Judson, Pieter M., Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740-1918, aus dem Englischen von Müller, Michael. Beck, München 2017. 667 S., 40 Abb., 7 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.
Am Ende des Ersten Weltkriegs zerfiel das Imperium der Habsburger, das sich in Europa von Triest bis Czernowitz und von Reichenberg bis Kotor erstreckte, und wurde territorial von sieben „Nationalstaaten“ beerbt: von Österreich, Ungarn, Italien und Rumänien als bereits existierenden und der Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien als neu geschaffenen staatlichen Entitäten. Im Rückblick der nationalistischen Ideologen – und ihre Ansichten würden bis dato die allgemeine Wahrnehmung der Donaumonarchie verzerren – erschien nun dieses Reich als Anachronismus, als „Völkerkerker“, der nicht in der Lage gewesen sei, eine von der Bevölkerung getragene und akzeptierte Identität zu begründen. Richte man nun den Blick nach vorne und genauer auf die Zusammensetzung der neuen Staatengebilde, ergebe sich eine andere Perspektive: „Das Jahr 1918 markierte keineswegs das Ende der Vielvölkerreiche, im Gegenteil, sie vermehrten sich. Der Widerspruch zwischen Nation und Staat verschärfte sich in den Jahren zwischen den Kriegen auf eine Weise, wie es vor 1914 kaum vorstellbar war. So lässt sich die in der Regel entsetzliche Behandlung ethnischer Minderheiten während des Zweiten Weltkriegs und die Vertreibung ‚unerwünschter‘ Bevölkerungsgruppen nach dessen Ende erklären. Alle Staaten, die Vielvölkerstaaten waren, investierten einen erheblichen rhetorischen Aufwand und beträchtliche Ressourcen, um sich dieses viel geschmähten Status zu entledigen, während sie immer radikalere Lösungen für die Probleme ersannen, welche die Minderheiten ihnen bereiteten. Die brutale nationalistische Diktatur wurde in den meisten Fällen als einzige Möglichkeit gesehen, die Quadratur des Kreises zu schaffen, die Verbindung von ethnisch verstandener Nationalität und populistischer Demokratie“ (S. 576).
Es sei also, folgert Pieter M. Judson, der als Professor Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz lehrt und durch seine bisherigen Forschungen und Publikationen als profunder Kenner der Geschichte der Habsburgermonarchie ausgewiesen ist, nicht zutreffend, dass die unterstellte Unfähigkeit, verschiedene Bevölkerungsgruppen zu integrieren, ein Spezifikum dieses Imperiums gewesen sei. Vielmehr müsse man von „Besonderheiten nationaler Identifikation im Habsburgerreich“ ausgehen, die „von den Institutionen des Reiches und den Möglichkeiten, die sie boten, geprägt“ gewesen sei. Die Entwicklung dieser Institutionen wurzelt im 18. Jahrhundert in der Regierungszeit Maria Theresias und setzt sich im Verlauf der anschließenden mehr als eineinhalb Jahrhunderte habsburgischer Geschichte mit unterschiedlichen Akzenten fort. Chronologisch orientieren sich die insgesamt acht großen Abschnitte des Bandes an den bekannten Zäsuren: Der Regierungszeit Maria Theresias 1740 bis 1780 folgen die Jahrzehnte der Reform bis zum Wiener Kongress 1815, die Ära Metternich, die Revolutionen 1848/1849, schließlich Neoabsolutismus, Liberalismus und die sich ausbildenden Kulturkämpfe. Von 1880 bis 1914 werden die Etablierung der modernen Massengesellschaft und der Werdegang der politischen Kulturen in diesem Kontext betrachtet. Mit einer Zeitspanne von 1914 bis 1925 weicht das abschließende achte Kapitel „Krieg und radikale Staatsbildung“ bezeichnender Weise von der üblichen Periodisierung (1914 bis 1918) ab. Bei der Lektüre wird der Grund dafür deutlich, hätte doch erst das mit dem Ersten Weltkrieg verbundene Versagen des Staates den Zerfall des Reiches Realität werden lassen, der, bedingt durch eine überraschende Kontinuität der Institutionen und der gesellschaftspolitischen Herausforderungen, wiederum von einer Mehrheit der Bürger entgegen gängiger Vorstellungen nicht als scharfer Bruch erlebt worden sei.
In seiner differenzierten, vergröbernde Schlagworte wie nostalgische Reminiszenzen konsequent vermeidenden Abhandlung kann der Verfasser zeigen, wie sich über den behandelten Zeitraum aus dem Konglomerat von Herrschaftsintentionen, bürokratischen Institutionen sowie partikularen Interessen gesellschaftlicher Gruppen und Regionen jenes Bewusstsein von einem einheitlichen Reich herausbildete, das selbst in der Endphase des Imperiums noch existierte, dessen Untergang viele trotz der bedrohlichen Vorzeichen daher gedanklich kaum zu realisieren vermochten. Noch im Spätsommer 1918 erkundete etwa ein beauftragter Beobachter Böhmen, um sich ein Bild von den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen zu machen. Sein Bericht zeige, „dass die Menschen sich eine Zukunft innerhalb des staatlichen Rahmenwerks vorstellen konnten, wie es in jüngster Vergangenheit bestanden hatte, das aber in vieler Hinsicht ‚reformiert‘ sein würde. Mit dem Ende des Krieges würde ein tschechischer Nationalstaat entstehen, der aber immer noch in Beziehung zu einem Reichsganzen definiert sein würde.“ Im Gegensatz zu dieser im Volk gängigen Interpretation sahen aber „die Politiker das Ende des Reiches voraus“ (S. 548).
Die Entwicklung eines Reichsbewusstseins war selbstverständlich kein linearer Prozess, sondern gekennzeichnet von regionalen Experimenten (wie in Galizien oder Bosnien) und Ungleichzeitigkeiten. Eine entscheidende Grundlage stellen die mit der Herrschaft Maria Theresias einsetzenden und von Joseph II. maßgeblich vorangetriebenen Bestrebungen zur Zentralisierung des Habsburgerstaates durch Etablierung einer funktionstüchtigen Bürokratie dar. Diese langfristig auf die staatsbürgerliche Gleichberechtigung abzielende Entwicklung sollte den Adel der Steuerpflicht unterwerfen, indem sie ihn Schritt für Schritt seiner quasistaatlichen Funktionen entband und damit zugleich die Beschneidung seiner Rechte gegenüber dem Bauernstand rechtfertigte. Es nehme also nicht wunder, dass sich gerade unter den an der Abschaffung der verhassten Robot interessierten Bauern früh Sympathien für die Dynastie nachweisen lassen. 1788/1789 habe Gottfried van Swieten Vorlesungen über „Österreich“ gehalten, ein Begriff, der bei ihm „an die Stelle des Heiligen Römischen Reiches beziehungsweise einer Liste der einzelnen Kronländer, aus denen sich die Monarchie zusammensetzte(, trat)“ (S. 91), 1804 wurde mit der Ausrufung des „Kaisertums Österreich“ tatsächlich ein einheitliches Staatswesen verwirklicht. Einen „rechtlich fundamental(en)“ Wandel der habsburgischen Gesellschaft (S. 77) markiere das unter dem Druck der Napoleonischen Kriege unter Franz II./I. 1811/1812 promulgierte Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB; im vorliegenden Band sonderbarer Weise durchgehend falsch als „AGBG“ abgekürzt), das nur mehr Staatsbürger und keine Untertanen kennt. Obwohl Kaiser Franz ein konservatives, anders geartetes Beamtenideal als seine Vorgänger Joseph und Leopold vertrat – er habe überdies die Interessen der Krone wieder mit den Interessen des Adels identifiziert –, würden Phänomene wie die 1809 geschaffene, bald zum Symbol des Patriotismus gewordene Landwehr, der Kampf der Tiroler oder die reichsweit spontan abgehaltenen Jubelfeiern zum Abschluss des Pariser Friedens 1814 von einer weiter wachsenden Identifizierung der Bevölkerung mit dem Habsburgerstaat künden.
Die Herrschaft Metternichs, häufig als Diktatur charakterisiert, sei bei genauerem Hinsehen keine schrankenlose Willkürherrschaft gewesen: „Die Tatsache, dass die Regierung sowohl dem ererbten josephinischen Zentralismus als auch dessen Legalismus treu blieb, zwang sie dazu, Konsistenz, Systematisierung und die Verwendung einheitlicher Verwaltungssysteme in jeder Region, über die sie gebot, einschließlich Ungarns, zu fördern. Diese Betonung einheitlicher Institutionen und Prozeduren wiederum ließ Beamte im ganzen Reich äußerst penibel auf die Einhaltung der Gesetze achten. Österreich brachte [...] ‚ein Rechtssystem hervor, das peinlichst genau darauf achtete, dass die Rechtsstaatlichkeit bestehen blieb‘. […] Die Regierung mochte geheime Überwachungsmethoden einführen, sie mochte Zeitungen und Zeitschriften zensieren, sie mochte Personen wegen politischer Vergehen verfolgen, aber sie musste sich dabei an die Gesetze halten und einem anerkannten Prozedere folgen“ (S. 144). Auch das Bild der „unpolitischen“ Biedermeiergesellschaft sei ein schiefes, denn „aufgrund der leeren Staatskassen (sah sich die Regierung) gezwungen, die Gründung einer Reihe unabhängiger bürgerlicher Vereinigungen zu dulden, die einige der ökonomischen, karitativen oder erzieherischen Aufgaben übernahmen, die zu erfüllen die Regierung sich nicht leisten konnte“ (S. 184); 1841 wurde so der elitäre Juridisch-Politische Leseverein aus der Taufe gehoben, der im März 1848 „eine Neugestaltung des gesamten Regierungs- und Verwaltungsapparats“ und „in Wien ein zentrales Parlament […] für die Gesetzgebung des gesamten Reiches“ einforderte (S. 215). In der revolutionären Situation von 1848 „(lehnten) die meisten Revolutionäre weder den österreichischen Kaiserstaat an sich noch die Herrschaft der Habsburger ab (außer in Teilen der italienischen Halbinsel und in Ungarn). Im Gegenteil, sie kämpften um das Recht, Rahmenbedingungen und Ziele des existierenden Reiches neu zu bestimmen“ (S. 204). Während der neoabsolutistischen Phase wurden Bezirksgerichte eingerichtet, „womit die Judikative für alle deutlich sichtbar unabhängiger von örtlichen ‚starken Männern‘ wurde. Die Gerichte sollten nicht mehr den Eindruck erwecken, dem lokalen Adel dienlich zu sein, sondern die Öffentlichkeit sollte darauf vertrauen können, vor ihnen Gerechtigkeit zu finden. Die Regierung war nicht taub oder blind gegenüber den Realitäten der kulturellen und sozialen Diversität, jedenfalls was alle Territorien außer Ungarn betraf“ (S. 291).
Die Sonderstellung, die Ungarn 1867 unter Ausnützung der außenpolitischen Probleme des Reiches im Zuge des Ausgleichs gegenüber den anderen Nationen der nunmehrigen Doppelmonarchie errang und in der Folge – etwa gegen trialistische Tendenzen – vehement verteidigte; die dortige Fernhaltung der Masse der Bevölkerung von der politischen Partizipation, wo, anders als 1907 in Cisleithanien, ein allgemeines Männerwahlrecht nie realisiert werden sollte; die schillernde Entwicklung des Nationsbegriffs von der Adelsnation über das Verständnis der Nation als einer von gemeinsamen Grenzen und Institutionen geeinten Gemeinschaft bis hin zur sprachlichen und ethnischen Definition mit all ihren Inkonsistenzen; die Sprachenfrage insgesamt und vor allem immer wieder die Interpretation der Zustände im Habsburgerstaat im größeren Kontext der europäischen Verhältnisse bilden neben anderen – wie der Emanzipation der jüdischen Bevölkerungsgruppe und der Frauen – wichtige thematische Schwerpunkte der Studie und sorgen im Verein mit der stets präsenten Differenzierung der Untersuchungsgegenstände immer wieder für überraschende Einsichten und die Relativierung scheinbarer Gewissheiten. Schon während der 1770er-Jahre, so Pieter M. Judson, „ähnelte der Habsburgerstaat anderen europäischen Staaten der Zeit mehr, als er sich von ihnen unterschied“, denn damals konnte „(k)ein europäischer Staat […] als zentralisiert, vereinigt und innerlich kohärent gelten“ (S. 75). Später, in der viel gescholtenen Ära Metternich, nahm Österreich „keine solche Laissez-faire-Haltung ein wie der britische Staat jener Zeit[,] intervenierte […] in ausreichendem Maße, um seine Existenz spürbar zu machen und immer wieder Hoffnungen zu wecken, er könne mehr bewerkstelligen. Staatliche Maßnahmen stellten […] sicher, dass die Dalmatiner, anders als etwa die Iren, in Zeiten von Lebensmittelknappheit nicht verhungerten“ (S. 173). 1911 analysierte Karl Lamp, Professor der Rechtswissenschaft an der Universität Czernowitz, das bosnische Landesstatut und hielt dieses für den Ausgangspunkt „des von der Monarchie im Neuland geleisteten Kulturwerkes“. Dabei behandelte er „Österreich-Ungarn weder als einen nach europäischen Maßstäben Ausnahmefall noch als eine Art Anachronismus, was seine Staatsstruktur betraf. Er untersuchte das Reich im Rahmen von konstitutionellen Anomalien, wie sie im Fall von Elsass-Lothringen und Deutschland bestanden, oder von Herausforderungen, mit denen europäische Staaten mit Kolonialbesitzungen in Übersee langfristig konfrontiert waren“ (S. 486). Diese komparativ angelegten Ausführungen implizieren, dass die Habsburgermonarchie im Kern als ein Player wie andere auch wahrgenommen worden ist. Die von bestimmten Zeitgenossen kultivierte Untergangsrhetorik sei im Wesentlichen Ausdruck des „existenziellen Pessimismus“ der ihres Einflusses und ihrer Macht verlustig gehenden „alten Eliten“ gewesen, also eine „wenig objektive Sichtweise“, die sich der Historiker, der über „andere und bessere Methoden, diese Periode zu verstehen“ (S. 489f.), verfüge, nicht zu eigen machen solle.
Auf insgesamt fünf Seiten dankt der Verfasser den zahlreichen Forschern, auf deren Vorleistungen viele seiner Befunde fußen. Daraus eine Einheit geformt zu haben, die ein faktenzentriertes und doch durchgehend lebendiges, glaubwürdiges Bild des Habsburgerimperiums von 1740 bis zu seinem Ende zeichnet, ist sein besonderes Verdienst. Dabei wendet er sich klar von teleologischen, auf den zwangsläufigen Untergang des Reiches zugeschnittenen Interpretationen ab und stellt implizit die Neubewertung der Qualität dieses Staatswesens grundsätzlich zur Diskussion. Der wünschenswerte Aufstieg von Pieter M. Judsons Studie in den Rang eines Standardwerks der Forschung zur Donaumonarchie scheint damit vorprogrammiert.
Kapfenberg Werner Augustinovic