Junge Kämpfer, alte Opportunisten. Die Mitglieder der NSDAP 1919-1945, hg. v. Falter, Jürgen W. Campus, Frankfurt am Main 2016. 499 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Wie die moderne Medizin immer wieder aufs Neue bestätigt, ist jeder Mensch grundsätzlich ein unverwechselbares Individuum. Will er als solcher in einer der stetig wachsenden Gesellschaften der Erde Erfolg haben, bedarf er möglichst umfassender vielseitiger Unterstützung durch Mitmenschen, die beispielsweise bei Wahlen ihre Stimme für ihn abgeben oder auf dem Markt seine Erzeugnisse entgeltlich erwerben. Adolf Hitler erklärte auf dem Gipfel seiner Macht 1936 auf einem Parteitag dazu, dass es ein Wunder der Zeit sei, dass ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen, und dass es Deutschlands Glück sei, dass er so viele Anhänger gefunden habe.
Da Wunder und Glück irrational sind, versuchen interessierte Autoren seit dem Tode des Diktators und dem Untergang seiner Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei an dem Ende des zweiten Weltkriegs rationale Erklärungen für die vorhergehenden Entwicklungen. Zur Beantwortung unterschiedlichster Einzelfragen ist das vorliegende Sammelwerk entstanden. Es beruht auf einer Stichprobe mit fast 50000 Menschen (von rund 12 Millionen Mitgliedern) aus dem Gebiet des gesamten Deutschen Reiches samt den angeschlossenen und annektierten Gebieten der Jahre 1925 bis 1945 sowie einer Stichprobe früher Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands zwischen 1919 und 1922.
Auf dieser Grundlage sind neben einem Vorwort des Herausgebers 19 Einzelstudien elfer Bearbeiter zu vorläufigen Ergebnissen zusammengefasst. Sie betreffen einführende theoretische Überlegungen zu der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei (z. B. wer durfte Mitglied werden und wer nicht, warum treten Menschen in Parteien ein und aus Parteien aus, spezifische Motive der NSdAP-Mitgliedschaft, was wissen wir über die NSdAP-Mitglieder), die empirische Grundlage, allgemeine Untersuchungen zur Mitgliedschaft im Kerngebiet des Deutschen Reiches (wie viele Mitglieder gab es und wie viele davon waren überzeugte Nationalsozialisten, gar nicht so wenige Frauen, politische Tradition, rund 750000 Austritte) sowie regionale und lokale Sonderaspekte (Sudentendeutschland, Österreich, Danzig-Westpreußen, Saargebiet, München, Rosenheim, Landshut, Passau, Mannheim, Oppenheim, Nierstein, Österreich). Im Ergebnis lassen sich manche alten Gewissheiten bestätigen und zugleich neue Erkenntnisse und Einsichtengewinnen, doch soll diesem Zwischenergebnis eine Gesamtdarstellung folgen, die vermutlich noch deutlicher auf das stets vorhandene Nebeneinander von Überzeugung und Opportunismus über die vorläufige Aussage, dass die Zahl der nur nominellen Mitglieder die Zahl der überzeugten Nationalsozialisten bei weitem überwogen haben dürfte, eingehen kann.
Innsbruck Gerhard Köbler