Die Praxis der Kriminalistik stand in den Beiträgen Harald Bröers und weiterer Teilnehmer der Tagung im Fokus. Bröer, einer der Motoren der Wiederbelegung Hans Gross’scher Lehre im Lande Brandenburg und in den neuen Bundesländern und Mitbegründer des Hans-Gross-Preises des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, legte die Nachwirkungen des Rechtslehrers und Kriminalisten für die Fächer des 21. Jahrhunderts aufs Anschaulichste dar. Die Darstellung von Theorie und Praxis, das Nachleben eines weltberühmten Wissenschaftlers wurde ergänzt durch eine Fallanalyse Daniel Smeritschnigs über den Briefbombenattentäter Franz Fuchs, die Erscheinungsformen der Drogenkriminalität (Andreas Sommer) und über Bildgebung in der Forensik (Alexander Bornik). Der Band vermittelt somit auch einen guten Einblick in den Forschungsstand der Kriminalwissenschaften in Graz und Österreich, auch unter rechtshistorischen wie pragmatischen Aspekten.
Last but noch least widmen sich zwei der Editoren, Sonja und Christian Bachhiesl Hans Gross und Kindern als Zeugen sowie der Geschichte des Kriminalmuseums der Universität Graz. Kinder als Zeugen spielten schon bei Hans Gross eine bedeutsame Rolle. Als „Realien“ sieht Hans Gross sie wohl auch relativ kritisch in der Glaubwürdigkeit und Zeugentüchtigkeit, hinterfragt die Problematik aber weniger. Seine spezifische Sicht herausgestellt und problematisiert zu haben, ist ein besonderer Vorzug dieser Studie.
Nach Gernot Kocher ist jetzt Christian Bachhiesl als Jurist und Historiker sozusagen als „Hausherr“ und bester Kenner der Geschichte der Einrichtung mit vielen Beiträgen, Tagungen und laufenden Vorträgen in Graz und auswärts rühmlich hervorgetreten. Die außerordentliche Beachtung nicht nur in der Stadt Graz und durch Besucher aus Ost und West hat die Institution insgesamt zu einem sehr attraktiven Mittelpunkt für die Präsentation neuer Forschung aus Graz, Österreich und aus dem Ausland werden lassen. Das ist für den Austausch und die gegenseitige Anregung unabdingbar. Unabdingbar für eine optisch und inhaltlich wirksame und auch einträgliche Präsentation ist die Wiederherstellung des Museums. Wissenschaftsgeschichtlich, kriminalwissenschaftlich und in der Binnen- wie internationalen Außenwirkung ist diese von Hans Gross begründete Institution von größter Bedeutung. Für die Zukunft stellt der Verfasser mehrere Optionen vor. Die beste ist freilich die baldige Wiedereröffnung nach Renovierung und neuer erweiterter Unterbringung, ein Desiderat, das seit einigen Jahren diskutiert wird.
Es steht zu hoffen, dass diese Einrichtung bald wieder zur Verfügung steht. Die Öffentlichkeit und die Forschung können damit nur gewinnen.
Düsseldorf/Freiburg im Breisgau Albrecht Götz von Olenhusen