Hett, Benjamin Carter, Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens, aus dem Englischen von Hielscher, Karin. Rowohlt, Reinbek 2016. 633 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

In der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 stand das Reichstagsgebäude in Berlin in Flammen. Der Niederländer Marinus van der Lubbe wurde als Brandstifter festgenommen und nach einem Prozess vor dem Leipziger Reichsgericht unter nachträglicher Verschärfung der Gesetzeslage („Lex van der Lubbe“) zum Tode verurteilt und hingerichtet, das Urteil erst 2008 aufgehoben. Das Ereignis lieferte den nationalsozialistischen Machthabern den idealen Anlass für die Aushebelung rechtsstaatlicher Garantien über die sogenannte „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933. Aufgrund dieser Fakten sowie von Ungereimtheiten in Bezug auf das Brandgeschehen wurden bereits bei den Zeitgenossen Zweifel am Tathergang und in der Frage der Täterschaft laut, die in eine bis zur Gegenwart andauernde breite, juristisch und historisch ausgetragene Kontroverse mündeten. Der mit der größten Wahrscheinlichkeit versehenen, heute zumeist präferierten Einzeltäterhypothese stehen Auffassungen gegenüber, wonach die Tat entweder von Nationalsozialisten vorsätzlich ins Werk gesetzt worden sei, um einen Anlass zum scharfen Vorgehen gegen die Linke zu provozieren, oder aber dass man tatsächlich geglaubt habe, es handle sich bei der Brandstiftung um den Startschuss für einen allgemeinen kommunistischen Aufstand. Für alle diese Annahmen gibt es Anhaltspunkte, aber keine endgültigen Beweise.

 

Daran ändert auch das jüngste Werk des amerikanischen Juristen und promovierten Historikers Benjamin Carter Hett nichts, das 2014 unter dem Originaltitel „Burning the Reichstag. An Investigation into the Third Reich’s Enduring Mystery“ veröffentlicht und nun von Karin Hielscher ins Deutsche übertragen wurde. Zeichnerische Darstellungen des Reichstagsgebäudes mit Reichspräsidentenpalais und Kesselhaus sowie Grundrisse des Erdgeschosses und des Hauptgeschosses auf den Innenseiten der Buchdeckel veranschaulichen den rekonstruierten Weg, den der Brandstifter vom Einstieg bis zu seiner Verhaftung voraussichtlich genommen hat. Ein zentraler Tafelteil mit Schwarzweißbildern zeigt den (intakten und zerstörten) Plenarsaal des Reichstags, Impressionen aus dem Prozess und die nachfolgend erwähnten, maßgeblichen Akteure. Der Umstand, dass sich die Nationalsozialisten nach dem Abschluss des Prozesses, in dem van der Lubbe verurteilt, seine vier kommunistischen Mitangeklagten jedoch freigesprochen worden waren, nicht mehr um die Ausforschung möglicher weiterer Mittäter bemühten, ist für den Verfasser ein Indiz, dass ihnen die Alleintätertheorie gelegen kam, weil sie – überzeugend vorgetragen – dem von linker Seite ventilierten Verdacht einer nationalsozialistischen Urheberschaft die Grundlagen entzog. Diese Überlegung sollte nach dem Krieg wieder aufgegriffen werden und bedeutende Wirkmacht entfalten. Hetts Arbeit umfasst insgesamt elf Kapitel und einen Epilog. Die ersten sechs Kapitel befassen sich mit dem Reichstagsbrand, den folgenden Ermittlungen und dem Prozess. Letzterer wird ausführlich in seinem Ablauf dargestellt und auf Hinweise überprüft, die eine Einzeltäterschaft in Frage stellen. So habe „(d)er IV. Strafsenat van der Lubbe verurteilt, die übrigen Angeklagten freigesprochen und festgestellt, dass es weitere Schuldige gab, die bis dato aber noch nicht hatten identifiziert werden können, sicherlich aber Kommunisten seien“. Wenn also dann der Beisitzende Hermann Coenders, ein „stramm rechts stehende(r) Richter“, in seinem Gesuch um Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand explizit das Urteil als „Fehlurteil“ eingeschätzt habe, bliebe als „einzige logische Schlussfolgerung: Coenders war der Ansicht, dass nicht identifizierte Personen, die keine Kommunisten waren, den Reichstag in Brand gesetzt hatten. Es verwundert nicht, dass Coenders den Wunsch hatte, im Einklang ‚mit den staatlichen Interessen‘ über seine Anschauung ‚zu schweigen‘“ (S. 269).

 

Die zweite, im Hinblick auf ihre Ergebnisse interessantere und daher hier näher in Augenschein genommene Hälfte des Bandes betrachtet die Entwicklungen nach 1945 und die Interessen, die sie leiteten. Eine Persönlichkeit spielt dabei für den Verfasser die entscheidende Rolle: Fritz Tobias sei der Mann gewesen, der im Zentrum an einer Legende gestrickt habe, die bis heute die Diskussion um den Reichstagsbrand dominiere. Selbst während des Zweiten Weltkrieges mit heute wohl nicht mehr genau zu klärenden militärpolizeilichen Aufgaben (Geheime Feldpolizei?) in den besetzten Niederlanden tätig, gelang Tobias im Nachkriegsdeutschland der Sprung in die Entnazifizierungsbehörde in Niedersachsen, in die Nachrichtenpolizei des niedersächsischen Innenministeriums und ins Landesamt für Verfassungsschutz (LfV). Dort sei er im Einvernehmen mit seinen Vorgesetzten mit Personalvorgängen um die maßgeblichen, teils in anderen Zusammenhängen belasteten nationalsozialistischen Akteure in den Reichstagsbrand-Ermittlungen betraut gewesen; sie betrafen den Chef der Geheimen Staatspolizei Rudolf Diels, seinen Untergebenen Heinrich Schnitzler und die Kommissare Walter Zirpins, Helmut Heisig und Rudolf Braschwitz. Indem sich diese untereinander abstimmten, um ältere, widersprüchliche oder abweichende Aussagen zugunsten einer einheitlichen Sprachregelung zu korrigieren, hätten sie zum einen ihre Rechtsverteidigung betrieben und zugleich den Intentionen der niedersächsischen und bundesdeutschen Behörden in die Hand gespielt, ihre wieder eingestellten, nationalsozialistisch belasteten Polizeibeamten aus der Schusslinie linker Angriffe zu nehmen.

 

Als Fritz Tobias zunächst 1959/1960 eine elfteilige Artikelserie im „Spiegel“ und anschließend 1962 sein einflussreiches Buch „Der Reichstagsbrand: Legende und Wirklichkeit“ veröffentlichte, in welchem er die Einzeltäterthese forcierte und die ermittelnden nationalsozialistischen Polizeibeamten in das beste Licht rückte, habe er damit auch öffentlichkeitswirksam in die Systemkonkurrenz zwischen West und Ost eingreifen wollen. Unter Ausnützung der Möglichkeiten seiner dienstlichen Stellung sei sodann von ihm die weitere Verbreitung seiner Version des Reichstagsbrands betrieben und Kritik daran systematisch unterdrückt worden, wie die Auseinandersetzungen mit Hans Bernd Gisevius, der einst, wie sein Erzfeind Rudolf Diels schon 1946, den SA-Mann Hans-Georg „Pistolen-Heini“ Gewehr (vgl. S. 314ff.) als Brandstifter genannt und daraufhin einen Prozess auf Unterlassung verloren hatte, sowie dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München belegen würden. IfZ-Direktor Helmut Krausnick sei mit der Drohung, dass man seine eigene NS-Vergangenheit öffentlich thematisieren würde, auf Kurs gebracht worden, Gisevius nicht mehr zu unterstützen, ein Auftrag des Instituts an den unabhängigen externen Forscher Hans Schneider wurde storniert und stattdessen 1964 ein gewichtiger Aufsatz von Hans Mommsen veröffentlicht, der im Wesentlichen Tobias‘ Position zementierte. Hier zeigt sich, dass die Unabhängigkeit und die Wahrhaftigkeit historischer Forschung zumindest in jenen Jahren offenkundig hinter gesamtpolitische Erwägungen zurückzutreten hatten, ein zweifellos realistischer und dennoch desillusionierender Befund.

 

Im Epilog schildert der Verfasser seinen Besuch 2008 beim damals 95jährigen Fritz Tobias in Hannover. Nach Einblicknahme in ein von Tobias nie erwähntes Schlüsseldokument aus dessen umfangreichem Privatarchiv „hatte sich meine Sicht auf den Reichstagsbrand grundlegend gewandelt“, so der Schlusssatz (S. 539). Gemeint ist wohl, dass für Benjamin Carter Hett die These einer nationalsozialistischen Urheberschaft am Reichstagsbrand gegenüber der einst funktional nützlichen Einzeltätertheorie wieder stark an Wahrscheinlichkeit gewonnen hat. Dabei sollten allerdings zwei Tatsachen nicht außer Betracht bleiben: In Ermangelung eindeutiger Beweise konnte bislang kein Erklärungsmodell den Status absoluter Gewissheit erlangen. Und dass die Einzeltätertheorie instrumentalisiert worden ist, besagt nicht, dass sie falsch sein muss. Auch dieses faktenreiche, gut lesbare und sicher verdienstvolle Werk führt letzten Endes trotz der vollmundig angekündigten „Wiederaufnahme eines Verfahrens“ (Titel) nicht über diese Erkenntnisse hinaus.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic