Longerich, Peter: Hitler. Biographie. Siedler, München 2015. 1296 S., Abb. Besprochen von Karsten Ruppert.
Nach Biografien über Bormann, Himmler und Goebbels legt der Nationalsozialismus-Forscher Peter Longerich nun eine Studie über Adolf Hitler vor. Sie erzählt dessen Leben entlang der Chronologie. Entsprechend seiner These, dass das System Hitler eine Form extrem personalisierter Herrschaft gewesen sei, steht der Diktator auch vollständig im Mittelpunkt der Darstellung. Alle Ereignisse und Abläufe des Geschehens sind um ihn herum konzentriert. Es geht, wie der Verfasser selbst sagt, darum, die Kräfte darzustellen, die Hitler bewegten und andererseits die Kräfte, die Hitler in Bewegung setzte. Mit Nachdruck beharrt der Verfasser darauf, dass Hitler in weit größerem Umfang, als dies die Forschung in den letzten Jahrzehnten herausgearbeitet habe in den verschiedensten Politikfeldern aktiv gewesen sei. Er habe in den zentralen Bereichen der Politik die Zügel in der Hand gehabt und sich selbst um Detailfragen gekümmert. Die Voraussetzung dafür sei gewesen, dass er die traditionellen staatlichen Strukturen zerschlagen habe oder aber habe verrotten lassen. Dann habe er dafür gesorgt, dass keine neuen, ihn einengende Schranken errichtet worden seien. Eine weitere Voraussetzung dieser Herrschaft, seien Elemente der politischen Kultur in Deutschland gewesen wie Nationalismus, Rassismus, Militarismus und außenpolitischer Revisionismus. Unter Ignorierung der bisherigen Forschung macht Longerich Hitler von Anfang an zu einem entschiedenen, ja exterminatorischen Antisemiten. Das Ziel seines Lebens sei es gewesen, ein nach rassistischen Gesichtspunkten geordnetes Imperium zu errichten.
Er besteht darüber hinaus darauf, dass Hitlers Persönlichkeit ernst genommen werden müsse und viele Entwicklungen und besonders seine Entscheidungen aus ihr erklärt werden müssen. Zu diesen Persönlichkeitsmerkmalen zählt er „seine emotionale Unterentwicklung und seine Unfähigkeit, sich an andere Menschen zu binden“ wie seine „übersteigerte Angst vor Kontrollverlust“, eine „übergroße Furcht vor Beschämung, die die Niederlagen für ihn unerträglich machten, weshalb er auf tatsächliche oder vermeintliche Bedrohungen mit einem Übermaß an Aggression bis hin zur Vernichtung reagierte.“ Den Anspruch, Hitlers Handeln unter anderem auch aus diesen Charaktereigenschaften zu deuten, löst Longerich aber nicht ein. Für ihn ist Hitler vor allem die Politik, die er gemacht hat.
Bei der Lektüre des Buches fühlt man sich an die Hitler-Biografien der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts erinnert. Die danach von der Forschung herausgearbeiteten Ansätze eines Politikers im Ämterchaos, eines im Grunde schwachen Diktators oder aber eines Systems konkurrierender Personen und Ämter, die sich darin überboten hätten, Hitler zuzuarbeiten, all das weist Longerich zwar im Vorwort zurück, setzt sich aber mit diesen Grundthesen der Forschung nicht weiter auseinander. Da Longerich ohne über neue Quellen zu verfügen oder einen neuen methodischen Ansatz zu haben, ein gut bestelltes Feld betritt, kann das Interessante an seinem Buch nur in seinen subjektiven Wertungen und Sichtweisen, Präzisierungen, einzelnen Ergänzungen und einigen Korrekturen liegen.
Hitler sei ein „Niemand“ gewesen, ehe ihn die Reichswehr und völkische Kreise in München zu einem antisemitischen und antikommunistischen Agitator gemacht hätten und ihn so erst in die politische Karriere gestoßen haben. Dass Hitler in seinen Anfängen nur eine Marionette gewesen sei, dem widerspricht allein schon die Tatsache, wie schnell er zu einer selbstbewussten, ja dominierenden Figur in diesen Kreisen geworden ist. Und hier wird zum ersten Mal eine durchgehende Schwäche des Buches offensichtlich. Immer wenn sich sein Autor von der einen oder anderen Richtung der Hitler-Forschung absetzt, bleibt dies eine Behauptung und wird nicht zum Argument, da Longerich auf diese gar nicht eingeht.
Der dilettantische Putschversuch von 1923 ist das erste Ereignis, bei dem es Hitler gelang, sein Scheitern durch nachträgliche Uminterpretation in einen halben Erfolg umzubiegen. Liest man danach, wie Hitler seine völkischen und nationalistischen Rivalen an die Wand spielte, sie beim Weg ins Kanzleramt täuschen konnte und alle ihm von Mächtigeren angelegte Fesseln sprengte, fragt man sich schon, wie das einem „Niemand“ gelingen konnte und man bleibt mit dieser Frage allein.
Immerhin versucht Longerich die anschließende Phase der Errichtung der totalitären Herrschaft und die Tyrannis mit Hitlers Durchsetzungskraft und Listenreichtum zu erklären, durch die es ihm gelungen sei, seinen Willen an die Stelle der Staatsgewalt zu setzen. Mit einem genialischen Machtinstinkt habe er konkurrierende Rivalen in Schach gehalten, ihm gefährlich werdende Machtzentren eingedämmt oder brutal zerschlagen. Longerich interpretiert das Durch-, Mit- und Gegeneinander des Regimes nicht als Ämterdarwinismus, sondern als bewusste Strategie Hitlers. Er bezweifelt, ob es die Einheit von Volk und „Führer“ gegeben habe und ist sich sicher, dass die Volksgemeinschaft mehr Produkt der nationalsozialistischen Propaganda als Realität gewesen sei. Er unterstreicht, dass die Zerklüftung der deutschen Gesellschaft weiter bestanden habe und es im „Dritten Reich“ auch immer Widerstände, Vorbehalte und Abweichungen gegeben habe. In der Einleitung wird betont, dass es aber auch Grenzen seiner Herrschaft gegeben habe. So sei die Gesellschaft nicht so geschlossen, wie gewünscht, gewesen, habe es keine umfassende Kriegsbereitschaft gegeben, ferner sei die Rassenpolitik nicht populär gewesen und die Kirchen hätten Widerstand geleistet. Auch habe Hitler wegen seiner Besatzungs- und Bündnispolitik die Ressourcen nicht vollständig für die Kriegführung mobilisieren können. In der folgenden Darstellung selbst findet man von diesen Gegenbewegungen aber kaum etwas wieder. Dort ist Hitler zwar weniger der charismatische Führer des Volkes, aber doch ein außerordentlich erfolgreicher Tyrann.
Im Krieg scheint Hitler noch mehr alle Entscheidungen an sich zu ziehen, bis hin zu Kleinigkeiten. Da dieses Bild ganz überwiegend anhand der Kriegsführung und aller damit zusammenhängenden Problemen gemalt wird, drängt sich die Frage auf: wie funktionierte dann das Regime außerhalb des Hauptquartiers, das der Führer kaum mehr verließ, weiter? Noch viel schmerzlicher empfindet man diese Blickverengung, wenn Longerich zwar an Hitlers überragender Verantwortung an der Judenvernichtung keinen Zweifel lässt, auf die Dynamik des Mordens, die wirtschaftlichen Interessen in den besetzten Gebieten, die Gewaltorgien des Krieges und den Beitrag der Exekutoren gar nicht eingeht, wo dies alles doch dafür entscheidend war, wie der Massenmord an den europäischen Juden ablief. Hier wie auch sonst wird ein Mangel im Ansatz der Studie überdeutlich: nur mit dem Blick auf Hitler ist das nationalsozialistische System nicht zu verstehen und ohne dies zu verstehen, gewinnt man auch keine tiefere Einsicht über Hitlers Rolle in ihm. Das ist die Grundvoraussetzung, von der heute auch jede Hitler-Biografie aufgrund des Forschungsstands ausgehen muss.
Longerich präsentiert einen narzisstischen und cholerischen Menschen wie skrupellosen, machtbesessenen und durchsetzungsstarken Politiker. Ihm gelang ein bespielloser Aufstieg aus der untersten Schicht der Gesellschaft an die Spitze einer effektiven Diktatur, er entfesselte einen gigantischen Krieg und setzte eine Mordmaschinerie in Gang, auch gegen das eigene Volk. Aber gerade im Hinblick auf diese Ungeheuerlichkeiten ist man nach der Lektüre des Buches in keiner Weise klüger. Vielmehr schildert Longerich Hitlers Leben Schritt für Schritt. Dabei beruhen die einzelnen Abschnitte häufig nur auf wenigen gängigen Titeln und altbekannten Quellen. Diese stammen fast nur aus dem Umfeld Hitlers, an der Spitze die Tagebücher von Goebbels, wodurch jener fast zwangsläufig zum allseitigen und allumfassenden Handelnden wird. Der Gesamtzusammenhang, in dem Hitler agierte, kommt so kaum, das System nie, in den Blick. Die Auswahl von Quellen und Literatur wird nie begründet. Das aber wäre nötig gewesen, da diese alles andere als evident ist.
Was ist das also für ein Buch? Es ist kein Meilenstein der Hitler-Forschung. Doch das will es vermutlich auch gar nicht sein. Vielmehr war das Motiv von Autor und Verlag wohl, zu dem zugkräftigsten Thema der deutschen Geschichte das mal wieder fällige Buch vorzulegen. Das soll keinesfalls als illegitim abgewertet werden und in dieser Hinsicht hat es seine Qualitäten. Unter dem Gesichtspunkt, dass es vor allem für ein Laienpublikum geschrieben wurde, wäre es aber angebracht gewesen, es von den viel zu vielen Einzelheiten zu entschlacken und seinen Umfang auf ein zumutbares Maß zu reduzieren.
Eichstätt-Ingolstadt Karsten Ruppert