Lessing, Hans-Erhard, Das Fahrrad - Eine Kulturgeschichte. Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 255 S., 24 Abb. Besprochen von Werner Schubert.

 

Vor 200 Jahren unternahm Karl von Drais die ersten Fahrten mit seiner „Laufmaschine“ (Draisine), in der das „Ur-Fahrrad“ zu sehen ist (S. 35). Der Technikhistoriker und Physiker Hans-Erhard Lessing, von dem bereits mehrere Werke und Beiträge zur Fahrradgeschichte vorliegen (u. a. Bicycle Design. An Illustrated History, zus. mit Tony Hadland, Cambridge 2014), geht in seinem neuen Werk der Technikgeschichte und Kulturgeschichte des Fahrrads in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika nach, beginnend mit den Schlittschuhen des 18. Jahrhunderts. Die Laufmaschinen, von denen weltweit mindestens 5000 Stück gebaut wurden (S. 47) – hinzu kommt noch eine abgewandelte Laufmaschine in England (S. 45) –, führten bereits zu polizeilichen Verboten, die Bürgersteige zum Fahren zu benutzen (Dez. 1817 in Mannheim, später in Mailand, London und New York; S. 51f.). In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte Pierre Michaux das Tretkurbelrad (Kurbel-Velociped), bei dem die Pedalkurbel fest mit dem Vorderrad verbunden war (S. 50ff.). Nach Deutschland kam das Pedalkurbel-Veloziped 1868 (S. 73ff.), das alsbald zu Verordnungen mit Fahrverboten auf dem Bürgersteig (in Köln sogar auf allen öffentlichen Straßen und Plätzen) führte (S. 79f.). Seit Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts wurde das Hochrad weitgehend von dem Sicherheitsniederrad, das in England (Coventry) entwickelt worden war, abgelöst. Zu dieser Zeit setzte sich auch im Rahmen der Sprachreinigung der Ausdruck „Fahrrad“ (statt: Veloziped) durch.

 

Das Fahrrad, das sich zunehmend verbilligte (1890: 320-230 RM, 1907: 53-60 RM; S. 141), setzte sich als allgemeines Individualverkehrsmittel auch in Deutschland durch. Erste Radpolizeiverordnungen ergingen ab 1884 (Berlin, Württemberg, Provinz Brandenburg, S. 147ff.). 1899 erließ Preußen eine Provinzialmusterverordnung für den Fahrradverkehr. Im März 1907 verabschiedete der Bundesrat des Deutschen Reichs „Grundzüge“ zur Regelung des Fahrradverkehrs, die von den Bundesstaaten weitgehend übernommen wurden (hierzu W. Schubert, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 122, 2005, S. 195ff., 202ff.). Die Bedeutung des frühen Fahrradrechts lässt sich für die Ausbildung des modernen Straßenverkehrsrechts kaum überschätzen (zum Einflusse des französischen Fahrradrechts von 1896 auf das deutsche Recht Schubert S. 232ff.).

 

Lessing behandelt nicht nur die technische Entwicklung des Fahrrads, sondern auch dessen wirtschaftliche Folgen insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika (u. a. „Wegfall der Pferde“ mit Entlassung des Personals), sowie den Einfluss des Fahrrads auf die Emanzipation der Frau und auf die Gesundheit (S. 157ff., 183ff.). Im Schlussabschnitt werden insbesondere die technische Weiterentwicklung des Fahrrads und das Entstehen neuer Fahrradtypen wie des Mountainbikes behandelt (S. 218ff.). Die NS-Zeit wird leider nur knapp angesprochen (S. 274f.). Das Werk wird abgeschlossen mit Hinweisen zur Verbreitung des Fahrrads insbesondere in Japan und China (S. 246-249), mit einem Verzeichnis ausgewählter Literatur zur Fahrradgeschichte (S. 251f.) und einem Verzeichnis der bekannten Prioritätsfälschungen (S. 253f.). Lessing weist S. 251 auch auf die International Cycling History Conferences mit ihren Tagungsbänden (Gesamtverzeichnis für die Bände. 1-26 [1989 ff.] von G. W. Sanderson) hin. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn Lessing noch mehr Abbildungen zur technischen Entwicklung des Fahrrads gebracht hätte.

 

Mit dem Werk von Lessings liegt eine auch für den Rechtshistoriker wichtige Technikgeschichte und Kulturgeschichte des Fahrrads vor, der diese bei einer Fahrradrechtsgeschichte nicht außer Acht lassen sollte. Es ist zu wünschen, dass alsbald eine ähnlich breite Darstellung der Technik- und Kulturgeschichte des Fahrrads für die Zeit ab 1919, die Lessing nur knapp behandelt hat, unter voller Einbeziehung auch der internationalen Entwicklung vorgelegt wird.

 

Kiel

Werner Schubert