Hähnel, Paul Lukas, Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive Band 3. Föderale Interessenvermittlung im Deutschen Kaiserreich (= Schriftenreihe des Instituts für europäische Regionalforschungen 26). Nomos, Baden-Baden 2017. 505 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Jeder, der sich mit der Gesetzgebungsgeschichte des Kaiserreichs befasst, wird bald feststellen, dass die veröffentlichten Quellen (u. a. Reichstagsverhandlungen, Bundesrats-Drucksachen und Bundesrats-Protokolle) nur ein unvollkommenes Bild einer Gesetzesgenese vermitteln. Diese kann man nur voll in den Blick bekommen, wenn man berücksichtigt, dass das Kaiserreich ein Bundesstaat war, und die einzelnen Staaten und zunehmend auch die Interessenverbände an der Vorbereitung und Verabschiedung der meisten Gesetze des Kaiserreichs beteiligt waren. Ziel der politikwissenschaftlich orientierten Untersuchungen von Hähnels ist es, „neue Informationen über föderales Regieren im Kaiserreich zu liefern und die Genese des Föderalismus differenziert zu interpretieren“ (S. 21), und zwar am Beispiel des „neuen Politikfeldes der Nahrungsmittelregulierung“, die als ein Teil der Medizinalpolizei und Veterinärpolizei zum Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung gehörte (S. 85). Als Quellen für seine Untersuchungen zieht Hähnel außer den Beständen des Bundesarchivs und den insoweit nicht sehr ergiebigen Beständen Preußens im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz vor allem die Materialien in den (Haupt-)Staatsarchiven München, Stuttgart, Dresden und Hamburg sowie in den Archiven der Thüringischen Staaten heran (S. 48ff.). Wichtig sind insoweit die Bestände der Innenministerien und Außenministerien sowie die Gesandtschaftsberichte und die Berichte der Bundesratsbevollmächtigten. Auf dieser Basis werden untersucht die Genese des Nahrungsmittelgesetzes von 1879 und anschließend jeweils für die Zeit von 1879 bis 1890, von 1890-1900 und von 1900 bis 1914 sieben weitere Rechtssetzungsakte, und zwar das Margarinegesetz von 1887, die gescheiterte Weingesetzgebung in den 1880er Jahren, das Margarinegesetz von 1897, das Weingesetz von 1892, das Fleischbeschaugesetz von 1900 und die Weingesetze von 1901 und 1909.

 

Nach der Einleitung (S. 21-59) folgt zunächst in der „Vorbetrachtung“ (S. 61-102) ein Überblick über das politische System (besonders informativ S. 73ff. über den Bundesrat), das „Politikfeld“ der Nahrungsmittelgesetzgebung und die „Konflikte der Fallbeispielsgruppen“. Im umfangreichsten Kapitel seines Werks geht Hähnel unter der Überschrift „Empirie“ (S. 103-398) detailliert auf die Genese der genannten Gesetze und Entwürfe ein. Jeweils unterteilt in Abschnitte über die ein oder zwei Gesetzgebungsakte werden separat behandelt, die prälegislative Phase (Sachverständigenkonferenzen, Weinparlamente, Informationsbeschaffung in Preußen und in den anderen Gliedstaaten, Ausarbeitung von Entwürfen, Verbände, Agitationen, Reaktionen und Stellungnahmen insbesondere der süddeutschen Staaten und Preußens), die Bundesratsphase (insbesondere die wichtigen Beratungen in den Vereinigten Ausschüssen für Handel und Verkehr sowie für Justiz), die Reichstagsphase (evtl. Konsensfindung zwischen Bundesrat und Reichstag), die zweite Bundesratsphase (Zustimmung oder Ablehnung der vom Reichstag beschlossenen Gesetzesfassung) sowie die Ausführungsbestimmungen, denen in der Regel der Bundesrat zustimmen musste. Die Abschnitte zu den Gesetzesvorhaben in den drei Zeitabschnitten werden eingeleitet mit Ausführungen zu den „politisch-administrativen Rahmenbedingungen“ sowie zur Entwicklung des Politikfeldes (Verbandswesen, Legislative, Judikative, Exekutive). Insgesamt gibt das Kapitel 3 nicht nur einen guten Einblick in die Gesetzgebungsprozesse in den einzelnen Zeitabschnitten des Kaiserreichs, sondern auch in die zunehmende Bedeutung der immer detaillierteren Nahrungsmittelregulierung der Kaiserzeit.

 

In Kapitel 4 „Analyse“ (S. 399-477) geht Hähnel zunächst ein auf die Entwicklungslinien und die „Facetten der Nahrungsmittelregulierung“ (Gesundheitsschutz, Schutz vor Betrug und Übervorteilung, Standards zur Qualitätskontrolle, Protektionismus, Vereinheitlichung landesrechtlicher Lebensmittelstandards, Festsetzung von Regulierungskompetenzen). Im Abschnitt „Prozess“ werden die einzelnen Gesetzgebungsphasen beschrieben (prälegislative Phase, Bundesratsphase, Reichstagsphase). Hähnel arbeitet insbesondere heraus, dass ab 1890 die Reichsämter zunehmend an Bedeutung gewannen. Zu beobachten ist auch, dass sich die „inhaltliche Entscheidungsfindung zwischen den Landesregierungen“ in die prälegislative Phase verlagerte, die „in der Folge immer wichtiger wurde, um Kompromisse zu erzielen“ (S. 429). Der Abschnitt „Struktur“ handelt von den Strukturen und Kanälen föderalen Regierens (konstitutionelle Strukturen: Bundesrat, Reichstag; nicht-konstitutionelle Strukturen: Schriftliche Stellungnahmen, Sachverständigenkonferenzen, kommissarische Beratungen und der in seiner Bedeutung kaum zu überschätzende Reichsgesundheitsrat für die Zeit ab 1900) und zentripetal-integrierende Strukturen (Landtag, Verbundsföderalismus sowie Ausführungsverordnungen und Durchführungsverordnungen der Bundesstaaten). Die „eigentliche Gesetzgebung“ verlagerte sich nach Hähnel zunehmend „in den Bundesrat und von dort ‚de facto‘ in die Unterabteilungen von Ministerien und Fachgremien, in denen die Medizinalverwaltungen der Regierungsebenen zusammenarbeiteten“ (S. 473). Die Ausbildung des föderalen Systems führte bis zum Ende der Vorkriegszeit des Kaiserreichs zu einer Bürokratisierung föderaler Konsensfindungen (Verbeamtung des Bundesrats), zur Professionalisierung und Verwissenschaftlichung von Politik sowie zu einer Verschränkung von Reichspolitik und Landespolitik zumindest in wichtigen Politikbereichen wie der Nahrungsmittelregulierung. Schließlich werden die Ergebnisse der Untersuchung in einer präzisen „Schlussbetrachtung“ (S. 479-482) zusammengefasst.

 

Das Werk Hähnels lässt im Rahmen der gesetzten Ziele kaum Wünsche offen. Auch in die Inhalte der Lebensmittelregulierung, deren Darstellung nicht das primäre Ziel der Untersuchungen war, gibt das Werk einen hinreichenden Einblick (insbesondere für die Weingesetzgebung). Insgesamt bringt das Werk eine umfassende Analyse der Strukturierung des Gesetzgebungsprozesses und deren Wandel in der Kaiserzeit. Die Untersuchungen Hähnels sind auch für den Rechtshistoriker, soweit er sich mit den Gesetzen der Kaiserzeit befasst, von großer Wichtigkeit. Dem Rezensenten ist keine Untersuchung bekannt, in der in so großem Umfang wie im vorliegenden Werk die archivalischen Quellen der wichtigsten Bundesstaaten für die Prälegislative und vor allem die Bundesratsphase herangezogen worden sind. Hingewiesen sei vielleicht noch darauf, dass die größeren Bundesstaaten bereits seit Beginn der 1870er Jahre in der prälegislativen Phase von Gesetzgebungsakten beteiligt waren wie z. B. bei den Reichsjustizgesetzen. Dies gilt nicht zuletzt auch für das Bürgerliche Gesetzbuch, für das der Bundesrat 1874 wichtige Weichenstellungen für die Zusammensetzung der 1. BGB-Kommission vornahm. Auch spielte es von Anfang an eine wichtige Rolle, dass bayerischen Sonderwünschen Rechnung getragen wurde (u. a. in der Möglichkeit der Einrichtung eines Obersten Landesgerichts und hinsichtlich der Beurkundung der Grundstücksverträge sowie der Form der Auflassung). Alles in allem sei das methodensichere, konzentriert geschriebene Werk Hähnels, bei dessen Lektüre der Rezensent viel gelernt hat, der Beachtung durch die Rechtshistoriker empfohlen.

 

Kiel

Werner Schubert